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Ukraine-Krieg löst eine Kettenreaktion aus: Droht die nächste Flüchtlingswelle?


Tagesanbruch
Machen wir uns auf etwas gefasst

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 15.06.2022Lesedauer: 6 Min.
Meinung
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Ein US-Soldat in einem Helikopter eskortiert eine Lebensmittellieferung in Somalia.Vergrößern des Bildes
Ein US-Soldat in einem Helikopter eskortiert eine Lebensmittellieferung in Somalia. (Quelle: imago-images-bilder)

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Ich erinnere mich noch gut an das seltsame Gefühl: Irgendetwas war anders. Zunächst wusste ich nicht, was. Ich kannte Syrien ja gut, hatte es mehrmals bereist und Ende der Neunzigerjahre dort studiert. Als ich nun Ende des Jahres 2009 wieder durch Damaskus und Aleppo schlenderte, waren die Basare, Gassen, Moscheen und Kirchen natürlich immer noch schön, die Menschen immer noch herzlich und zuvorkommend. Aber etwas war anders. Erst beim Einkauf fiel es mir auf, und so richtig klar wurde es mir in einem Gespräch mit meiner ehemaligen Hauswirtin: Die Lebensmittelpreise waren seit meinem letzten Besuch drastisch gestiegen. Fleisch war für viele Familien plötzlich unerschwinglich, aber auch Gemüse, Hülsenfrüchte und sogar das tägliche Brot waren sehr teuer.

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Das kam nicht von ungefähr. Mehrere Dürrejahre mit geringen Ernten, Spekulationen von Finanzzockern an den Rohstoffbörsen in Amerika und Europa sowie Zigtausende Flüchtlinge aus dem kriegsversehrten Irak ließen die Preise explodieren. In vielen Dörfern fehlte es am Nötigsten. In der Folge zogen Syrer massenhaft vom Land in die Städte, wo sie in überfüllten Vierteln immer enger beieinander hausten. Viele Menschen kämpften ums schiere Überleben, der soziale Druck stieg rapide.

Als sich Protest erhob, auch ermutigt durch die Revolutionen in Tunesien und Ägypten, schlug das Regime brutal zu. So begann der syrische Bürgerkrieg, der mehr als 350.000 Menschenleben kostete, Städte und Dörfer verwüstete, auch Nachbarländer wie den Libanon und Jordanien an den Rand des Abgrunds riss, die Türkei destabilisierte, die europäische Flüchtlingskrise 2015 auslöste. Bis heute prägt die Tragödie die Levante.

Ein ähnliches Szenario droht nun abermals. Die Ukraine gehört in normalen Zeiten zu den größten Getreideexporteuren der Welt, ihre Lieferungen versorgen bis zu 400 Millionen Menschen in Afrika, Arabien und Asien. Doch wegen des russischen Angriffskrieges und der Seeblockade im Schwarzen Meer können mehr als 20 Millionen Tonnen Weizen nicht aus dem Land geschafft werden und drohen in den Silos zu vergammeln. Eine gigantische Menge Korn; mehr als 50 arme Länder ließen sich damit versorgen. "Lebensmittel sind zu einem Teil des Terrorarsenals des Kremls geworden", sagt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.

Außerdem fehlt es Hilfsorganisationen an Geld, um die Ärmsten der Armen zu versorgen. Die Vereinten Nationen beziffern den Mangel auf 45 Milliarden Dollar allein in diesem Jahr. UN-Generalsekretär António Guterres warnt vor einem "Wirbelsturm des Hungers", und der Chef des World Food Programmes, David Beasley, sekundiert: "Wenn wir nicht sofort handeln, werden wir in den kommenden Monaten Hungersnöte sehen. Wir werden die Destabilisierung ganzer Nationen sehen. Und wir werden Massenmigration sehen."

Gleichzeitig boomen an den internationalen Börsen die Spekulationsgeschäfte mit Agrarprodukten. Weizen-Rohstoff-Fonds beispielsweise haben ihren Wert seit Ende Februar verfünffacht. Die Zocker werden immer reicher, die Armen hungern, und die Preise für Brot, Mais, Hülsenfrüchte steigen höher und höher. Es erinnert alles fatal an die Situation vor Ausbruch des Syrienkrieges Anfang 2011. Deutsche Regierungspolitiker warnen vor einer weiteren Destabilisierung Ägyptens, Jordaniens, Libyens.

Darauf sollten wir uns auch in Westeuropa gefasst machen. Wir erleben, wie fragil unsere Welt geworden ist. Zwar hat die Globalisierung die Armut im globalen Maßstab stark verringert, doch zugleich hat die Vernetzung die gegenseitige Abhängigkeit verstärkt. Bei acht Milliarden Menschen führt das unweigerlich dazu, dass ein Konflikt in einem Teil der Welt plötzlich eine Krise in einer ganz anderen Region auslösen kann. Das Problem wird auch nicht dadurch gelöst, dass Moskau nun nach Vermittlung der Türkei zugesagt hat, die Seeminen vor der ukrainischen Hafenstadt Odessa zu räumen und Getreidefrachtern Geleitschutz zu geben. Der Kreml hat schon zigmal das eine behauptet und das andere getan, Lügen gehören zur taktischen Kriegsführung des Regimes.

