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Britischer Flüchtlingsstreit mit der EU: "Eine Lösung wäre so einfach"


"Eine Lösung wäre so einfach"
Warum Großbritannien und die EU über Flüchtlinge streiten


13.06.2021Lesedauer: 5 Min.
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Migranten und Geflüchtete fahren mit einem Schlauchboot nach Großbritannien (September 2020): Seit Beginn der Corona-Pandemie ist die Zahl der Überfahrten extrem gestiegen.Vergrößern des Bildes
Migranten und Geflüchtete fahren mit einem Schlauchboot nach Großbritannien (September 2020): Seit Beginn der Corona-Pandemie ist die Zahl der Überfahrten extrem gestiegen. (Quelle: Luke Dray/getty-images-bilder)

Tausende Geflüchtete und Migranten sind während der Corona-Pandemie auf Schlauchbooten über den Ärmelkanal nach Großbritannien gelangt. Das stellt die Briten vor innenpolitische Probleme – und auch mit der EU droht Streit.

Die Geschichte von Artin Nezhad endete an einem Strand. Das Meer spülte die Leiche des Einjährigen an Land, Polizisten fanden sie in der vergangenen Woche. Seine iranisch-kurdischen Eltern waren mit ihm und seinen zwei Geschwistern Monate zuvor auf ein überfülltes Boot gestiegen. Das Boot sank, keiner von ihnen überlebte die Fahrt.

Wer diese Nachricht liest, denkt wahrscheinlich an das Mittelmeer, an eines der vielen Bootsunglücke auf dem Weg von Libyen oder der Türkei in die Länder Südeuropas. Doch dieses Unglück ereignete sich weit entfernt vom Mittelmeer, im nördlichen Teil Europas. Genauer: im Ärmelkanal auf dem Weg von Frankreich nach England. Die Leiche des Jungen wurde bis nach Norwegen gespült.

Gefährliche Route über den Ärmelkanal

Mit einem Schlauchboot über den Ärmelkanal – es ist die Flüchtlingsroute in der Corona-Krise und Post-Brexit-Zeit. Immer mehr Menschen machen sich auf den Weg aus dem Flüchtlingshotspot Calais im Norden Frankreichs an die Südküste Englands. Im vergangenen Jahr kamen rund 8.400 Menschen über den Ärmelkanal nach England, zehnmal so viele wie noch 2018. In diesem Jahr waren es bis Ende Mai bereits mehr als 3.000. Viele von ihnen kommen aus dem Iran, dem Irak, aus Albanien, Eritrea oder Vietnam.

In der Hafenstadt Calais entstehen immer wieder irreguläre Camps. Erst in der vergangenen Woche wurde eines mit mehreren Hundert Migranten geräumt. Die Gründe, warum sie nach Großbritannien wollen sind unterschiedlich: Viele haben dort schon Familie oder ein Netzwerk, einige sind vom Leben in Frankreich und anderen EU-Staaten enttäuscht und erhoffen sich auf der anderen Seite des Ärmelkanals einen neuen Start.

Dabei ist die Route gefährlich. Der Ärmelkanal gehört zu den am meisten befahrenen der Welt, die Strömungen sind stark, die Wassertemperaturen niedrig. Immer wieder geraten Menschen in Seenot. Nicht für alle kommt die Hilfe rechtzeitig: Im vergangenen Jahr starben mindestens sechs Menschen, darunter die Familie Nezhad. Für die britische Regierung sind die steigenden Zahlen der Ankünfte vor allem innenpolitisch ein Problem. Sie geht auch auf Konfrontationskurs mit der EU. "Dabei wäre eine Lösung, bei der alle gewinnen, einfach zu erreichen", sagt der Migrationsexperte Gerald Knaus.

Bilder der ankommenden Boote setzt Regierung unter Druck

Doch zunächst zur innenpolitischen Situation in Großbritannien: Mit dem Brexit ging das Versprechen an die Bevölkerung einher, dass das Land ohne die EU endlich selbst wieder die Kontrolle über seine Grenzen bekäme. "Wir werden zum ersten Mal selbst darüber bestimmen, wer in unser Land kommt und wer nicht", versprach Innenministerin Priti Patel ihren Anhängern noch auf dem Parteitag der regierenden Tories im Oktober. Die Bilder der ankommenden Boote an der Südküste – teils waren es 400 Menschen am Tag – setzten die Regierung schon damals unter massiven Druck. Patel, die zum rechten Flügel der Tories zählt, hat wiederholt massive Verschärfungen des Asylrechts angekündigt.

Ganz so extrem fällt der "New Plan for Immigration", den Patel im März vorstellte und der in diesem Monat im Parlament diskutiert werden soll, zwar nicht aus. Dennoch will Patel das Asylsystem komplett umkrempeln – in eines, das Menschenrechtsgruppen und auch die Vereinten Nationen als Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention werten.

Asylsuchende, die auf illegalem Weg einreisen, sollen künftig weniger Rechte haben. Selbst wenn sie als Flüchtlinge anerkannt werden, sollen sie nur einen temporären Aufenthaltstitel erhalten, was die Suche nach Arbeit und Wohnungen deutlich erschweren würde. Auch der Zugang zu Sozialleistungen und das Recht auf Familienzusammenführung soll eingeschränkt werden.

