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Ukraine-Krise: Putins fieses Spiel – Bundesregierung muss Haltung zeigen


Tagesanbruch
Putins perfider Plan

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 26.01.2022Lesedauer: 6 Min.
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Ein russischer Soldat feuert einen Mörser ab.Vergrößern des Bildes
Ein russischer Soldat feuert einen Mörser ab. (Quelle: Uncredited/Russian Defense Ministry Press Service/AP/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

wenn Russlands Präsident die Weltlage kommentiert, ist das immer für eine Überraschung gut. Anerkennende Worte fand Wladimir Putin zum Beispiel für die Europäische Union. "Was die europäische Integration betrifft, so unterstützen wir nicht einfach nur diese Prozesse, sondern sehen sie mit Hoffnung", flötete der Kremlchef bei seiner bemerkenswerten Ansprache und befand: "Eine der Errungenschaften des vergangenen Jahrzehnts war die beispiellos niedrige Konzentration von Streitkräften und Waffen in Mitteleuropa und in der baltischen Region." Nein, bei der Übersetzung hat sich kein Fehler eingeschlichen. Putin hat das sogar auf Deutsch gesagt, am Rednerpult im Bundestag. Es ist nur leider schon zwei Jahrzehnte her.

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Inzwischen hat sich die Lage vollständig geändert. An den Grenzen zur Ukraine türmt sich russisches Kriegsmaterial so hoch wie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr. Der bloße Gedanke, dass Russlands Nachbar sich der EU weiter annähern könnte, bringt Putin auf die Palme, von einem Nato-Beitritt ganz zu schweigen. Die Gefahr eines großen Krieges ist nach Europa zurückgekehrt. Von der Westannäherung Russlands dagegen sind nicht einmal mehr die rauchenden Trümmer übrig.

Die Bundesregierung allerdings wirkt von dem Wandel immer noch überrumpelt. Hektisch sondiert sie Sanktionsmöglichkeiten und grübelt über die Lieferung militärischer Güter an die Ukraine, Helme, Schutzwesten und so weiter. Von einer klaren Haltung sind SPD, Grüne und FDP so weit entfernt wie Kiew von Berlin.

Es ist einfach, sich über das Herumlavieren zu mokieren, aber wir sollten fair bleiben. Antworten auf die eskalierende Ukraine-Krise lassen sich tatsächlich nicht einfach finden. Die USA, Großbritannien und die baltischen Staaten schicken eiligst Waffen nach Kiew. Sollte Russland in den kommenden Wochen einen Angriff auf die Ukraine beginnen, haben die hektischen Lieferungen nach Ansicht der meisten Experten zwar keinen Einfluss auf den Kriegsausgang. Die Waffen treiben jedoch die Zahl der Opfer in die Höhe. So betrachtet ist es zynisch, sich an diesem blutigen Spiel zu beteiligen. Nach dieser Logik bräuchten die ukrainischen Streitkräfte allerdings gar nicht erst anzutreten, denn sie unterliegen ja sowieso.

Dass die Ukrainer sich kampflos ergeben, glaubt aber nun wirklich niemand. Im Gegenteil: Russische Invasoren würden auf erbitterten Widerstand stoßen. Waffen in die Ukraine zu schicken, dient demnach vor allem der Abschreckung. Falls Russland dennoch seine Panzer losschickt, wäre es wiederum zynisch, den Opfern der Aggression Unterstützung zu versagen. Und als wäre das alles nicht schon vertrackt genug, liegt auch noch die Last der Geschichte auf jeder Entscheidung: Deutschland hat in Russland Millionen Tote zu verantworten, in der Ukraine aber auch. Was also kann die Bundesregierung tun?

Als Erstes könnte sie aufräumen. Seit Wochen hagelt es Analysen, in denen man erfährt, was angeblich in Putins Oberstübchen vor sich geht und was er als Nächstes tut. Truppenbewegungen werden zerpflückt und daraus Absichten erschlossen. So viel wird geschrieben, dass man mittlerweile eher unschärfer als klarer sieht. Lassen Sie mich die komplizierte Situation wie folgt zusammenfassen: Wir wissen nicht, was Putin plant. Punkt. Selbst detaillierte Beobachtungen und spitzfindige Analysen ändern daran nur wenig. Denn bis kurz vor Beginn eines Angriffs sind die Vorbereitungen von einem perfekten Bluff nicht zu unterscheiden. Die Drohkulisse ist offensichtlich. Dass nichts dahintersteckt, kann man nicht behaupten.

