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Kai Wegners Chaos-Wahl: Wie gefährlich ist der "Wahnsinn" von Berlin?


Der "Wahnsinn" von Berlin
Die neue Gefahr

  • Johannes Bebermeier
  • Annika Leister
Von J. Bebermeier, M. Hollstein, A. Leister

Aktualisiert am 28.04.2023Lesedauer: 5 Min.
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Bürgermeisterwahl im Berliner AbgeordnetenhausVergrößern des Bildes
Berlins Bürgermeister Kai Wegner (CDU): Ist er jetzt der Kemmerich von Berlin? (Quelle: Hannes P. Albert/dpa/dpa-bilder)

Kai Wegner stolpert ins Rote Rathaus von Berlin. Ist die vermurkste Wahl des neuen Regierenden Bürgermeisters nur ein Fehlstart – oder gefährlich?

Berlin ist unregierbar, heißt es oft. Doch dass ihm die Sache so schnell um die Ohren fliegen würde, damit hatte Kai Wegner wohl nicht gerechnet.

Es ist Donnerstagnachmittag, CDU-Politiker Wegner ist von den Abgeordneten gerade zum neuen Regierenden Bürgermeister gewählt worden. "Ich nehme die Wahl an", sagt Wegner. Die frühere Verkehrssenatorin Bettina Jarasch von den Grünen greift sich an die Stirn, fassungslos. Dann geht es erst richtig los.

"Dammbruch", "Schande", "unwürdig", "Wahnsinn" und "UNENTSCHULDBAR". So schallt es Wegner von Grünen, von Linken und selbst von manchem Sozialdemokraten auf Twitter entgegen. Dabei will Wegner nun mit der SPD das unregierbare Berlin regieren.

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Das kann er jetzt zwar, doch zu welchem Preis? Drei Versuche braucht es, bis Wegner am Donnerstag gewählt ist. Seine eigene Koalition verweigert ihm in zwei Wahlgängen die Mehrheit. Im Dritten klappt es dann. Doch die Fragen, die bleiben, haben das Potenzial, seine Amtszeit zu überschatten.

Musste ihm ausgerechnet die AfD zu einer Mehrheit verhelfen? Kai Wegner, Bürgermeister von Gnaden der AfD? Ein zweiter Thomas Kemmerich gar, der vor ein paar Jahren für 25 Stunden Ministerpräsident von Thüringen war – dank seiner FDP, der CDU und der AfD? Für viele bei Grünen, Linken und SPD scheinen die Antworten auf diese Fragen festzustehen. Doch ganz so einfach ist es nicht.

Keine Koalition, kein Programm, kein Plan

An Meinungen zur Misere mangelt es nicht, auch in der Bundespolitik. "Allein die Möglichkeit, dass Wegner mit den Stimmen der AfD gewählt worden sein könnte, ist fatal und ein Schaden für die Demokratie", schreibt die Bundesfamilienministerin Lisa Paus von den Grünen auf Twitter.

Man kann das so sehen. Aber man kann die ganze Sache auch für äußerst unglücklich halten, ohne Wegner gleich zum Kemmerich von Berlin zu verklären. Denn die Unterschiede sind so augenfällig wie das Kalkül der AfD, genau diese Verwirrung zu schüren.

Als Thomas Kemmerich 2020 seine kürzeste Amtszeit der Geschichte antrat, hatte er außer einer gewaltigen Portion Selbstbewusstsein eigentlich nichts, was ein Ministerpräsident braucht: keine Koalition, kein Regierungsprogramm, keinen Plan.

Kemmerich hatte auch keine eigene Mehrheit, die ihn ins Amt hätte wählen können. Seine FDP hatte bei der Wahl 5 Prozent erreicht, ohne die AfD hätte er nie eine Chance gehabt, Ministerpräsident zu werden.

Die Mehrheitsverhältnisse insgesamt waren und sind ganz anders und prekär in Thüringen. Denn auch Langzeitregierungschef Bodo Ramelow von der Linken hatte mit seiner rot-rot-grünen Koalition keine eigene Mehrheit. Er musste auf Enthaltungen oder heimliche Zustimmung anderer Parteien hoffen. Daran hat sich bis heute nichts geändert, Ramelow regiert nach wie vor ohne Mehrheit.

All das ist in Berlin anders. Kai Wegners CDU ist mit 28 Prozent bei der Wahl deutlich stärkste Partei geworden. Er hat mit der SPD eine Koalition ausverhandelt, auch wenn das schwierig war. Es gibt ein Programm, einen Plan und vor allem eine eigene Mehrheit für die Regierung.

Und es gibt weitere entscheidende Unterschiede, und zwar im Vorgehen der AfD.

Eigener AfD-Kandidat in Thüringen

Denn in Thüringen hatte die AfD mit dem parteilosen Christoph Kindervater einen eigenen Kandidaten ins Rennen um das Amt des Regierungschefs geschickt. Er trat in allen drei Wahlgängen an. Im dritten Wahlgang allerdings erhielt Kindervater – anders als in den Wahlgängen zuvor – nicht eine einzige Stimme, Kemmerich jedoch 45, Ramelow 44.

