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Bundestagswahl: Jamaika-Koalition? Das Märchen vom gemeinsamen Projekt


Tagesanbruch
Das Märchen vom gemeinsamen Projekt

  • Peter Schink
MeinungVon Peter Schink

Aktualisiert am 30.09.2021Lesedauer: 6 Min.
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Quelle: Heike Aßmann/T-Online-bilder

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

die FDP und die Grünen haben aus den gescheiterten Koalitionsverhandlungen von 2017 zumindest eine Sache gelernt: Es gibt ikonische Bilder, die weit über den Moment hinauswirken. Das Selfie, das Volker Wissing, Christian Lindner, Annalena Baerbock und Robert Habeck vorgestern vor unscheinbarem Hintergrund gemacht haben, ist so eines. Die Beteiligten wissen, sie manifestieren damit ihre Position, sie prägen einen Stil, sie senden ein Signal. In die Öffentlichkeit und in ihre eigenen Parteien. Geschlossenheit, Gestaltungsfreude, Wille zur Macht. All das soll dieses Bild ausstrahlen.

Positiv ausgedrückt: Beide Parteien wissen, dass die Jamaika-Verhandlungen vor vier Jahren an ihrer Zerstrittenheit gescheitert sind. Das wollen sie diesmal vermeiden. Das ist gut so.

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Doch das Bild der Vierergruppe wirkt ungewohnt, etwas irritierend. Da nehmen die vormals kleinen Parteien das Heft des Handelns in die Hand, einigen sich vielleicht vorab auf zentrale Themen. Armin Laschet und Olaf Scholz verkommen für einen Moment zu Randfiguren. Das ist natürlich bis zu einem gewissen Grad ein Zerrbild der Realität. Am Ende wird die Richtlinienkompetenz ausschließlich beim Kanzler liegen und der größere Koalitionspartner wird ein gehöriges Stück die Realpolitik prägen.

Doch der öffentlichkeitswirksame Coup ist Grünen und FDP gelungen.

Politik kann man getrost vom Ende her denken. Egal, ob Deutschland im Jahr 2022 von einer Jamaika-, Ampel- oder Großen Koalition regiert wird, die Herausforderungen sind für jede Regierung dieselben. Wir sind eine alternde Gesellschaft mit einer schwerfälligen Verwaltung und einem riesigen Reformbedarf bei Klima, Digitalisierung, Verwaltung, Verkehr, Gesundheitswesen, Bildung, Europa, Demografie. Die Liste ist lang.

Bei all diesen Themen war im Kanzleramt schon lange kein Gestaltungswille mehr zu spüren.

Alle Parteien haben sich im Wahlkampf glaubhaft dazu bekannt, die drängenden Herausforderungen auch wirklich angehen zu wollen. Egal, welche Koalition am Ende regiert, ein Weiter-so wird es nicht geben können. Das wird unbequem. Für uns Bürger und für die Koalitionäre, die für Veränderungen Mehrheiten suchen müssen. Der "Wind der Veränderung" (O-Ton Armin Laschet) kann da schnell zum Orkan werden, der jede Regierung aus dem Amt fegt.

Erinnern Sie sich? Die Union wolle Beständigkeit im "Wind der Veränderung" bieten, hatte Laschet im Schlussplädoyer des ersten TV-Triells gesagt. Ein Stück weit sprach er damit eine Selbstverständlichkeit aus: Politik kann Veränderungen nur durchsetzen, wenn sie alle auf den gemeinsamen Weg mitnimmt. Dafür gibt es zwei mögliche Varianten. Die erste kann man getrost den Gerhard-Schröder-Ansatz nennen: Man versuche, möglichst viele Menschen von einer Reform zu begeistern und kalkuliere ein, dass ein Teil der Bevölkerung trotzdem bockig zurückbleibt. Das hat Schröder bei Hans Eichels Sparpaket (1999) und bei der Agenda 2010 (2003) so versucht. Zweitens gibt es den, nennen wir ihn einfach Angela-Merkel-Pfad: Man versuche, möglichst wenig Widerstand zu provozieren, indem man eine Sache als selbstverständlich darstellt und sagt, dass alles so dramatisch gar nicht wird. Dieser Regierungsstil prägte nahezu alle großen Vorhaben der letzten Jahre: Atomausstieg, Flüchtlingskrise, Rentenreformen etc.