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"Es scheitert hier an dem diplomatischen und politischen Handwerk"

Patel richtet zudem eine Nachricht an die EU: Frankreich und andere Mitgliedstaaten sollen doch bitte die Menschen zurücknehmen, die sich von ihnen aus auf dem Weg nach Großbritannien gemacht haben. Wie der britische "Guardian" kürzlich berichtete, zeigten sich die EU-Staaten brüskiert über diese Forderung. Patel sei es demnach nicht einmal gelungen, nur ein einziges Mitgliedsland zu überzeugen. "Es scheitert hier an dem diplomatischen und politischen Handwerk – nicht nur auf britischer, sondern auch auf europäischer Seite", sagt Gerald Knaus, der die Bundesregierung in Fragen der Migrationspolitik berät.

Gerald Knaus ist Migrationsforscher und leitet den Think-Tank "European Stability Initiative" und hat unter anderem das Abkommen zwischen der EU und der Türkei konzipiert. Im vergangenen Jahr erschien sein Buch "Welche Grenzen brauchen wir? Zwischen Empathie und Angst – Flucht, Migration und die Zukunft von Asyl".

Die Position von Großbritannien kann er zwar nachvollziehen: "Jeder Asylsuchende ist in Frankreich sicher, es gibt keinen Grund für Schutz irregulär nach Großbritannien einzureisen." Allerdings müsse Großbritannien ein Angebot machen: "Die offensichtlichste Lösung wäre, dass Frankreich sich bereit erklärt, Menschen schnell zurückzunehmen und Großbritannien sich im Gegenzug dazu verpflichtet, eine bestimmte Anzahl von Schutzbedürftigen aus Frankreich zu übernehmen." Das könnten beispielsweise Flüchtlinge sein, die bereits Familie in Großbritannien haben. "Dafür braucht es legale Wege", so Knaus.

Falls dies nicht gelänge, würde es zu einer Situation führen, in der sich die EU und Großbritannien gegenseitig Vorwürfe machen und sich die Spannungen verschärfen. Auch innerhalb Großbritanniens könnte es massive Auswirkungen haben: Knaus zeichnet ein Szenario, in dem – angetrieben von der britischen Boulevardpresse – eine unverhältnismäßige und hysterische Diskussion entstehen könnte. In der Folge könnte die britische Regierung zu drastischen und ungerechtfertigten Maßnahmen greifen.

Schwimmende Grenzzäune und Wellenmaschinen

Was Knaus damit meint, hat sich in den vergangenen Monaten in Großbritannien bereits abgezeichnet. Immer wieder wurden Details von Diskussionen und Vorschlägen aus Regierungskreisen durchgestochen: So wurde etwa über schwimmende Grenzzäune im Meer diskutiert, über den Einsatz von Kriegsschiffen oder von Wellenmaschinen, um die Boote abzuwehren.

Auch die Unterbringung von Migranten auf Bohrinseln stand zur Debatte. Als "unmenschlich" bezeichnete die Opposition diese Pläne. Diese Ideen fanden zwar nicht den Einzug in Priti Patels geplante Reform, einer anderen wird jedoch zumindest der Weg geebnet: So könnten künftig Gesetze erlassen werden, um Asylbewerber in externen Gebieten – etwa auf Inseln – unterzubringen.

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Wie die Londoner Zeitung "Times" im März berichtete, waren dafür bereits die selbstverwaltete Isle of Man im Ärmelkanal und Gibraltar, das Überseegebiet bei Spanien, im Gespräch. Auf Anfrage der Zeitung aber teilten die Gebiete mit, dass sie von Großbritannien über etwaige Pläne nicht in Kenntnis gesetzt wurden. Die Regierung von Gibraltar erteilte den Plänen zudem eine Abfuhr: Das Gebiet stehe aus juristischen wie geografischen Gründen nicht zur Verfügung.

"Es würden alle gewinnen"

Allerdings hat Knaus große Hoffnung, dass es zu diesen drastischen Maßnahmen im Interesse aller nicht kommt. Entscheidend sei nun, dass Frankreich oder Großbritannien möglichst bald einen vernünftigen Vorschlag auf den Tisch legt, sagt Knaus. Davon würden nicht nur beide Staaten profitieren. Geflüchtete müssten sich auch nicht mehr Schmugglern anvertrauen, wenn sie zu ihrer Familie oder aus anderen Gründen nach Großbritannien gelangen möchten. "Es würden alle gewinnen", sagt Knaus und ist überzeugt: Solche Resettlement-Programme wären ein Einstieg in ein System, in dem mehr Geflüchtete in Europa legal Schutz bekommen könnten.

Auch die Familie Nezhad hatte Familie in Großbritannien. Medienberichten zufolge lebt der Bruder des Vaters bereits dort. Als Iraner hätten sie sogar gute Chancen auf Asyl in Großbritannien gehabt: Drei von vier iranischen Asylbewerbern sind mit ihren Anträgen erfolgreich.

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