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Terror-Angriff bei Moskau: "Russland hat sich viele Feinde gemacht"


Folgen der Terrorattacke
"Deutet auf eine weitere Eskalation der Gewalt"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 25.03.2024Lesedauer: 5 Min.
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Wladimir Putin: Russlands Machthaber könnte nach dem Terroranschlag noch aggressiver auftreten.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Russlands Machthaber könnte nach dem Terroranschlag noch aggressiver auftreten. (Quelle: Alexander Zemlianichenko/imago-images-bilder)

Wladimir Putin fordert Rache für den Terroranschlag auf eine Konzerthalle bei Moskau mit mehr als 130 Toten. Wie wird der Kreml nun reagieren? Historiker Jan C. Behrends warnt vor einer Eskalation.

Russlands Armee ist in der Ukraine wieder auf dem Vormarsch, mit 87 Prozent hat sich Wladimir Putin kürzlich bei Scheinwahlen als Präsident Russlands bestätigen lassen. Doch dann erschütterte der Terroranschlag auf die Crocus City Hall bei Moskau Russland, der Islamische Staat reklamiert die Tat für sich.

Wie war ein solcher Angriff im vermeintlichen Überwachungsstaat Russland möglich? Welche Folgen könnte dies für Russlands Krieg haben? Jan C. Behrends, Historiker und Russlandexperte, schätzt die Lage ein.

t-online: Professor Behrends, wie konnte es zu einem derart verheerenden Anschlag kommen?

Jan C. Behrends: Das ist die entscheidende Frage, der sich die russischen Dienste nun stellen müssen – insbesondere der Inlandsgeheimdienst FSB. Wie umfassend Moskau und Umgebung von Sicherheitskameras überwacht werden, haben wir bei der Beerdigung des Kreml-Gegners Alexej Nawalny Anfang März gesehen. Schwer vorstellbar, wie sich schwer bewaffnete Terroristen in diesem Raum frei bewegen konnten, noch schwererer vorstellbar, dass sie sogar ungehindert an einen Ort wie die Crocus City Hall gelangen konnten, wo sich Tausende Menschen versammelt hatten.

Russlands hochgerüsteter Sicherheitsapparat ist blamiert. Hat das Kreml-Regime seine Ressourcen zu sehr auf den Krieg gegen die Ukraine konzentriert?

Russland hat sich viele Feinde gemacht in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten. Aus eigenem Antrieb erzeugte und eskalierte Putin Konflikte mit der Ukraine, dem Westen, aber auch im Nahen Osten und Tschetschenien – von der fortwährenden Bekämpfung der eigenen Opposition ganz zu schweigen. Das fällt nun auf Russland zurück, denn die Kapazitäten des Sicherheitsstaates sind beschränkt. Das Regime ist schlichtweg überfordert, sämtliche Akteure im Blick zu behalten, die im Gegensatz zur Ukraine und dem Westen wirklich eine Gefahr für Russland darstellen.

Also kam den Angreifern diese Überforderung zugute?

Ja. Ein Großteil der russischen Kapazitäten ist gerade auf die Ukraine und ihre westlichen Unterstützer ausgerichtet. Dafür zahlt das Putin-Regime nun den Preis. Dass dieser Anschlag möglich war, offenbart große Probleme bei den russischen Sicherheits- und Geheimdiensten, die vermeintlich derart hochgerüstet sind.

(Quelle: privat)

Zur Person

Jan Claas Behrends, Jahrgang 1969, forscht und lehrt am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) Potsdam und der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder. Der Historiker ist Experte für die Geschichte Osteuropas und hat die Gewaltkultur in der sowjetischen und postsowjetischen Gesellschaft von den 1970er-Jahren bis in die Gegenwart in verschiedenen Projekten untersucht.

Haben diese Dienste die durch den Islamismus ausgehende Gefahr zudem unterschätzt?

Ob der Islamismus generell unterschätzt wurde, ist schwer zu sagen. Historisch gesehen ist das Putins ältester Feind. Seine Karriere als russischer Präsident begann er mit dem Zweiten Tschetschenienkrieg, der sich gegen bereits ziemlich radikalisierte islamistische Separatisten richtete. 2015 hat Putin dann zudem die Front gegen die Terrororganisation Islamischer Staat in Syrien eröffnet – seitdem ist Russland auch ein gewichtiger Akteur im Nahen Osten. Die Vorstellung, dass die russischen Dienste den Islamismus nicht als Gefahrenquelle auf dem Radar gehabt hätten, fällt mir schwer.

Zwei Wochen vor dem Anschlag warnten die USA eindringlich vor einer Bedrohung. Wladimir Putin wies dies als Versuch der "Destabilisierung" zurück. Was sagt das aus?

Die Amerikaner haben ihre Staatsbürger in Russland wie auch die russischen Behörden am 7. März gewarnt, dass eine Gefahr droht. Was offiziell erklärt wird und auf informeller doch abläuft, ist schwer zu beurteilen. Wir wissen schlichtweg nicht, ob es noch eine irgendwie geartete Zusammenarbeit zwischen amerikanischen und russischen Diensten gibt. Ebenso wenig haben wir Kenntnis, ob die russische Seite nicht doch den Hinweisen von amerikanischer Seite nachgegangen ist.

