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Ukraine-Konflikt: Putin hat schon gegen den Westen gewonnen


Droht der Ukraine der Ernstfall?
Diese Ziele könnte Putin angreifen

Von Patrick Diekmann

03.02.2022Lesedauer: 6 Min.
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Russische Panzer bei einem Militärmanöver: Putin hat knapp 130.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen.Vergrößern des Bildes
Russische Panzer bei einem Militärmanöver: Putin hat knapp 130.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen. (Quelle: Reuters-bilder)

Die Lage in Osteuropa bleibt gefährlich: Mittlerweile hat Russland rund 130.000 Soldaten an der ukrainischen Grenze, auch die Nato verlegt Truppen. Aber wagt Putin wirklich den Angriff? Es gibt mehrere Szenarien.

Eigentlich hatte er nur ein mittelmäßiges Blatt, doch Präsident Wladimir Putin ist ein guter Pokerspieler. Der Westen dagegen spielt nicht gut: Seine Karten im Ukraine-Konflikt liegen schon auf dem Tisch, die roten Linien sind gezogen. Russland weiß genau, dass es bei einem Angriff auf das Nachbarland mit scharfen Sanktionen rechnen muss, aber wohl nicht mit einem Eingreifen der Nato. Die Nato wiederum rätselt immer noch über die Absichten Putins, der seine Karten weiterhin verdeckt hält. Über Krieg und Frieden wird allein in Moskau entschieden.

Die Unsicherheit des Westens nutzt Putin aus und baut eine maximale militärische Drohkulisse in Osteuropa auf. Ingesamt knapp 130.000 russische Soldaten stehen an der ukrainischen Grenze, davon wurden 30.000 nach Belarus verlegt – zusammen mit modernstem militärischen Gerät. Alles scheint bereit für einen konventionellen Angriff auf die Ukraine, aber ist Russland wirklich bereit, den hohen Preis dafür zu zahlen? Denn der Preis für einen Angriff wäre teuer – auch für Putin.

Mittlerweile hat Putin seine Verhandlungsposition ausgereizt und für diese Eskalation einen guten Zeitpunkt abgepasst, um einem schwachen und uneinigen Westen Zugeständnisse abzuringen. Das hat funktioniert, aber nun droht der Kreml-Chef den Bogen zu überspannen. Denn eines möchte Russland in jedem Fall verhindern: mehr US-Soldaten in Osteuropa.

Putin hat politischen Rückenwind

Deshalb war es kein Zufall, dass sich Putin in dieser Woche das erste Mal persönlich zu dem gegenwärtigen Konflikt äußerte. Bei einem Treffen mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán ließ er sich erstmals in die Karten gucken und zog eine rote Linie: der Nato-Beitritt der Ukraine sei für Moskau nicht verhandelbar.

Doch auf Seiten des westlichen Militärbündnisses war die Tür für die Ukraine niemals wirklich offen – aus Rücksicht auf Russland. Deshalb lässt sich der Vorstoß Putins auch als Zeichen dafür verstehen, dass sich auch Russland auf einen gesichtswahrenden Rückzug aus dem Konflikt vorbereitet. Zumindest ist ein Krieg unwahrscheinlicher geworden als noch in der vergangenen Woche – trotz der vielen Soldaten in der Region.

Denn Putin hat in den vergangenen Monaten durch das militärische Säbelrasseln viel gewonnen:

  • Der Kreml schaffte es, durch den Ukraine-Konflikt von innenpolitischen Problemen abzulenken. Vorher wurde in Russland über das schlechte Corona-Management und wirtschaftliche Probleme diskutiert.
  • Russland sitzt wieder mit den USA am Verhandlungstisch. Die Vereinigten Staaten und die Nato richten ihre Strategie immer mehr auf den Konflikt mit China aus.
  • Weitere Sanktionen gegen Russland – beispielsweise nach dem Urteil im Tiergarten-Mord – sind aktuell kein Thema mehr.
  • Nebenbei ist Putin in Belarus einmarschiert. Das wäre vor den Protesten gegen Alexander Lukaschenko noch undenkbar gewesen.
  • Die Nato zeigt sich bei Truppenkontingenten und bei Kurz- und Mittelstreckenraketen in Osteuropa gesprächsbereit.
  • Am Ende könnte sich der Westen auch auf Rüstungsbeschränkungen für die Ukraine einlassen.

