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Tagesanbruch: Schachern um EU-Posten – Angela Merkels Autorität schwindet


Was heute wichtig ist
Erlernte Hilflosigkeit

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 02.07.2019Lesedauer: 6 Min.
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Kanzlerin Merkel auf dem Weg von Osaka nach Brüssel.Vergrößern des Bildes
Kanzlerin Merkel auf dem Weg von Osaka nach Brüssel. (Quelle: Francois Lenoir/Reuters-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Früher trafen sich Politiker zu Saumagen oder Kuchen, wenn sie schwierige Probleme lösen mussten. Heute machen sie die Nacht zum Tage. Angela Merkel zeigt dabei besonders große Ausdauer: Je 17 Stunden zogen sich die Marathonverhandlungen zur Ukraine-Krise und zur Griechenland-Rettung vor vier Jahren hin. Die Koalitionsbildung 2013 dauerte ähnlich lang, die im vergangenen Jahr sogar noch länger. Aber die Kür des neuen EU-Spitzenpersonals sprengt nun alle Rekorde. Mit einem ordentlichen Jetlag im Gepäck jetteten die Kanzlerin, ihre Kollegen Macron, Juncker und Tusk sowie die restlichen EU-Chefs vom G20-Gipfel in Japan nach Brüssel, um sich dort gleich wieder zusammenzusetzen und weiterzureden.

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Nach fast 20 Stunden zeichnete sich ein Kompromiss ab: Der niederländische Sozialdemokrat Frans Timmermans sollte Kommissionspräsident werden, der deutsche Christsoziale Manfred Weber Parlamentspräsident, die Bulgarin Kristalina Georgiewa Ratspräsidentin und die dänische Liberale Margrethe Vestager Außenbeauftragte. So wären alle Spitzenkandidaten und Parteien eingebunden gewesen – doch dann platzte das Personalpaket. Vor allem Polen und Ungarn stellten sich quer; sie tragen Timmermans nach, dass er ihre Attacken auf die Rechtsstaatlichkeit anprangerte. Früher besaß Angela Merkel die Autorität, so eine verfahrene Lage glimpflich zu lösen. Inzwischen fehlt sie ihr. "Unsere Glaubwürdigkeit ist tief beschädigt. Mit diesen überlangen Treffen, die zu nichts führen, vermitteln wir ein Bild Europas, dem die Ernsthaftigkeit fehlt", schimpfte Macron, ersichtlich vom Schlafmangel gemartert.

Heute Morgen darf er ein paar Minuten länger ruhen, bevor es um 11 Uhr weitergeht. Aber wenn Frühstück, Mittagessen und Kuchen verzehrt sind, könnte es wieder spät werden. Warum tun sich die Chefs so schwer, warum dauert das alles so unfassbar lang? Darauf gibt es zwei Antworten.

Die erste ist kurz: Europa ist der facettenreichste Kontinent der Welt. Umso größer ist die Leistung der EU, all die unterschiedlichen Interessen auszugleichen, Egozentriker einzubinden und Eifersüchteleien zu befrieden. Weil die Union inzwischen 27 Mitglieder vereint (die Briten sitzen nur noch am Katzentisch), dauert es eben länger, aber das ist kein Drama. Am Ende stundenlanger Verhandlungen siegt immer der Kompromiss, und alle sind zumindest halbwegs zufrieden.

Für die zweite Antwort muss man ein wenig ausholen. Psychologen kennen das Verhaltensmuster der "erlernten Hilflosigkeit", die Amerikaner Martin Seligman und Steven Maier erklärten damit das Entstehen vieler Depressionen. Dafür erforschten die beiden Wissenschaftler die Reaktionen von Hunden und anderen Tieren, die wieder und wieder in eine unangenehme Situation gezwungen wurden. Sie fanden heraus: Anfangs rebellieren die Tiere gegen ihr Schicksal – aber irgendwann fügen sie sich. Wir kennen das von Zirkuspferden, die immerzu im Kreis laufen müssen. Ein vergleichbares Verhalten lässt sich bei Menschen beobachten, zum Beispiel bei Häftlingen: Sie stumpfen ab, verlieren den Glauben an sich selbst, werden depressiv.

Mit Parallelen zwischen Naturwissenschaft und Politik sollte man zurückhaltend sein, aber beim Blick auf das Verhalten der EU-Staats- und Regierungschefs drängt sich der Eindruck auf, sie seien ebenfalls in der erlernten Hilflosigkeit gefangen. Sie verhandeln Stunde um Stunde um Stunde, weil sie gar keinen anderen Modus mehr kennen. Gefangen im Korsett aus taktischen Zwängen, persönlichen Eitelkeiten und nationalen Egoismen drehen sie sich nächte- und tagelang im Kreis, bis irgendwann nur der kleinste gemeinsame Nenner übrig bleibt, den dann alle erschöpft abnicken. Visionäre Strategien? Kraftvolle Konzepte? Haben so keine Chance. Der Mut, die besten Kandidaten auf die passenden Posten zu befördern? Längst beerdigt.