Oftmals versuchten Regierende eine Mischung aus beiden Wegen. Helmut Kohl hat das einst bei der Wiedervereinigung so gemacht. Er begeisterte für blühende Landschaften und suggerierte zugleich, so teuer werde das alles nicht werden. Laschet würde heute sagen, Kohl warb mit "Beständigkeit im Wind der Veränderung".

Egal, wie die künftige Koalition für ihre Vorhaben werben will: Nötig ist, dass ein Großteil der Menschen die Herausforderungen ähnlich sieht und dann Veränderungen mitträgt. Die Massendemonstrationen gegen die Hartz-IV-Gesetze gab es nur, weil Gerhard Schröder ignoriert hatte, dass ein erklecklicher Anteil der Bevölkerung seine Sicht der Dinge nicht teilte. Er hatte nicht vermocht, sie mitzunehmen.

Und dann werfen wir einen Blick auf die Wahlkreiskarte, das Erststimmenergebnis der Bundestagswahl vom Sonntag. Was fällt sofort auf?

Es dürfte keiner Partei entgangen sein, was dieser bunte Flickenteppich für die künftige Regierung bedeutet. Ein Grauen für Regierungshandeln. In den Städten gewinnen die Grünen, in Sachsen und Thüringen die AfD, im Norden die SPD, im Süden die Union. Deutschland ist mehrfach geteilt. Im Osten denken und fühlen wir anders als im Westen, eine junge Stadtbevölkerung demonstriert für radikale Lösungen in der Klimakrise, und auf dem Land fürchten wir die wegbrechende Infrastruktur. Wir sind ein Volk mit unterschiedlichsten Ansichten, und die Gemeinsamkeiten schwinden. Und dann sagen 60 Prozent in einer Umfrage, dass sie kein Vertrauen mehr in die Politik haben.

Die neue Regierung muss also nicht nur die "Weichen für die Zukunft stellen" (wie die Grünen das formulieren). Und nicht nur ein "gemeinsames Projekt" formen. Sie muss unterschiedlichste Menschen für den Wandel gewinnen. Im Osten, im Westen. In den Städten, auf dem Land. Junge und Alte. Reiche und Arme. Angestellte und Selbstständige.

Das Problem dabei: Uns verbindet nur wenig und trennt vieles.

Als die Bundesrepublik nach dem Krieg gegründet wurde, einte alle der Wille zum Wiederaufbau. Als Helmut Kohl zum Kanzler der Einheit gewählt wurde, versammelten sich alle hinter der Idee einer geeinten Republik.

Und im Jahr 2021? Wir brauchen keine Regierung der Reformen. Wir brauchen eine Regierung, die Menschen durch eine Idee eint. Im Kern ist es einfach. Wir alle wollen ein lebenswertes Deutschland, jetzt und in Zukunft. Im Detail aber ist es eine Mammutaufgabe für die neue Regierung, das für alle Menschen im Land annehmbar auszugestalten. FDP und Grüne strahlen derzeit zumindest aus, dass sie sich dieser Aufgabe stellen wollen.

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Was für ein Wahnsinn

Sechs Jahre hat die Überholung gedauert. Heute nun endlich erhält die Marine die "Gorch Fock" in Wilhelmshaven zurück. Einfach so, ohne jegliches Begleitprogramm. Statt 10 Millionen hat die Bundeswehr 135 Millionen Euro für die Reparatur bezahlen müssen. Das ist, als würde eine Autoreparatur statt der veranschlagten 1.000 Euro auf einmal 13.500 Euro kosten. Was für ein Wahnsinn.