Bei Briten und Amerikanern überschlagen sich inzwischen die Warnungen vor dem unvermeidlichen Krieg. Die Franzosen sehen die Sache eher cool. In der Ukraine selbst ist einerseits von einer "Hysterie" westlicher Politiker die Rede, zugleich werden Waffenlieferungen dringend verlangt. Putin streitet alles ab. In Russland rechnen viele Menschen nicht mit einem Krieg, aber die Börse und der Rubel sind im freien Fall. Auch die Experten sind sich uneins, wie die Lage zu bewerten ist. Die Szenarien sind vielfältig. Denkbar ist zum Beispiel eine Besetzung der östlichen Hälfte der Ukraine oder eine Annexion der Regionen an der Grenze zu Russland. Auch eine kurze Intervention mit schnellem Abzug wäre möglich. Außerdem Varianten und Kombinationen von alledem. Vielleicht sind wir aber auch nur Zeugen eines Pokerspiels ohne echte Interventionsabsicht.

Um in einer so verwirrenden Lage auf einen grünen Zweig zu kommen, muss man durch das Gestrüpp der Möglichkeiten eine Schneise schlagen. Zu einem Urteil kann man nämlich trotzdem gelangen. Der Truppenaufmarsch rund um die Ukraine ist als Drohgebärde gemeint, und das ist nicht zu tolerieren. Putin wittert eine Chance, erklärt der Militärexperte Gustav Gressel im Interview mit meinem Kollegen Patrick Diekmann. Der Kremlchef setzt auf Krieg – vielleicht mit einem verheerenden Angriff, vielleicht auch bloß als Verwirrspiel. Es ist ein perfider Plan, denn mit beidem ist die rote Linie zivilisierter Politik überschritten. Man muss nicht warten, bis der erste Panzer über die Grenze rollt.

Schauen wir uns links und rechts ein bisschen weiter um, verfestigt sich der Eindruck: Seit Jahren attackieren Putins Trolle die Demokratien des Westens, streuen Desinformation, zersetzen und spalten. Putin ist schon lange kein Partner mehr, außer beim Geschäft. Er ist zum Gegner geworden – einem, der heimlich und offensiv agiert. Der konziliante Kurs Deutschlands hat sich nicht ausgezahlt. Es geht deshalb bei dem aktuellen Konflikt nicht nur um die Ukraine. Es geht auch um uns.

Die Bundesregierung muss sich entscheiden, welche Rolle sie spielen will: Sieht sie sich als Vermittler oder will sie Partei ergreifen? Bisher hat Deutschland sich am liebsten ausgleichend betätigt und die verfeindeten Lager an einen Tisch gebracht. Das ist verdienstvoll. Doch dass unsere Regierung so sehr zögert, entschlossen Position gegen Russland zu beziehen, richtet unter unseren Verbündeten massiven Schaden an. Im Osten der Nato ist das Vertrauen in Deutschland dahin. Und in Washington auch, wie unser US-Korrespondent Bastian Brauns berichtet. Das geht nicht lange gut.

Deshalb ist jetzt nichts so wichtig wie ein klarer Kurs: Bevor die Bundesregierung entscheidet, ob sie die Ukraine mit Helmen oder gar Waffen beliefert, ob sie Russlands Drohgebärden mit Sanktionen beantwortet, was Frau Baerbock sagt und was Herr Scholz, muss sie Position beziehen: Wo wollen wir hin? Welche Rolle soll Deutschland gegenüber Russland spielen, jetzt und in Zukunft? Es hilft, sich dazu an Putins Worte im Bundestag zu erinnern – mit Wehmut. Denn sie stammen aus einer anderen Zeit. Und die ist vorbei.

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Mit Material von dpa.

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