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Flüchtlingsdrama an der EU-Grenze – Angst ist keine Strategie


Was heute wichtig ist
Angst ist keine Strategie

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 06.03.2020Lesedauer: 5 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Hilfsorganisationen versorgen die Flüchtlinge und Migranten an der türkisch-griechischen Grenze allenfalls mit dem Nötigsten.Vergrößern des Bildes
Hilfsorganisationen versorgen die Flüchtlinge und Migranten an der türkisch-griechischen Grenze allenfalls mit dem Nötigsten. (Quelle: Mohssen Assanimoghaddam/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Ich bin ein Freund des Wortes, aber manchmal sagen Bilder mehr als Worte. Schauen wir also auf die Bilder aus dem türkisch-griechischen Grenzgebiet bei Edirne, wo knapp 20.000 Flüchtlinge aus Syrien sowie Migranten aus anderen Ländern gestrandet sind:

  • Die Menschen hausen in erbärmlichen Notlagern.
  • Sie schützen sich notdürftig gegen Regen und Kälte.
  • Griechische Soldaten patrouillieren an der Grenze.
  • Die Grenze ist hermetisch abgeriegelt.
  • Ein Mann zeigt Tränengas- und Blendgranaten, die Polizisten auf die Migranten gefeuert haben.
  • Einige der Migranten sind ins Niemandsland zwischen den beiden Staaten vorgedrungen.
  • Ein erschöpfter Mann schläft auf dem Boden vor dem Grenzzaun.
  • Auch dieses Flüchtlingsmädchen aus Syrien ist an Europas Grenzen gestrandet.
  • Hilfsbedürftige im Ort Kastanies warten auf eine Essensausteilung.

Das ist Europas Außengrenze im März 2020: ein Schutzwall gegen Hilfsbedürftige, eine Festung gegen Kinder, Frauen und Männer. Ein verrammelter Kontinent.

Hier vegetieren die vielen Menschen, die im Grenzgebiet eingeklemmt sind: hinter sich türkische Soldaten, vor sich griechische Polizisten, Tränengas und Stacheldraht. Sie hoffen auf einen friedlichen Zufluchtsort in Europa, aber Europa zeigt ihnen ein erbarmungsloses Gesicht. Meine Kollegin Nathalie Helene Rippich hat die dramatische Lage knapp zusammengefasst.

Die Bilder rufen hierzulande unterschiedliche Reaktionen hervor. Die Grünen wollen schnell helfen und die Menschen einreisen lassen. Die SPD will auch helfen, aber erst, wenn andere EU-Staaten mitmachen. Bundesinnenminister Seehofer von der CSU will nur einige Tausend Kinder aufnehmen. Die vor der AfD zitternde CDU traut sich nicht mehr, irgendwas zu wollen, das mit Flüchtlingen zu tun hat. Das Gros der Bevölkerung ist da schon weiter: In einer Umfrage für das Nachrichtenmagazin "Focus" meinen 63 Prozent der Befragten, dass sich Deutschland auf die Aufnahme neuer Flüchtlinge vorbereiten sollte. Weniger als ein Drittel findet, dass wir niemanden mehr aufnehmen können.

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Natürlich: Einen staatlichen Kontrollverlust wie 2015 darf es nicht mehr geben, auch eine ungeregelte Einwanderung nicht. Aber Deutschland ist finanziell und organisatorisch in der Lage, gemeinsam mit weiteren EU-Staaten jetzt schnell notleidende Syrer aufzunehmen. Allein: Das reicht nicht. Ebenso wichtig ist es, dass sich die Bundesrepublik endlich engagierter dafür einsetzt, Krisen wie in Syrien gar nicht erst so weit eskalieren zu lassen, dass Hunderttausende Menschen fliehen müssen. Dafür bräuchte die EU eine strategische, selbstbewusste und vor allem gemeinsame Außenpolitik. Die kann nur entstehen, indem die Bundesregierung weltpolitische Verantwortung übernimmt und vorangeht, gemeinsam mit Frankreich. Davon kann bisher keine Rede sein, stattdessen schlittern wir immer wieder sehenden Auges in Krisen hinein – in Syrien, in Libyen, nun im türkischen Grenzgebiet. Kommt es zur Eskalation – durch Kämpfe, durch Massenflucht oder weil ein Autokrat wie Herr Erdogan plötzlich die Spielregeln ändert –, reagiert man mit hektischer Ad-hoc-Diplomatie, organisiert einen Krisengipfel mit fragwürdigem Ertrag, reist aufgeregt zwischen Brüssel, Berlin und Ankara hin und her oder schreibt wohlklingende Appelle. Das kann man alles machen. Aber es ersetzt keine Strategie.