Nun stationieren die USA zusätzliche Soldaten in Deutschland und Osteuropa. Trotzdem kann Putin die Zugeständnisse des Westens innenpolitisch als Sieg verkaufen, besonders angesichts des Kräfteungleichgewichts zwischen der Nato und Russland. Im Jahr 2020 gaben die Nato-Mitgliedsstaaten noch über eine Billion Dollar für Rüstungsgüter aus, Russland gerade einmal knapp 62 Milliarden Dollar. Das zeigt: Geld ist nicht alles.

Die Schwäche des Westens

Wie konnte es also dazu kommen, dass Moskau die Nato so in die Ecke drängen konnte? Das hat vor allem mit der innen- und außenpolitischen Zerrissenheit des Westens zu tun:

  • US-Präsident Joe Biden ist in seinem Land geschwächt, die US-Gesellschaft ist gespalten und kriegsmüde. Es gibt absolut keine Bereitschaft für Kriegseinsätze auf anderen Kontinenten.
  • In Frankreich ist in diesem Jahr Präsidentschaftswahl und auch Präsident Emmanuel Macron kann sich politisch einen größeren Konflikt mit Russland nicht leisten. Er ist stark um eine Deeskalation bemüht, um auch innenpolitisch damit zu punkten.
  • Die neue Bundesregierung in Deutschland muss sich dagegen außenpolitisch erst einmal finden und die drei Ampelparteien einen gemeinsamen Kurs entwickeln. Außerdem möchte zumindest die SPD Nord Stream 2 an den Start bringen, ein Konflikt mit Moskau ist dafür nicht zielführend.
  • Auch Premierminister Boris Johnson kämpft innenpolitisch in Großbritannien mit den Brexit-Folgen, mit einem fehlerhaften Corona-Management und mit zahlreichen Affären.

Das heißt: Niemand im Westen will einen Konflikt mit Russland und die führenden Nato-Staaten sind an einer möglichst schnellen Deeskalation interessiert. Das wusste auch Putin und sah darin eine politische Chance für Russland.

Wenn Russland sich für militärische Gewalt entscheidet

Ein Krieg wäre wiederum auch für Putin kostspielig, denn in der russischen Bevölkerung macht sich nach dem Konflikt in Syrien ebenfalls Kriegsmüdigkeit breit. Es wäre für den Kreml-Chef logisch, nun die politischen Gewinne seiner Panzer-Diplomatie einzufahren.

Ein Krieg in der Ukraine wäre für alle Seiten eine Katastrophe. Aber in Konflikten zählt oft die Logik nicht. Putin könnte zur Erkenntnis kommen, dass er seine Kontrolle über die Ukraine nur mit militärischer Gewalt wahren kann und dass er eine blühende und dem Westen zugewandte Demokratie in der Ukraine nicht erlauben möchte.

Sollte die Diplomatie am Ende doch scheitern, gibt es drei Szenarien, die aus russischer Perspektive wahrscheinlich sind:

Szenario 1 – Annexion der Donbas-Regionen

Russland könnte die besetzte Donbas-Region in der Ostukraine formell anerkennen oder annektieren – ohne den Rest der Ukraine anzugreifen. Das würde dem Kreml ermöglichen, eine weitere militärische Eskalation zu vermeiden und dennoch mit einem "Sieg" und vor allem ohne Gesichtsverlust aus dem gegenwärtigen Konflikt zu kommen.

Die russische Führung könnte dabei auch hoffen, die Ukraine zu einer ähnlichen Fehlkalkulation zu verleiten, wie sie 2008 der georgische Präsident Michail Saakaschwili traf. Dieser entschied sich, gegen von Russland unterstützte Separatisten in Abchasien und Südossetien zu kämpfen. Das würde für Putin in der Ukraine die Möglichkeit eröffnen, militärisch zu intervenieren.