Die in diesem Fall tatsächlich einzig logische Schlussfolgerung: Die Thüringer AfD stimmte im dritten Wahlgang plötzlich geschlossen nicht für den eigenen Kandidaten, sondern für Kemmerich. Dem FDP-Politiker wurde also tatsächlich mit nur einer Stimme Mehrheit dank der AfD ins Amt verholfen – wenn auch nur für wenige Stunden.

In Berlin ist die Lage sehr viel unklarer: Im dritten Wahlgang erhielt CDU-Chef Wegner 86 Ja- und 70 Nein-Stimmen bei drei Enthaltungen. Die Ja-Stimmen entsprechen exakt der Stärke der SPD- und CDU-Fraktion. Keineswegs ist ausgeschlossen, dass es wie in den vorangegangenen Wahlgängen Abweichler gab und AfDler für Wegner stimmten.

In einer Erklärung vom Freitag, die t-online vorliegt, behauptet die Berliner AfD-Fraktion, dass zehn ihrer Abgeordneten für Wegner gestimmt hätten und nennt sie namentlich. "Hätten diese Abgeordneten nicht für, sondern gegen Kai Wegner gestimmt, wäre er mit 76:80 Stimmen auch im dritten Wahlgang gescheitert", heißt es.

Denkbar ist das tatsächlich. Denn: "Von den gesamt abgegebenen Stimmen – ungültige Stimmen und Enthaltungen rausgerechnet – muss der Kandidat im dritten Wahlgang mehr Ja- als Nein-Stimmen erhalten", erklärt ein Sprecher des Berliner Abgeordnetenhauses t-online. Wegner hätte im dritten Wahlgang also eine relative Mehrheit gebraucht. Hätten zehn Abgeordnete nicht für, sondern gegen ihn gestimmt, wäre er gescheitert.

Aber: Die Wahl ist geheim, welcher Abgeordnete tatsächlich wie abgestimmt hat, wird sich nie mit Sicherheit sagen lassen. Und dass ausgerechnet die AfD in dieser Situation die Wahrheit darüber sagt, wen sie gewählt hat, glauben viele Politiker und Beobachter nicht.

Das muss die AfD aber gar nicht weiter stören. Denn schon die Unsicherheit, das Chaos und die Empörung kommen ihr sehr entgegen. Es beschädigt den neuen Regierungschef und katapultiert die AfD in die Schlagzeilen. Nicht ohne Grund verbreitete die AfD während des dritten Wahlgangs extra eine Pressemitteilung, in der sie verkündete, Wegner zur erforderlichen Mehrheit zu verhelfen.

Bewährte Strategie der AfD

In Berlin hat die AfD diese Strategie ganz ähnlich schon einmal angewendet: bei der Wahl des Linken-Politikers Sören Benn als Bürgermeister im Bezirk Pankow. Damals kamen Linke und SPD nur auf 23 Stimmen, Benn aber gewann mit 29 Stimmen.

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Die AfD behauptete, sie habe Benn gewählt. Benn aber gilt als fähiger und beliebter Bürgermeister, Stimmen von den Grünen, CDU oder FDP sind da nicht ausgeschlossen. Das Chaos war auch dort groß, Benn ging angeschlagen in die neue Amtszeit.

Diese Strategie wolle die AfD nun wieder anwenden, ohne tatsächlich für Wegner gestimmt zu haben, vermuten einige im Abgeordnetenhaus. Die AfD weist diesen Vorwurf zurück. AfD-Chefin Kristin Brinker will auch keine Parallelen zur Thüringen-Wahl sehen. Auf die Frage, ob die Berliner AfD dieselbe Strategie wie die Thüringer AfD angewendet habe, sagt sie t-online: "Gar nicht, das war völlig unerheblich."

Antrieb war demnach angeblich die Sorge um Berlin: "Wenn der dritte Wahlgang verschoben oder gescheitert wäre, wäre Berlin auf längere Sicht unregierbar gewesen." In den Zustand habe man die Stadt keinesfalls bringen wollen.

"Versuch, die Wahl zu vergiften"

Thüringens Regierungschef Bodo Ramelow sieht das natürlich anders. "Der Vorgang in Berlin war ein Versuch der AfD, die Wahl zu vergiften", sagt er t-online. "Insofern zeugt er von einem Versagen aller Fraktionen." Man dürfe den Demokratieverächtern niemals den Raum bieten, eine Wahl für sich zu instrumentalisieren.

Für die AfD hat sich die Strategie schon jetzt bewährt. Es dürfte nicht das letzte Mal gewesen sein, dass sie eine geheime Wahl für öffentlichkeitswirksames Chaos nutzt.

Die demokratischen Parteien sollten spätestens jetzt gewarnt sein, sich vorbereiten. Und vielleicht einem Ratschlag aus den eigenen Reihen folgen: "Ich glaube, manchmal wäre es einfach gut, einmal innezuhalten, zu überlegen und zu bedenken, was passiert ist, sich zu besprechen, abzuwägen", schreibt Grünen-Politiker Konstantin von Notz auf Twitter, "und sich erst dann zu verhalten und zu äußern."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Gespräche mit AfD-Fraktionschefin Kristin Brinker und Ministerpräsident Bodo Ramelow
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