"Von einer Strategie kann, befürchte ich, noch nicht gesprochen werden", räumt Norbert Röttgen, führender Außenpolitiker im Bundestag und Kandidat für den CDU-Vorsitz, im Interview mit meinem Kollegen Tim Kummert und mir ein. "Zum Beispiel gäbe es ohne Russland den Krieg gegen die Menschen in Idlib nicht, Assad allein wäre dazu nicht in der Lage. Doch verschiedene europäische Außenminister haben es in den vergangenen Wochen bei bloßen Appellen an Putin belassen. Solange Putin für seine Eroberungspolitik keinen Preis bezahlen muss, wird ihn das schwerlich beeindrucken. Genau das können und müssen die Europäer ändern."

Müssen: ja. Aber können Sie auch? Ich gestehe: Ich habe in diesen Tagen nicht zum ersten Mal den Eindruck, dass im deutschen Außenministerium, aber auch im Kanzleramt das Wort Strategie keine große Rolle spielt. So kann das nicht weitergehen. In Idlib warten weitere 100.000 Flüchtlinge – und es ist unwahrscheinlich, dass die gestern zwischen Erdogan und Putin vereinbarte Waffenruhe wirklich hält. In Libyen bekämpfen sich die Warlords immer noch – und Moskau, Ankara und Abu Dhabi heizen den Krieg weiter an. Hinzu kommt der Migrationsdruck durch das schnelle Bevölkerungswachstum in Afrika – und stets ist Europa das Ziel, mit Deutschland in der Mitte. Auf all diese und viele weitere drängende Fragen braucht es grundsätzliche Antworten. Da reicht es nicht, die Tore zu verrammeln, "bleibt bloß weg!" zu rufen und den Menschen in ihrem Elend zuzusehen. Wer Strategie durch Hasenfüßigkeit und Zynismus ersetzt, wird am Ende scheitern. Dann könnten wir noch viel öfter Bilder wie oben sehen.

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WAS STEHT AN?

Die EU-Außenminister kommen heute Morgen in Zagreb zu einem Sondertreffen anlässlich des Syrien-Konflikts zusammen. Da können sie mit dem Strategieschmieden ja gleich mal anfangen.

Ebenso übrigens wie die EU-Gesundheitsminister, die in Brüssel über eine gemeinsame Linie gegen das Coronavirus beraten.


WAS LESEN?

Apropos Coronavirus: Aus Angst vor Quarantänen decken sich viele Bürger mit Klopapier, Nudeln und Konserven ein. Obwohl der Handel beteuert, es gebe keine Lieferengpässe, sind die Regale in vielen Supermärkten leer. Meine Kollegen Tim Blumenstein und Mauritius Kloft haben nachgeforscht, wer die Leidtragenden der Hamsterkäufe sind – und wer von der Panik profitiert.

Doch auch wer nicht in Panik ausbricht, macht sich vielleicht Sorgen: Wie kann ich mich vor dem Virus schützen? Soll ich jetzt etwa Senioren nicht mehr besuchen? Gibt es noch Desinfektionsmittel? Die Fragen unserer Leserinnen und Leser beantwortet der Apotheker Axel Trischmann in unserem Videoformat "Frag mich".


Iris Berben wird im August 70 Jahre alt – im Kopf fühlt sie sich aber wie 18, hat sie meiner Kollegin Janna Halbroth im Interview verraten. Energiegeladen schwärmte sie von ihrer Generation: "Wir sind da. Wir fordern."


Haben Sie schon mal per E-Mail dubiose Werbeangebote erhalten? Schreibt Ihnen Ihre Bank regelmäßig, dass Sie Ihr Onlinebanking-Konto aktualisieren müssen? Oder hat Ihnen ein Anwalt schon mal per E-Mail ein Millionenerbe versprochen? Dann sind Sie nicht allein: Derlei Nachrichten landen jeden Tag milliardenfach in E-Mail-Postfächern. Wer steckt dahinter? Mein Kollege Ali Roodsari wollte es wissen und hat sich auf eine ungewöhnliche Recherche begeben. Sie führte ihn zu … ach, lesen Sie selbst.


WAS AMÜSIERT MICH?

Ach ja, diese Corona-Panik…

Ich wünsche Ihnen einen sorgenfreien Tag. Wenn Sie den Tagesanbruch als Newsletter abonniert haben, bekommen Sie morgen früh die Wochenendausgabe geschickt. Mein Kollege Marc Krüger und ich freuen uns auf Ihre Ohren. Kommende Woche werden meine lieben Stellvertreter Peter Schink und Florian Wichert Sie bedienen. Ich bin dann ab Montag, den 16. März, wieder für Sie da und bringe einen ganz besonderen Interviewpartner mit.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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