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Tagesanbruch: Nahles und Kramp-Karrenbauer – eine klagt, eine kämpft


Was heute wichtig ist
Eine klagt, eine kämpft

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 28.05.2019Lesedauer: 6 Min.
Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Parteichefinnen Kramp-Karrenbauer, Nahles.Vergrößern des Bildes
Parteichefinnen Kramp-Karrenbauer, Nahles. (Quelle: Reuters/AP)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Eine Wahl, zwei Verliererinnen. Die eine tritt die Flucht nach vorne an, die andere lamentiert. SPD-Chefin Andrea Nahles braucht im Geiste nur bis drei zu zählen, dann hat sie schon 30 innerparteiliche Kritiker am Hals. Bevor sie abgesägt wird, nimmt sie selbst die Säge in die Hand und verkürzt ihre eigene Amtszeit als Fraktionsvorsitzende: Schon kommende Woche will sie die eigentlich erst im Herbst anstehende Neuwahl ihres Bundestagspostens ansetzen – in der Hoffnung, ihre Kontrahenten Martin Schulz und Achim Post so zu überrumpeln. Gelingt ihr das Manöver, wäre das Wort “Befreiungsschlag“ nicht zu hoch gegriffen. Scheitert es, findet sich bestimmt ein anderes Amt. Pop-Beauftragte oder so.

Annegret Kramp-Karrenbauer wiederum hat sich dafür entschieden, die Verantwortung für die Niederlage bei der Europawahl weniger bei der CDU-Politik als vielmehr bei deren Kritikern zu suchen – in erster Linie bösen Journalisten und noch böseren Youtubern. Bedeutungsschwanger klagt sie über “Meinungsmache“ und raunt von “Regeln“, die künftig im Wahlkampf gelten müssten.

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Vielleicht findet sie ja heute zwischen ihren vielen Terminen die Zeit, mal eben das Grundgesetz aufzuschlagen und sich über die Regeln unseres Rechtsstaates zu informieren. In Artikel 5 steht dort: “Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“

Das Schöne in unserem Lande ist ja: Daran müssen sich sogar CDU-Chefinnen halten.


Da reden und schreiben wir den ganzen Tag über Politik, aber die wahren Emotionen finden anderswo statt. Im Millerntor-Stadion auf St. Pauli habe ich große Momente erlebt, mein lieber Scholli. In Gaddafis Revolutionsstadion in Tripolis besuchte ich mal ein Länderspiel zwischen Libyen und Sudan; Sapperlot, da war was los. Aber wissen Sie was? Das alles war ein Kindergeburtstag gegen die Stimmung, die ich gestern im Stadion An der Alten Försterei in Berlin-Köpenick miterleben durfte. Es heißt, Relegationsspiele hätten ihre eigenen Gesetze. Da zählten Härte, Moral und unbedingter Siegeswille. Und natürlich müsse man das Gras riechen. Also machte ich mich als siegesgewisser Schwabe auf, um den moralisch hochverdienten Sieg des wunderbaren VfB Stuttgart auf dem Rasen zu beklatschen. Hat dann nicht ganz geklappt.

Aber wissen Sie noch was? War mir schnurzpiepegal, wie die Leute hier in Berlin zu sagen pflegen. Denn ich habe noch nie eine so fantastische Stimmung in einem Fußballstadion erlebt. Ganz große Emotionen (die entscheidende Szene habe ich Ihnen mitgebracht). Da steckt man als Schwabe sogar den Abstieg in die Rumpelliga weg. Regensburg und Darmstadt sollen ja ganz schön sein, habe ich mir sagen lassen. Und ans Millerntor komme ich nun endlich auch mal wieder.


Gestern noch Sieger, heute weggeräumt? Sebastian Kurz hat bei der Europawahl mit seiner Partei ein glänzendes Ergebnis eingefahren, nur um am Tag danach vom österreichischen Parlament seines Amtes als Bundeskanzler enthoben zu werden. Das verschafft ihm den zweifelhaften Ruhm, als erster Kanzler seit dem Zweiten Weltkrieg per Misstrauensvotum abserviert zu werden. Die zweite Premiere nimmt er auch gleich mit: Niemand war je so schnell wieder vor der Tür wie er.

Ein Debakel? Im Gegenteil. Herr Kurz darf zuversichtlich in die Zukunft blicken. Zwar ist ihm die Koalitionspartnerin FPÖ abhandengekommen, weil deren Parteichef sich auf Ibiza als korruptionsanfälliger Antidemokrat entpuppte. Doch Herrn Kurz ist es gelungen, sich von dem Skandal abzugrenzen. Die peinliche Frage, warum er sich so eine Bagage in die Regierung holte, konnte er bisher umschiffen. Ohnehin ist es in Österreich längst nicht mehr tabu, mit dubiosen rechten Kameraden gemeinsame Sache zu machen und sich einen Vizekanzler zu leisten, der früher Neonazikontakte pflegte. Die FPÖ ist gesellschaftsfähig. Solange der Anzug gut sitzt, stört das braune Innenfutter nicht.

