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USA | Supreme Court entmachtet Umweltbehörde: Ein Desaster für den Planeten


Klimaurteil in den USA
Ein Desaster für den Planeten

  • Bastian Brauns
Von Bastian Brauns, Washington

Aktualisiert am 01.07.2022Lesedauer: 4 Min.
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"Dieses Urteil ist eine Katastrophe": Kohlekraftwerk in West Virginia.Vergrößern des Bildes
"Dieses Urteil ist eine Katastrophe": Kohlekraftwerk in West Virginia. (Quelle: imago-images-bilder)

Die obersten US-Richter haben erneut eine radikale Entscheidung gefällt. Diesmal betrifft sie nicht nur Amerika, sondern die ganze Welt.

Wie ein Hilferuf klingt das Statement einer der wenigen verbliebenen liberalen Richterinnen am obersten Gerichtshof der USA. "Ich kann mir nicht viele andere Dinge vorstellen, die beängstigender wären", rechtfertigt Elena Kagan ihren Widerspruch zu dem am Donnerstag gefällten Klima-Urteil des mehrheitlich ultrakonservativ besetzten Supreme Courts.

Das Gericht beschließe nämlich de facto eine Entmachtung der Umweltbehörde EPA bei der Festlegung von Kohlendioxid-Grenzwerten für Kohlekraftwerke in den USA, schrieb Kagan. Damit würde sich der Supreme Court zum obersten Entscheidungsträger bei der Klimapolitik machen.

Tatsächlich hat das mit einer Mehrheit von sechs zu drei gefällte Urteil des Obersten Gerichtshof zur Folge, dass der US-Präsident und seine Regierung quasi keinen Einfluss mehr auf das Erreichen der Klimaziele der Vereinigten Staaten haben. Die EPA hatte als Regierungsbehörde bislang die Kompetenz, Grenzwerte festzulegen.

Die Richter am Supreme Court aber sind der Ansicht, diese Macht gehöre ins Parlament. Dort allerdings findet Gesetzgebung seit Jahren kaum noch statt, weil Demokraten und Republikaner einander blockieren. Wie auf diese Weise Klimagesetzgebung gelingen soll, ist unklar. Das hat Auswirkungen auf den ganzen Planeten. Die USA sind nach China mit weitem Abstand vor Indien der größte CO2-Verursacher. Können die Vereinigten Staaten ihre im Pariser Klimaabkommen vereinbarten Ziele nicht einhalten, droht das Projekt dramatisch zu scheitern.

"Eine Tyrannei der Minderheit"

In Europa sind die Sorgen deswegen groß. "Der erzkonservativ besetzte Oberste Gerichtshof der USA hat ein weiteres radikales Urteil gefällt", sagte die grüne EU-Abgeordnete Jutta Paulus t-online. Diesmal seien jedoch nicht nur Bürgerinnen und Bürger der USA betroffen. "Die Folgen betreffen die gesamte Weltbevölkerung."

Drei Monate vor der UN-Klimakonferenz in Ägypten sei das Urteil ein schwerer Rückschlag im gemeinsamen Kampf gegen die Erderhitzung. "Ich appelliere an die Europäische Kommission, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um Abgeordnete, Bundesstaaten und Städte zu Klimaschutz auch gegen die rückwärtsgewandte Entscheidung des Supreme Court zu bewegen", so Paulus.

In den USA zeigen sich die Demokraten angesichts der Entscheidung ebenso geschockt. Der demokratische Senator aus Maryland, Chris Van Hollen, schreibt: "Der rechte Supreme Court hat mit seiner Entscheidung einen weiteren desaströsen Schritt unternommen, um unsere Nation in die Vergangenheit zu drängen." Ungestraft könnten große Unternehmen nun die Luft verschmutzen. Mit diesem Urteil, so Van Hollen, "werden wir Zeugen der Tyrannei der Minderheit – eines nicht gewählten Gremiums, das von Senatoren gewählt wurde, die eine Minderheit von Amerikanern vertreten, um der Mehrheit ihren Willen aufzuzwingen."