Falls dies der Fall war, jedenfalls mit wenig Erfolg.

So ist es. In seiner Rede am Samstag hat Putin jedenfalls anklingen lassen, dass er mit allen Seiten – wohl auch mit dem Westen – zur Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus bereit ist. Derartige Aussagen sind in Putins Biografie eher dem Jahr 2001 zuzuordnen, als die Terrororganisation al-Qaida am 11. September die Anschläge in den USA verübt hatte, als dem Jahr 2024, in dem Russland die Ukraine vernichten will.

Könnte Putin dieses Angebot einer Kooperation tatsächlich ernst meinen?

Das ist eine gute Frage. Das Regime erzeugt jedoch im Staatsfernsehen parallel zu den tatsächlichen Geschehnissen seine eigene, völlig verzerrte Realität, in der angebliche Spuren der Attentäter in Richtung Ukraine weisen würden. Das stellt die Ernsthaftigkeit eines solchen Angebots zur Kooperation mit dem Westen infrage. Hinzu kommt: Das Vertrauen ist auf beiden nicht mehr vorhanden. Es fehlt schlichtweg das Fundament für eine koordinierte Kooperation.

Der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter hält eine sogenannte False-Flag-Operation – sprich: Drahtzieher des russischen Regimes – beim Anschlag auf die Crocus City Hall für nicht vollkommen ausgeschlossen. Was denken Sie?

Im Moment können wir gar nichts ausschließen, unser Informationsstand ist dafür viel zu schlecht und wir wissen, dass in Russland fast alles möglich ist.

Immer wieder wird aktuell angesichts des Anschlags auf die Crocus City Hall an die Serie von Bombenattentaten auf Wohnhäuser in Russland 1999 erinnert. Der Geheimdienst FSB steht im Verdacht, diese Anschläge selbst verübt zu haben, um dem damaligen Regierungschef Wladimir Putin zu mehr Popularität zu verhelfen, indem er die Attentate tschetschenischen Separatisten in die Schuhe schob.

In Expertenkreisen gelten die Anschläge 1999 tatsächlich als ziemlich dilettantisch ausgeführte Operation des russischen Geheimdienstes. Seither steht das Regime unter Generalverdacht. Ob diese Attentate jemals aufgeklärt werden können, ist zu bezweifeln. Ebenso wenig lässt jedoch zurzeit sich eine belastbare Aussage bezüglich einer False-Flag-Operation bezüglich der Crocus City Hall treffen. Russland bleibt eine Misstrauensgesellschaft, die auf Gerüchten und Geheimhaltung basiert.

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Der Kreml bezichtigte nun zunächst die Ukraine der Täterschaft, bis sich der Islamische Staat zum Anschlag bekannt hatte.

Eine Beteiligung des ukrainischen Staates würde ich ausschließen. Terrorangriffe auf Zivilisten sind nicht der Stil der Ukraine, zudem hätte sie bei so etwas viel mehr zu verlieren als zu gewinnen – auch wenn Putin der Ukraine nun etwas anhängen will. Die Gewalt gegen Zivilisten ist die Handschrift der Islamisten.

Gerade erst hat sich Putin bei Scheinwahlen mit 87 Prozent der Stimmen im Amt bestätigen lassen, nun offenbart er durch den Terroranschlag Schwäche. Wie wird Russlands Machthaber reagieren?

Alles deutet zurzeit auf eine weitere Eskalation der Gewalt, auf weitere Repressionen im Inneren hin. Die 87 Prozent für Putin bei der "Wahl" waren ein weiteres Zeichen dafür, dass Russland einen Schritt näher zu Diktatur und letztlich Totalitarismus rückt. Die Eskalation sehen wir auch an den massiven Luftangriffen auf die Ukraine sowie der Tatsache, dass die russische Armee mit der Attacke auf den Dnipro-Staudamm wiederum die Möglichkeit eines Ökozids in Kauf nimmt. Das ist in der Gesamtschau äußerst beunruhigend.

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Putins Rede anlässlich des Terroranschlags kam spät, den Tatort suchte er nicht auf. War das ein propagandistischer Fehler?

Ich würde das als Schwäche und Unsicherheit deuten. Mit derartigen Situationen umzugehen, fällt Putin schon immer schwer, ihm fehlt offenkundig die dafür notwendige Empathie. Allerdings hat der Kremlapparat seine Schlüsse gezogen, den Anschlag in eine radikale Rhetorik eingebettet, die auf die Ukraine zielt. Generell gilt: Je schwächer Putin ist, desto mehr will er Stärke simulieren.

Wie meinen Sie das?

Putins Wahlergebnis von 87 Prozent lässt sich auch anders interpretieren – und zwar als Ausdruck fehlender Legitimation. Im Westen wissen wir ohnehin, dass die 87 Prozent zusammengefälscht worden sind, aber auch in China, Indien und anderswo ist das kaum ein Geheimnis. Und auch die große Mehrheit der Russen selbst weiß das sehr genau. Es ist der Versuch, mithilfe der hohen Zahlen Legitimität zu inszenieren. Insgesamt ist die Lage für Putin ambivalenter, als es teilweise dargestellt wird. Und dieser schlimme Terroranschlag wird den Druck im Kessel in Russland sicherlich weiter erhöhen.

Professor Behrends, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Jan C. Behrends via Telefon
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