Szenario 2 – Begrenzte Offensive in der Ostukraine

Ein zweites Szenario wäre eine begrenzte militärische Offensive, um zusätzliches Territorium in der Ostukraine und im Donbas zu erobern. Dabei würde Russland auch Mariupol, einen wichtigen ukrainischen Hafen am Asowschen Meer, und Charkiw, eine Großstadt mit hoher symbolischer Bedeutung für die Sowjetunion, einnehmen. Mit einem Zangenangriff könnte die russische Armee auch eine Landbrücke errichten, die die Krim mit dem russischen Festland verbindet. Ferner könnte man auch Odessa, den wichtigsten Hafen der Ukraine, angreifen.

Ein solcher Schritt würde der Ukraine lebenswichtige Wirtschaftshäfen entlang ihrer Südküste entziehen und sie zu einem Binnenstaat machen. Dagegen wären Russlands logistische Probleme bei der Versorgung der Krim gelöst. Aber das wäre eine enorme Operation, die den Einsatz aller russischen Kräfte erfordern würde, die momentan an der ukrainischen Grenze stationiert sind. Durch Häuserkämpfe wären große Verluste wahrscheinlich und Russland müsste die eroberten Gebiete langfristig besetzen und halten.

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Szenario 3 – Angriff aus allen Himmelsrichtungen

Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass Russland aus allen Himmelsrichtungen angreift und dabei so schnell wie möglich See- und Luftüberlegenheit erlangt. Die Ukraine wäre dabei deutlich im Nachteil, weil sie schnell und oft ihre Truppen durch das ganze Land verlegen müsste, um auf neue Frontlinien zu reagieren. Die Hauptstadt Kiew wäre dabei durch die Streitkräfte aus Belarus direkt bedroht – das könnte die Kapitulation der ukrainischen Regierung beschleunigen.

Aber eine dauerhafte Besetzung der eroberten Gebiete wäre in diesem Szenario unwahrscheinlich. Die Einnahme und Befriedung von Großstädten würde ein Ausmaß an urbaner Kriegsführung und zusätzliche Opfer nach sich ziehen, was das russische Militär wahrscheinlich vermeiden möchte.

Die russische Armee würde sich darauf beschränken, kritische Regionen zu erobern und zu halten, um ukrainische Versorgungslinien zu zerstören. Ukrainische Verbände würden eingekreist und zerstört, was Zehntausende Opfer fordern würde. Das Ziel Russlands in diesem Szenario: Viel Schaden in der Ukraine anrichten und das Land zu einem gescheiterten Staat machen, sodass Moskau politische Kontrolle über die Ukraine und Zugeständnisse vom Westen erzwingen kann.

Was passiert nach einer russischen Invasion?

In Moskau ist man sich in jedem Fall darüber bewusst, dass es schwer sein würde, weite Teile der Ukraine langfristig zu halten. Wenn sich Putin also für militärische Gewalt entscheidet, ist es im russischen Interesse, sich möglichst schnell wieder aus dem Land zurückzuziehen, um es nicht befrieden zu müssen. Auch dabei lassen sich Parallelen zum Georgien-Krieg ziehen. Das Ziel Russlands ist politische Kontrolle, nicht unbedingt territoriale.

Aber Putin weiß auch, dass er die Nato damit zu einer beispiellosen Reaktion mit Sanktionen und Truppenstationierungen in Osteuropa zwingen würde. Momentan scheint es so, dass der russische Präsident viele seiner Ziele auch diplomatisch erreichen kann, mit seiner drohenden Armee im Rücken.

Ihm spielt in die Karten, dass die größten Interessen des Westens das Verhindern des bewaffneten Konfliktes und des eigenen Gesichtsverlustes sind. Auf der Strecke bleibt wahrscheinlich ein Stück weit die politische Integrität der Ukraine, zu Gunsten des Kremls. Putin ist kurz davor das Machtspiel mit der Nato zu gewinnen – auch ohne Krieg.

Verwendete Quellen
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