Richard Lazarus, Rechtswissenschaftler aus Harvard, sagte der "New York Times": "Das Urteil des Gerichts ist ein großer Rückschlag für die Fähigkeit der EPA, den Klimawandel anzugehen, und es hätte kaum zu einem schlechteren Zeitpunkt kommen können." Denn das Gericht wisse, dass der Kongress im Grunde dysfunktional ist. Auf dem Spiel stünden die öffentliche Gesundheit und das Wohlergehen der Bevölkerung genau in dem Moment, "in dem die Vereinigten Staaten und alle Nationen vor unserer größten Umweltherausforderung stehen: dem Klimawandel".

Eine Katastrophe für den Klimaschutz

Nora Löhle beschäftigt sich bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Washington seit langer Zeit mit Energiefragen, Umweltschutz und den dazugehörigen politischen Entscheidungen in Amerika. Sie findet, das Urteil sei "eine Katastrophe für die USA und damit auch für die ganze Welt". Weil Gesetzgebung kaum noch stattfinden könne, habe man sich seit Jahren daran gewöhnt, dass Klimapolitik vor allem über die Bundesbehörden umgesetzt werde. Über Nacht, ganz ohne Übergangsfristen, würde die EPA jetzt entmachtet. Ohne die Gewissheit, dass Klimaschutzpolitik überhaupt noch in Gesetze übertragen werden könne.

"Dabei hatten wir das bisschen an Verbesserung beim CO2-Ausstoß in den USA im Grunde vor allem den Grenzwerten der EPA und ihrer Signalwirkung zu verdanken", sagt Löhle. Wie weitreichend sich das Urteil auswirken werde, sei noch gar nicht abzusehen. Es könne zum Beispiel sein, dass selbst Bundesstaaten wie Kalifornien, die sich an den Grenzwerten der EPA orientiert haben und deren ambitioniertere Standards bisher geduldet wurden, dieses Recht nicht mehr haben werden. "Das müssen wir in den nächsten Wochen ausführlich beobachten", so Löhle.

Das jüngste Urteil des Supreme Courts offenbart einmal mehr, wie groß die politische Krise in den USA ist. Konnten sich Regierungen bislang noch immer auf Grundsatzurteile wie das zur Abtreibung oder auf eingeübte Praxis wie bei der Klimapolitik verlassen, legen jetzt die Richter am obersten Gericht diese tatsächlich schon immer wackeligen Gewissheiten gnadenlos offen.

Die Entmachtung schreitet voran

Wie dramatisch machtlos der amerikanische Präsident innenpolitisch ist, ließ eine Äußerung erahnen, die Joe Biden am Rande des Nato-Gipfels machte. Von einer Journalistin gefragt, warum die USA in so vielen Fragen den Rückwärtsgang einlegen würden, holte er aus zu einer großen Verteidigungsrede. Nicht einer der Staats- und Regierungschefs bei G7 oder bei der Nato wäre der Ansicht, die USA würden sich rückwärts bewegen. "Die Vereinigten Staaten sind in einer besseren Position zu führen als jemals zuvor", sagte Biden. "Das Einzige, was destabilisiert, ist das empörende Verhalten des Supreme Courts."

Mehr als Appelle hat Joe Biden aber bislang nicht zu bieten. Der US-Präsident und seine Demokraten im Kongress scheinen stumm zuzusehen, wie ihnen die Macht entrissen wird, während sie eigentlich mit einer Mehrheit in beiden Kammern regieren. Und die Richter am Supreme Court haben bereits den nächsten Fall angenommen, der radikale Auswirkungen auf die US-Demokratie hätte.

Der Fall aus dem Bundesstaat North Carolina betrifft das Zurechtschneiden von Wahlkreisen zugunsten einer Partei – das sogenannte Gerrymandering. Entschieden werden soll nach der jetzt anstehenden Sommerpause. Die Befürchtungen sind groß, dass die Richter am Supreme Court mehrheitlich der Theorie der "unabhängigen Gesetzgebung der Bundesstaaten" folgen werden. Diese besagt, dass die Gesetzgeber der US-Staaten eine letztlich kaum noch überprüfbare Befugnis haben sollen, das Verfahren für landesweite Präsidentschafts- und Zwischenwahlen festzulegen. Das bedeutet, auch die Gerichte in den Bundesstaaten könnten dann nur noch begrenzt zu solchen Fällen entscheiden.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Telefonat mit Nora Löhle, Heinrich-Böll-Stiftung, Washington
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