Bei der Europawahl hat Herr Kurz davon profitiert, dass vielen Anhängern der FPÖ die offensichtliche Bereitschaft zur Korruption dann allerdings doch ein bisserl aufgestoßen ist. So gaben sie ihr Kreuzchen lieber dem feschen Kanzler. Aber auch den Sozialdemokraten hat er Stimmen abgejagt. Die bevorstehenden Neuwahlen dürften ihn deshalb kaum schrecken. Seine Popularität ist ungebrochen, nur in den anderen Parteien kann ihn inzwischen fast niemand mehr ausstehen, was die Koalitionsbildung nach der Neuwahl ein bisserl heikel macht.

Aber wer weiß, vielleicht ist nach der Wahl ja alles wieder beim Alten mit den Buddies am rechten Spielfeldrand. Ex-Vorsitzender Strache, der mit seinem Ibiza-Auftritt seine politische Karriere eigentlich für immer ins Aus befördert haben sollte, darf schon jetzt einen Wahlerfolg vermelden: Er hat es bei den Europawahlen tatsächlich ins EU-Parlament geschafft. Ob Abgesang oder Auferstehung, die politische Entwicklung in Österreich legt ein rasantes Tempo vor. Da bleibt kaum Zeit, sich um die Richtung zu kümmern.


WAS STEHT AN?

Nach der Wahl ist vor der Wahl – mit dem Unterschied, dass bei der nun anstehenden Entscheidung nur Privilegierte die Wahl haben. Für diese privilegierten 24 Herren und zwei Damen hat sich die Formulierung “Staats- und Regierungschefs der EU“ eingebürgert (Frau May und Herr Kurz müssen zu Hause bleiben). Diese Herrschaften haben die Europawahl sehr unterschiedlich durchlebt. Einige triumphierten, andere wurden gerupft, aber eines eint sie alle. Sie beginnen heute offiziell ihren Poker um die Besetzung der europäischen Spitzenposten: des Kommissionspräsidenten (sehr wichtig, weil seine Macht stetig gewachsen ist), des Präsidenten des Europäischen Rates (also des Gremiums, in dem die Chefs sich regelmäßig treffen; auch wichtig), des Hohen Vertreters für Außen- und Sicherheitspolitik (weniger wichtig, weil die EU-Staaten de facto keine gemeinsame Außenpolitik machen) und des Präsidenten der Europäischen Zentralbank (über den in diesen Tagen am wenigsten geredet wird, der aber von allen Posten der mächtigste ist, weil er über die Geldpolitik in der Eurozone entscheidet – also: superwichtig!). Auch der Präsident des Europäischen Parlaments wird neu besetzt, über den entscheiden aber allein die Abgeordneten.

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Den ganzen Tag werden die Chefs Gespräche führen, telefonieren und SMS verschicken, bevor sie sich am Abend im Brüsseler Berlaymont-Gebäude zusammensetzen und den Showdown einläuten. Als erstes müssen sie sich auf einen Kommissionspräsidenten einigen, den sie dem Parlament vorschlagen. Die Abgeordneten können dann zustimmen oder ablehnen.

Was einfach klingt, ist in Wahrheit ein kompliziertes Machtmanöver, bei dem nicht unbedingt derjenige gewinnt, der als erster zuckt. Deshalb ist das Rennen zwischen dem Deutschen Manfred Weber, dem Holländer Frans Timmermans und der Dänin Margrethe Vestager, die alle schon sehr deutlich gezuckt haben, völlig offen. Am Ende könnte es sogar einen lachenden Vierten geben: Der Franzose Michel Barnier hat schon im Brexit-Poker bewiesen, dass er genau weiß, wie man als letzter zuckt – und gerade dadurch gewinnt.


Es ist der größte Medizinskandal Deutschlands: Millionen Menschen nahmen bis Ende der fünfziger Jahre das Beruhigungs- und Schlafmittel Contergan, auch schwangere Frauen. Die Folgen: Ab 1958 wurden immer mehr Kinder mit Fehlbildungen geboren. Mehr als 60 Jahre später kämpfen viele Opfer noch immer um Entschädigung. Ihr Gegner ist ausgerechnet die Stiftung, die ihnen eigentlich helfen soll. Heute Nachmittag beginnt der Prozess vor dem Verwaltungsgericht Köln. Das Urteil könnte zum Präzedenzfall für die rund 2.400 Geschädigten in Deutschland werden – denn das Geld für die Contergan-Rente ist längst aufgebraucht. "Man dachte, das Problem mit uns erledigt sich von allein", sagt Friederike Winter. Meinen Kolleginnen Alexandra Grossmann und Sandra Sperling hat sie erzählt, was Contergan in ihrem Leben angerichtet hat.

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WAS LESEN?

Wie bewerten Konservative in der CDU das schlechte Abschneiden ihrer Partei bei der Europawahl? Wir haben Wolfgang Bosbach gefragt. Er hat geantwortet.

Und wie sollte die CDU auf die Wahlniederlage reagieren? Das erklärt unsere Politikchefin Tatjana Heid in ihrem Videokommentar.

Haben die triumphierenden Grünen die richtigen Antworten für die Probleme in unserem Land? Darüber hat mein Kollege Patrick Diekmann mit unseren Leserinnen und Lesern diskutiert.


WAS AMÜSIERT MICH?

Wie sagt der Volksmund so treffend? Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.

Egal, wen Sie gewählt haben: Ich wünsche Ihnen trotz allem (oder gerade deshalb) einen ersprießlichen Tag.

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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