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Tagesanbruch: SPD und CDU stellen sich neu auf


Was heute wichtig ist
Marsch nach links, Marsch nach rechts

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 12.02.2019Lesedauer: 7 Min.
Meinung
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SPD-Chefin Nahles, CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer.Vergrößern des Bildes
SPD-Chefin Nahles, CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer. (Quelle: dpa/t-online.de)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Wenige Jahre dieses noch jungen Jahrhunderts hatten so gravierende Folgen für die deutsche Politik wie 2015. Angela Merkels Entscheidung, die Grenzen offen zu lassen, als aus Ungarn die Flüchtlinge kamen, hat die politische Landkarte grundlegend verändert. Der Aufstieg der AfD, der Zoff zwischen CDU und CSU, Merkels Absturz in den Umfragen, das Zerwürfnis mit den osteuropäischen EU-Staaten, das Erstarken der Populisten in Italien und Österreich, vielleicht sogar der Brexit: Wenn man will, lässt sich alles irgendwie zu diesem schicksalhaften Moment in Beziehung setzen.

Merkel sagt: Ihre Entscheidung war ein Gebot der Humanität, die eigentlichen Fehler wurden lange vorher gemacht: Europa schaute weg, als Syriens Diktator in den Krieg gegen sein eigenes Volk zog. Europa ließ die Italiener und Griechen im Stich, als in deren Mittelmeerhäfen immer mehr Menschen aus Syrien, Irak, Afghanistan und Afrika anlandeten.

Merkels Kritiker sagen: Mag alles sein, aber den gravierendsten Fehler machte trotzdem die Kanzlerin, als sie Hunderttausende ins Land ließ, ohne den Prozess gewissenhaft zu managen – und indem sie die Grenzen monatelang geöffnet hielt, wodurch immer mehr Menschen angelockt wurden. Die Folgen waren überlastete Kommunen, überforderte Behörden, verunsicherte Bürger und Politiker, die selbst nicht so genau wussten, wie sie mit der verfahrenen Lage umgehen sollten. Die sich erst ans Prinzip Hoffnung klammerten (wird schon irgendwie gut gehen), sich dann auf die Hilfsbereitschaft der Bürger verließen und schließlich viel zu spät aufwachten, als die Wähler ihnen davonliefen, als erboste Bürgermeister aufbegehrten, als einzelne Geflüchtete Gewalttaten begingen: All das hätte die Regierung unter Führung der Kanzlerin nicht zulassen dürfen.

Wer hat recht? Vermutlich beide – sowohl die Kanzlerin als auch ihre Kritiker. Die Folge dieses Sowohl-als-auch war bislang eine programmatische Blockade innerhalb der Union: In der Migrationspolitik bewegte man sich ein bisschen hierhin, ein bisschen dorthin, aber nur soweit, dass es den Kurs der Kanzlerin nicht vollends konterkarierte. Das Asylrecht verschärfen ja, aber bitte in Maßen und im Einklang mit den europäischen Partnern. Alles in allem: entschiedene, aber auf Ausgleich bedachte Schritte. Merkel-Politik eben.

Jetzt soll damit Schluss sein. Was die neue CDU unter der Führung von Annegret Kramp-Karrenbauer bei ihrem "Werkstattgespräch zur Migration" gestern erarbeitet hat, ist nicht weniger als eine Aufkündigung von Merkels moderater Flüchtlingspolitik.

  • Abgelehnte Asylbewerber sollen künftig schon an der EU-Außengrenze zurückgewiesen werden.
  • Die EU-Grenzschutztruppe Frontex soll auf 10.000 Beamte aufgestockt werden, um Flüchtlingsboote abzuwehren.
  • Die Bundespolizei soll erweiterte Kompetenzen bekommen und als eine Art Migranten-Polizei Menschen verfolgen, die sich unerlaubt in Deutschland aufhalten.
  • Abschiebungen sollen rigoros durchgezogen, Abschiebehaft soll erleichtert werden.
  • Der Rechtsweg für Flüchtlinge soll verkürzt werden, für Klagen gegen abgelehnte Asylbescheide soll es nur noch eine Instanz geben.
  • Wer im Asylverfahren falsche Angaben macht, soll hart bestraft werden.

