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Putins Angriff auf die Ukraine: "Es wird extrem blutig" | Überblick


Putins Angriff auf die Ukraine
"Es wird extrem blutig"

InterviewVon Patrick Diekmann

Aktualisiert am 25.02.2022Lesedauer: 7 Min.
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Ein ukrainischer Soldat bewacht eine Straße: Russland hat in dem Krieg ein großes militärisches Übergewicht.Vergrößern des Bildes
Ein ukrainischer Soldat bewacht eine Straße: Russland hat in dem Krieg ein großes militärisches Übergewicht. (Quelle: Reuters-bilder)

Die russische Armee greift Kiew an und in der Hauptstadt hat der Häuserkampf begonnen. Beide Seiten erleiden Verluste, Russland hat die ukrainische Armee offenbar unterschätzt. Ein Überblick über die Kriegslage.

Die Lage in der Ukraine spitzt sich weiter zu, die russische Armee rückt auf Kiew vor und befindet sich bereits in der ukrainischen Hauptstadt. Das Ziel des russischen Präsidenten Wladimir Putin ist klar: Er möchte die ukrainische Regierung austauschen und Präsident Wolodymyr Selenskyj "zur Rechenschaft" ziehen.

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Zugleich erklärte er in einem Gespräch mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping offenbar, dass er zu Verhandlungen mit der Ukraine bereit sei. Eine erneute Lüge aus Moskau? Oder erleidet die russische Armee mehr Verluste als erwartet, weswegen Putin plötzlich verhandeln will? Das kann momentan niemand sagen, aber im Westen und in der Ukraine gibt es großes Misstrauen. Experten befürchten zudem, dass Verhandlungen zu einem jetzigen Zeitpunkt harte Kapitulationsbedingungen für die Ukraine beinhalten oder von Putin als Finte genutzt würde, um in der Zwischenzeit mehr Militär ins Land bringen zu können.


Währenddessen tobt der Krieg im Land weiter. Ist die ukrainische Armee in der Lage, Kiew im Häuserkampf zu verteidigen? Gustav Gressel, Russland- und Militärexperte bei der internationalen Denkfabrik "European Council on Foreign Relations", gibt im Interview mit t-online einen Überblick über die aktuelle Lage.

t-online: Herr Gressel, der Beginn des Überfalls von Russland auf die Ukraine am Donnerstag hat die Welt schockiert, es herrscht ein Informationschaos. Wie schätzen Sie die Situation derzeit ein?

Gustav Gressel: Die Lage an den Fronten ist nur schwer greifbar, es kursieren viele Informationen. Russische Truppen sind vom Westen nach Kiew vorgerückt und die ukrainische Armee ist unter enormem Druck. Es sieht nicht gut aus.

Russland hat sich offenbar für Freitag das Ziel gesetzt, mit Panzerverbänden nach Kiew vorzurücken und dort Fuß zu fassen. Ist das realistisch?

Das Ziel hat Russland schon erreicht. Aber am Anfang haben sich die Russen verspekuliert, sie haben vielleicht mit weniger Gegenwehr gerechnet.

Warum?

Zunächst sollten Luftlandeeinheiten einen wichtigen Militärflughafen sichern, aber es waren schlichtweg zu wenige Einheiten und die Ukraine konnte ihn zurückerobern. Wir haben gestern gesehen, dass die Ukraine Verluste erlitten hat, sich aber dann neu gruppieren konnte. Zum Teil haben sie es sogar geschafft, Gegenangriffe zu fahren.

Nachts schafft Russland nicht so viele Geländegewinne. Woran liegt das?

Die russischen Luftlandeeinheiten konnten sich nur durch die Luftunterstützung lange halten. Nachts fallen viele russische Kampfflugzeuge weg, weil sie nicht über die Nachtsichttechnik verfügen, um in unmittelbarer Nähe zu eigenen Truppen operieren zu können. Das hat den Ukrainern die Luft gegeben, den Flughafen zurückzuerobern.

Trotzdem ging der russische Vormarsch auf Kiew relativ schnell.

Die ukrainische Armee hat nicht genug Kräfte, um eine ganze Front zu verteidigen, sondern sie kämpft an vereinzelten Punkten. Russische Panzerverbände rückten vom Westen fast ungehindert auf Kiew vor und ich gehe davon aus, dass sie die Ukrainer umgangen haben.