Für eine Organisation, die sich vorgenommen hat, nicht nur den Weltmächten Amerika und China die Stirn zu bieten, sondern auch transparenter zu werden, näher an die Bürger heranzurücken, die politischen Entscheidungen aus den Hinterzimmern zu holen und demokratisch zu legitimieren, ist der Geschachermarathon um die EU-Spitzenämter ein Armutszeugnis. "Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun", schrieb einst ein anderer Franzose, der Dramatiker Molière. Präziser lässt sich das Drama in Brüssel nicht zusammenfassen.


Eine deutsche Kapitänin eines Seenotretters nimmt afrikanische Migranten an Bord, darf sie aber nicht nach Italien bringen, weil dessen Innenminister die Häfen für Flüchtlingsboote gesperrt hat. Carola Rackete widersetzt sich, steuert Lampedusa an und wird zeitweise festgenommen. Soweit die Fakten. Ihre Deutung ist ungleich komplexer. Das Drama um die "Sea-Watch 3" berührt nicht nur viele Leserinnen und Leser – die einen empören sich über die Kaltherzigkeit der italienischen Regierung, die anderen über den Alleingang der Kapitänin –, es offenbart auch die zynische Absurdität der europäischen Mittelmeerpolitik: Weil die Staats- und Regierungschefs sich seit Jahren nicht auf eine strikte, aber menschenwürdige und praktikable Linie in Migrationsfragen einigen können, überlassen sie der populistischen Regierung in Rom das Feld. Beziehungsweise das Meer. Innenminister Salvini mag formal im Recht sein, wenn er Flüchtlingsboote abweist. Aber europäische Werte tritt er mit Füßen.

Wohlgemerkt: Es geht hier nicht darum, möglichst vielen Afrikanern den ungeregelten Zugang zu Europa zu ermöglichen oder das schmutzige Geschäft der Schlepper zu unterstützen. Es geht schlicht und einfach darum, dass man Hilfsbedürftige auf dem Meer weder im Stich lassen noch sie einfach nach Libyen zurückschicken darf, wo ihnen gegenwärtig schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. "Wir befinden uns in einem ethischen Dilemma, weil die humanitäre Hilfe einerseits Pflicht ist, andererseits von Schleppern als Argument ausgenutzt wird, um weitere Menschen in die Schlauchboote zu holen und damit ihr Leben zu gefährden", sagt NRW-Integrationsminister Joachim Stampf. "Bis es allerdings eine geordnete Migrationspolitik gibt, … bleibt die Verpflichtung, niemanden einfach sterben zu lassen."

Die EU wirkt auf viele Migranten wie ein Magnet. Zugleich hat sie durch ihre Handelspolitik jahrzehntelang afrikanische Staaten übervorteilt. Aus beiden Gründen erwächst die Verantwortung, endlich eine verantwortungsvolle Migrationspolitik durchzusetzen. Das ist schwer, aber möglich. Und es gibt kluge Köpfe, die uns erklären können, wie sie funktioniert. Gerald Knaus zum Beispiel, der Architekt von Merkels Türkei-Abkommen. Es brauche vier Dinge, sagt er: gemeinsame Aufnahmezentren der EU-Staaten, schnellere Asylverfahren, Rücknahmeabkommen und attraktive Einreisekontingente für die Herkunftsländer. Seinen Plan hat er schon vor Jahren erklärt. Aber bis die EU-Chefs ihm in allen Punkten folgen, werden wir wohl noch viele Dramen auf dem Mittelmeer sehen.

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WAS STEHT AN?

Warum fallen so viele Bundeswehr-Maschinen vom Himmel? Spielen auch Technikmängel eine Rolle? Die Ermittlungen nach den Abstürzen der Kampfjets in Mecklenburg-Vorpommern und des Hubschraubers in Niedersachsen laufen auf Hochtouren.


Der Berliner Senat stellt heute sein Modellprojekt zum solidarischen Grundeinkommen vor. Es soll Hartz IV ersetzen. Wie es funktionieren könnte, erklärt meine Kollegin Sabrina Manthey.


WAS LESEN UND ANSCHAUEN?

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WAS AMÜSIERT MICH?

Oh, in Bremen hat jemand seinen Job verloren! Was macht der gute Mann denn jetzt?

Ich wünsche Ihnen einen beherzten Tag. Morgen früh schreibt mein Kollege Florian Wichert den Tagesanbruch, ich bin ab Donnerstag wieder für Sie da.

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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