Man kann in all diesen Forderungen überfällige Konsequenzen der Flüchtlingskrise sehen: Kramp-Karrenbauer macht die Arbeit, die Merkel nicht machte. "Kombination aus Humanität und Härte" nennt das die neue CDU-Chefin und will die deutsche Gesellschaft damit "versöhnen". Die Migration dürfe nicht zum "Spaltpilz in unserer Gesellschaft" werden. "Wir müssen deutlich machen: Wir haben unsere Lektion gelernt."

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Man kann in all diesen Forderungen aber auch den Profilierungsversuch einer Partei sehen, die endlich wieder als Law-and-order-Truppe punkten will. Einer Partei, die mit schreckgeweiteten Augen den Absturz der SPD verfolgt und versucht, demselben Schicksal zu enteilen. Die gerade noch die Kurve kriegen will, indem sie um verlorene Wähler im konservativen, aber auch im rechten Milieu wirbt. Und die Flucht und Migration deshalb nur noch unter negativen Vorzeichen diskutiert. Wo Merkel ihre helfende Hand anbot, schwenkt die neue CDU-Führung das Stoppschild. Der Geist Manfred Kanthers, Roland Kochs und Volker Rühes weht seit gestern wieder durch die CDU, und die neue Chefin gibt ihm Raum. Ihre Neuaufstellung der Partei kommt einer Verschiebung der politischen Koordinaten gleich: Merkels Kurs wird absehbar enden. Die CDU marschiert stramm ein gutes Stück nach rechts.


Und wer marschiert nach links? Schauen wir mal nach. Die SPD hat für ihr Sozialstaatskonzept viel Anerkennung geerntet. Sonntagabend auf der Klausur des Parteivorstands in einer Kreuzberger Brauerei herrschte Bombenstimmung unter den Genossen. Endlich der Aufbruch! Endlich neuer Schwung! Endlich Hoffnung im Jammertal! Na, dann Prost!

Aber wenn der Rausch der Nacht verflogen ist, setzt der Kater ein. Dann schlägt die Stunde der Wahrheit, und eins plus eins ist nicht mehr fünf, sondern allerhöchstens noch zwei. Dann mutieren ganz einfache Fragen zum Schreckgespenst: Wie wollen die Genossen ihre unzähligen Versprechungen, mit denen sie die Republik in den vergangenen Wochen beglückt haben, eigentlich finanzieren? Es oblag Generalsekretär Lars Klingbeil, die Antwort auf diese unangenehme Frage zu geben – und sie tönt entschieden weniger euphorisch als die Aufbruchlieder, die seine Compañeros Nahles, Scholz, Schwesig und Kühnert am Vorabend trällerten: "Erst mal haben wir momentan Steuereinnahmen, die sind da", befand Klingbeil im ZDF-Interview. Und was, wenn das Steuergeld aufgrund der eingetrübten Konjunktur weniger wird? Dann müsse man eben "Superreiche zur Verantwortung ziehen". Im Klartext: ein noch höherer Spitzensteuersatz und eine Vermögensteuer sollen den sozialdemokratischen Geldregen nähren.

Mehr Geld für Niedriglöhner, für Arbeitslose, für Rentner, für diese und für jene – die SPD des Jahres 2019 kann vor allem eines sehr gut: Geld ausgeben. Dabei liegen die Ausgaben für Sozialleistungen in Deutschland schon jetzt auf Rekordniveau; rund eine Billion Euro betragen sie pro Jahr. Darüber mögen sich all jene freuen, die vom Staat ein paar mehr Euro überwiesen bekommen. Aber all jene, die diese Euro erwirtschaften müssen, ächzen zunehmend unter der Last. Die Angestellten, die jeden Tag gewissenhaft zur Arbeit gehen, aber einen großen Teil ihres Gehalts abgeben und zusätzlich mit steigenden Mieten und Lebenshaltungskosten klarkommen müssen. Die Unternehmer, die Deutschlands Wirtschaftsmotor am Laufen halten, aber von einer der beiden Regierungsparteien kaum Rückendeckung erhalten.