Warum hat die Ukraine so wenig Kräfte? Mit Reservisten ist die Armee personell doch gut aufgestellt.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wollte Putin keinen Vorwand für einen Krieg liefern und hat es deshalb unterlassen, rechtzeitig zu mobilisieren. Aber jetzt ist es zu spät, weil sich leichte Infanterie gegen russische Panzer nur verteidigen kann, wenn sie zum Beispiel Gräben aushebt. Dafür fehlt jetzt viel die Zeit.

Hinzu kommt, dass die Ukraine durch die Vernichtung ihrer Luftwaffe blind ist?

Ja, die russische Luftüberlegenheit ist ein großes Problem. Es gibt jetzt schon Aufforderungen des ukrainischen Verteidigungsministeriums an Zivilisten, russische Verbände zu melden. Es zeigt, dass man Schwierigkeiten hat, die Lage am Boden zu verfolgen.

Waren Sie überrascht, dass Russland so schnell die komplette Luftüberlegenheit über die Ukraine hatte?

Nein, ich war überrascht, dass Russland genug Luftabwehr vergessen hatte. Es gab gestern Mittag noch Luftkämpfe über Kiew und das hat eine russische Helikopterlandung verzögert. Ich war verwundert, dass Russland so schlampig gearbeitet hat und die Gefahr durch die Ukraine unterschätzt hat. Heute Nacht ist noch ein russisches Kampfflugzeug über Kiew abgeschossen worden und es sah so aus, als ob vielleicht noch eine Buk-Flugabwehr funktionsfähig war.

Trotzdem hat Russland sehr gezielt die Luftabwehr und die Flughäfen angegriffen. Das spricht auch für eine lange Kriegsvorbereitung, oder?

Natürlich. Es ist wahrscheinlich, dass die stationären Geräte in Friedenszeiten angepeilt und dann bei Kriegsbeginn sofort zerstört wurden. Das war aber zu erwarten. Mich hat nur überrascht, dass Russland so schnell mit Bodentruppen angegriffen hat. Ich hätte erwartet, dass die russische Armee erst mit sicherer Lufthoheit einmarschiert, aber da war Putin offenbar ungeduldig.

Präsident Selenskyj ist Putins Hauptziel. Es ist vollkommen makaber, dass ein Staatschef mit jüdischen Wurzeln von Russland als "Nazi" diskreditiert wird.

Das ist dumm und dreist. Russlands Darstellung, dass die ukrainische Regierung Nazis seien, ist eine perverse Lüge. Das schlägt allen Fässern der Welt den Boden aus.

Hat die ukrainische Armee überhaupt noch eine Chance?

Zunächst einmal müsste die Ukraine ihre Truppen von Positionen im Osten zurückziehen, die man ohnehin nicht länger verteidigen kann. Es gibt strategische Punkte, die man besser verteidigen könnte, aber die liegen alle weiter westlich.

Gerade im Osten war der ukrainische Widerstand aber relativ erfolgreich, im Süden dagegen nicht.

Im Süden muss etwas schiefgegangen sein. Ich habe keine Informationen darüber, ob ukrainische Kräfte desertiert sind, aber die russischen Panzer sind kampflos durchgebrochen. Die beste Verteidigung war in der Tat im Osten, aber da war auch der schwächste russische Kräfteeinsatz. Der Donbass war der russische Kriegsvorwand, aber Kiew war das Hauptziel.

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Spricht das für einen schnellen russischen Enthauptungsschlag auf Kiew?

Das hat Russland versucht, aber sie haben sich etwas verkalkuliert. Ich glaube, dass es ein langer Krieg wird, auch wenn die russische Armee jetzt schon in Kiew ist.

Wie kommen Sie darauf?

In Kiew erwartet die russische Armee ein schwieriger Häuserkampf – Block für Block und Haus zu Haus. Die ukrainische Hauptstadt ist groß und der Häuserkampf annulliert viele Vorteile, die die russische Armee mit ihren schnellen Panzerkräften hat. Je nachdem wie die Ukraine die Verteidigung organisiert, kann das dauern. Aber eines scheint klar: Es wird extrem blutig – besonders, wenn sich Kampfhandlungen und Flüchtlingskonvois vermengen.