In doppeltem Sinne. Denn die Soldaten der Marine werden noch nicht einmal glücklich darüber sein, ihr Schulschiff zurückzubekommen. Innerhalb der Bundeswehr gibt es seit Jahren eine Diskussion darüber, ob die Ausbildung auf einem Segelschiff überhaupt noch sinnvoll ist. Vieles lässt sich dort genau nicht lernen.

Und wenn Sie sich jetzt fragen, ob man für 135 Millionen Euro nicht einfach ein neues Schiff hätte kaufen können ... hätte man. Aber so eine Entscheidung hätte das Verteidigungsministerium schon viel früher treffen müssen.


Fesselnde Bilder

Es gibt Bilder, die fesseln einen. Die Videos vom Tornado gestern Abend in Kiel sind so welche. Man kann gar nicht mehr wegschauen.

Die Nachrichten dazu sind schockierend. Mehrere Verletzte, vier davon schwer. Die Menschen wurden einfach durch die Luft gewirbelt und ins Wasser geschleudert. Den "Kieler Nachrichten" erzählte ein Feuerwehrmann, zuletzt habe es so etwas in den Siebzigerjahren in Kiel gegeben.

Unsere Meteorologin Michaela Koschak kann zwar erklären, wie das Wetterphänomen entsteht. Ob es durch die Klimakrise mehr Tornados gibt, wie zuletzt im August in Ostfriesland oder im Frühjahr in Tschechien, ist nicht sicher. Hoffen wir, dass es nicht so ist.


Was lesen?

Ab heute können wir "Keine Zeit zu sterben" endlich im Kino sehen. Wie aber kam einst Ian Fleming auf die Abenteuer von "007"? Manches hatte er im Kampf gegen die Nazis selbst erlebt. Warum der Vater von James Bond selbst ein "007" war, hat unser Autor Lars Winkelsdorf aufgeschrieben. Mein Kollege Steven Sowa hat außerdem mit Hauptdarsteller Daniel Craig gesprochen – und die teils erstaunliche Selbstkritik in einen Text fließen lassen, der auch die Eindrücke aus dem neuesten "007"-Abenteuer verarbeitet.


83 AfD-Politiker wurden in den Bundestag gewählt. Darunter sind Hitler-Fans, Hooligans, Rechtsextremisten – und zwar in hoher Zahl. Annika Leister, Jonas Mueller-Töwe und Nora Schiemann stellen Ihnen den neuen rechten Rand im Parlament vor.


Einigt sich der US-Kongress am heutigen Donnerstag nicht auf einen Haushalt, geht den Vereinigten Staaten um Mitternacht buchstäblich das Geld aus. Der sogenannte "Shutdown" hat Folgen für die ganze Welt. Doch die Republikaner bleiben dabei und blockieren Joe Bidens Plan für höhere Schulden. Unser US-Korrespondent Bastian Brauns erklärt, warum sogar die Präsidentschaft auf der Kippe steht.


Seit Beginn der Corona-Impfungen werden viele Symptome als mögliche Nebenwirkungen diskutiert. Das Paul-Ehrlich-Institut berichtet nun über Verdachtsfälle von Gürtelrose. Ob die Erkrankung tatsächlich eine Folge der Impfung oder Zufall sein könnte und was Sie bei ersten Anzeichen tun sollten, hat meine Kollegin Melanie Rannow zusammengefasst.


Was mich amüsiert

Das obige Selfie gleich noch mal. Doch Moment, die Gesichter sehen etwas anders aus. Die vier mit geöffneten Mündern? Es handelt sich um einen Deep Fake, so der Fachjargon. Seit gestern kursieren im Internet gleich mehrere Internet-Hits. Unsere Video-Redaktion hat die besten zusammengeschnitten. Anschnallen ab Sekunde 0:22. Und im Original hier, hier oder hier.

Ich wünsche einen spannenden Donnerstag. Morgen schreibt Florian Harms wieder an dieser Stelle.

Ihr

Peter Schink
Stellvertretender Chefredakteur t-online.de

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