Der klassenkämpferische Sound, mit dem die Genossen Vermögende stigmatisieren, muss in deren Ohren wie Hohn klingen. Welche Assoziation hat denn jemand, der das Wort "Superreiche" hört? Vielleicht denkt er an blasierte Milliardäre, die auf einem Kreuzfahrtschiff dem Sonnenuntergang zuprosten. Er denkt wohl eher nicht an Unternehmer wie beispielsweise Michael Otto, die nicht nur ein großes soziales Gewissen haben, sondern durch Mut, Tatkraft und Weitblick auch vielen Menschen Lohn und Brot sichern. Der Staat kann nur jene Wohltaten verteilen, die vorher jemand erwirtschaftet hat: Diese Binsenweisheit scheint die von ihrem Sozialprogramm berauschte SPD-Spitze geflissentlich zu ignorieren. Der Olaf werde es schon richten, tönen sie, schließlich sitze der ja an der Kasse. Da weiß man als Bürger nicht, ob man lachen oder Angst bekommen soll. Könnte es sein, dass sich die deutsche Sozialdemokratie aus Angst vor dem Tode selbst entleibt, um ihre Auferstehung als neue Linkspartei zu feiern?

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Wenn die neue CDU nach rechts marschiert und die neue SPD nach links, dann werden die Konturen des politischen Spektrums wieder klarer sichtbar. So gesehen hätte die Krise der Volksparteien auch etwas Gutes. Allein, wer läuft dann künftig in der Mitte?


WAS STEHT AN?

Wenige Tagesanbruch-Ausgaben haben so viele Leserreaktionen hervorgerufen wie die vom 7. November vergangenen Jahres. Grund war damals nicht etwa die Kongresswahl in Amerika, sondern der Skandal in einem Schlachthof in Oldenburg: Tierschützer hatten mit verdeckter Kamera grausame Misshandlungen von Rindern gefilmt. (Erst) Jetzt ziehen das Land Niedersachsen und Vertreter der Fleischwirtschaft die Konsequenzen: Sie wollen heute eine Vereinbarung über freiwillige Videoüberwachung in Schlachthöfen unterschreiben; so soll Tierquälerei verhindert werden. Besser spät, als nie. Aber warum gibt es sowas nicht überall in Deutschland?


In London raunt man von einem entscheidenden Termin: Premierministerin Theresa May will heute im Parlament ihre soundsovielte Erklärung zum Brexit abgeben – aber die heutige dreht sich endlich um den Casus knacksus. Es geht um das vertrackte Problem der Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem zu Großbritannien gehörenden Nordirland: Kann sich London nicht mit der EU einigen, müssten künftig alle Waren kontrolliert werden – es drohen ein logistischer Albtraum und immenser wirtschaftlicher Schaden. In London raunt man nun, Frau May habe eine neue Idee. Ich bin gespannt.


In Madrid beginnt heute der Prozess gegen die katalanischen Separatistenführer. Die Staatsanwaltschaft klagt sie wegen des verbotenen Unabhängigkeitsreferendums im Oktober 2017 der Rebellion, des Aufruhrs und der Veruntreuung öffentlicher Gelder an und fordert lange Haftstrafen. Die politische Dimension ist gewaltig: Die Opposition wirft Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez vor, in den Verhandlungen mit Katalonien zu nachgiebig zu sein. Am Sonntag haben Zehntausende gegen seine Regierung demonstriert. Nun wackelt seine Macht.


WAS LESEN?

Der Kampf gegen Denkverbote ist der AfD ein zentrales Anliegen, wie sie sagt. Ihre Vertreter beklagen die "political correctness" in Deutschland und eine "linke Meinungsdominanz", wie sie sagen. Wenn es um ihre eigenen Positionen geht, scheint die AfD Denkverbote aber durchaus für angemessene Instrumente zu halten, sagt mein Kollege David Ruch – und liefert dafür konkrete Beispiele.


WAS FASZINIERT MICH?

Es gibt Begriffe, denen man nachtrauern kann – weil sie einmal etwas Wichtiges bedeuteten, inzwischen aber leider zum Klischee verkommen sind. Das "Wunder des Lebens" gehört dazu. Wenn wir diese drei Worte hören, denken wir eher an Babypostkarten als einen die Vorstellung sprengenden, fast magischen Vorgang. Ganz bestimmt denken wir nicht an einen Lurch. Aber heute gebe ich Ihnen die Chance, das "Wunder des Lebens" aus einer ungewöhnlichen, absolut umwerfenden Perspektive zu erleben. Und sinnentleerte Worte mit neuem Leben zu erfüllen.

Ich wünsche Ihnen einen wundervollen Tag.

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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