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Wie bewerten Sie die Moral in Kiew, Widerstand zu leisten?

Die Stadt ist voll von Menschen, die Putin als "Nazis" bezeichnet und die er eliminieren will. Die Todeslisten der russischen Säuberungstruppen sind lang und Menschen, die auf diesen Listen sind, werden nun versuchen, in Richtung Westen zu entkommen.

Trotzdem steht momentan die ukrainische Armee noch nicht kurz vor dem Zusammenbruch?

Nein, aber sie ist in einer extrem schwierigen Lage. Wenn die kampferfahrenen Truppen im Osten nicht bald in Richtung Westen verlegt werden, ist es aber bald aussichtslos.

Was würde es für die europäische Sicherheitsarchitektur bedeuten, wenn Russland die Kontrolle in der Ukraine übernommen hat?

Ein Kalter Krieg ist für uns fast das beste Szenario. Putin hat den Kurs vorgegeben, dass der Westen Russland militärisch bedrohe und es ist wahrscheinlich, dass dieses Narrativ weiter gestrickt wird. Wenn das Putin-Regime das jetzige Vorhaben in der Ukraine überlebt, haben wir ein gravierendes Sicherheitsproblem an der Ostflanke, das jederzeit eskalieren kann.

Hätte der Westen mit Waffenlieferungen etwas ändern können?

Hätte der Westen früh mit der Lieferung und Ausbildung von komplexen Waffensystemen – wie etwa moderner Luftverteidigung – begonnen, wäre die Invasion für Russland viel teurer geworden. Hier hatten wir die Möglichkeit, die Ukraine verteidigungsfähiger zu machen und die Unterlassung kostet dem Land viel. Der Preis für einen konventionellen Angriff, den Putin zahlen muss, hätte viel höher sein können. Aber wir waren naiv, verblendet und haben das aus politischen Gründen nicht gemacht. Das liegt in unserer Schuld und das müssen wir uns ankreiden.

Im Angesicht der Bedrohung durch Russland reden wir aber über eine Hochrüstung der Ukraine, die Jahre gebraucht hätte.

Sicher, das ist ein langfristiger Prozess und man hätte damit beginnen müssen, als noch relativer Frieden herrschte. Jetzt ist es schwer: Man kann aber noch immer schultergestützte Flugabwehrwaffen oder Panzerabwehrwaffen über den Landweg liefern. Das geht noch und würde den Preis für Russland in die Höhe treiben.

Würde das Putin stören?

Das russische Militär wurde unter Lügen in einen Krieg gezogen, der in Russland und unter den Streitkräften auch nicht unumstritten ist. Durch ein langes Aushalten der Ukraine und einen hohen Blutzoll der russischen Streitkräfte könnte es am Ende einen russischen Stauffenberg geben.

Aktuell ist Putins Kurs in Russland aber noch relativ unumstritten.

Trotzdem hat Putin auf einen schnellen und unblutigen Sieg gesetzt. Der kommt nicht. Je offensichtlicher die Lügen von Putin werden, desto schwieriger wird es für ihn. Schon jetzt wurde im Nationalen Sicherheitsrat deutlich, dass nicht alle das glauben, was er erzählt.

Erfährt die russische Bevölkerung von Putins Lügen?

Ich bewundere den Mut des Teils der russischen Zivilbevölkerung, der gegen das faschistische System auf die Straße geht. Von den Schergen des Regimes wurden schon Menschen bewusstlos geschlagen, weil sie gegen den Krieg demonstrierten. Aber ich glaube nicht, dass sie etwas verändern können. Wenn Putin gestürzt werden soll, müsste das in der aktuellen Lage aus dem inneren Kreis des Präsidenten kommen.

Könnte der Angriff auf die Ukraine das Ende der Ära Putins sein?

Das weiß ich nicht, es könnte sein. Wenn dieser Krieg schiefläuft, wäre das ein Risiko für seine Herrschaft. Das liegt in den Händen der Ukraine, aber wir sehen, dass die Schlacht um Kiew in vollem Gange ist. Wir können der ukrainischen Armee nur viel Glück wünschen.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Gressel.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Gustav Gressel
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