Was ist zu tun? Weitere Verhandlungen mit den Russen, klar. Die Agrarmärkte offen halten, statt Exportstopps für Getreide zu verhängen, wie Indien es getan hat. Weitere Flächen in Europa für den Getreideanbau freigeben und die Fruchtfolge durch Dünger erhöhen (was zumindest kurzfristig leider im Widerspruch zum Artenschutz steht). Vorübergehend E10-Benzin mit der Bioethanol-Beimischung aus Getreide, Mais und Zuckerrüben vom Markt nehmen (was zumindest zeitweise leider den CO2-Wert des Autoverkehrs erhöht). Hilfsorganisationen mit mehr staatlichem Geld ausstatten, damit sie die Menschen in den Hungerregionen mit Ersatznahrung versorgen können. Und ja, auch private Spenden helfen.

Der russische Angriffskrieg stürzt nicht nur die Ukraine, sondern auch Teile Afrikas, Arabiens, Asiens ins Elend. Dieses Elend anzuprangern ist wichtig. Aber es reicht nicht. Es braucht jetzt schnell pragmatische Lösungen, um Zigtausende Menschen vor dem Hungertod zu bewahren.


Was steht an?

Morgen will der Bundeskanzler gemeinsam mit Frankreichs Präsidenten Macron, Italiens Ministerpräsidenten Draghi und dem rumänischen Präsidenten Johannis nach Kiew reisen. Wie genau er da eigentlich hinkommt und was er dort erreichen kann, erfahren Sie hier. Die Ukrainer erwarten eine konkrete Antwort auf ihren Wunsch, der Europäischen Union beizutreten. Bis Freitag will die EU-Kommission beratschlagen, ob das Land den Kandidatenstatus erhalten soll. Anschließend entscheiden die Chefs der 27 EU-Länder darüber. Wladimir Putin, der in der EU eine Bedrohung für Russland sieht und sie erklärtermaßen zerstören will, hat Olaf Scholz gestern schon mal einen Warnschuss vor den Bug gefeuert: Das russische Unternehmen Gazprom reduziert die Gaslieferung nach Deutschland um rund 40 Prozent. Oder steckt dahinter wirklich nur ein technisches Problem? Meine Kollegen Mauritius Kloft und Florian Schmidt berichten über die brisante Entwicklung.

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Ich erinnere mich gut an die Nacht in Pretoria: Ich schrieb den Tagesanbruch, während ein paar Stockwerke höher in dem Hotel in der südafrikanischen Hauptstadt die Telefonleitung glühte. Die damalige Kanzlerin Angela Merkel besprach sich mit der damaligen CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer, ihrem damaligen Vizekanzler Olaf Scholz und weiteren SPD-Leuten. "Es braucht ein Machtwort der Kanzlerin" lautete die Überschrift des Tagesanbruchs am nächsten Morgen, und was Merkel dann am Vormittag bei einer Pressekonferenz mit ihrem Gastgeber von sich gab, war tatsächlich ein Machtwort – nicht zu Südafrika, sondern zu Thüringen: Die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten mit Stimmen der rechtsradikalen AfD nannte Merkel "unverzeihlich" (womit sie natürlich recht hatte). Die AfD sah die Neutralitätspflicht der Kanzlerin verletzt und zog vors Bundesverfassungsgericht. Heute verkünden die Richter ihr Urteil.


Das Oberverwaltungsgericht Münster verhandelt in einem Streit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Bundesdatenschutzbeauftragten. Das Bundesinnenministerium klagt gegen eine Anweisung, dass für anonym gestellte Anfragen über das Portal "Frag den Staat" keine personenbezogenen Daten gespeichert werden dürfen. Das Ministerium hatte Antworten auf die Fragen davon abhängig gemacht, dass die Fragesteller eine persönliche E-Mail-Adresse und eine private Postanschrift nennen. Als Rechercheuren gefällt uns Journalisten das einerseits natürlich nicht. Andererseits muss man wissen, dass "Frag den Staat" ein ziemlich intransparenter Verein dubioser Aktivisten ist.


Die Verteidigungsminister der Nato-Staaten beraten über den weiteren Umgang mit dem Ukraine-Krieg. Sie wollen die Ostflanke des Bündnisgebiets verstärken, weitere Waffenlieferungen planen und den Beitritt Schwedens und Finnlands vorbereiten.


Die Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrats zur Ukraine legt ihre Ergebnisse vor. Sie hat Kriegsverbrechen seit dem russischen Einmarsch untersucht.


In Washington entscheidet die US-Notenbank Fed über ihren weiteren Kurs in der Geldpolitik. Beobachter erwarten eine weitere Anhebung des Leitzinses um 0,5 Prozentpunkte. Daran sollte sich die Europäische Zentralbank ein Beispiel nehmen.


Was lesen?

Todesmutig balancierte dieser Artist vor zehn Jahren über einen gigantischen Wasserfall. Wer der Mann war, erfahren Sie auf unserem Historischen Bild.


Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gilt vielen als Kriegsheld. Lange wird er uns in Deutschland aber nicht mehr vor Putins Machthunger beschützen können, fürchtet unser Autor Wladimir Kaminer.


In Washington kommen bei den Anhörungen zum Sturm auf das Kapitol unglaubliche Details zutage. Warum Donald Trump trotzdem wenig zu befürchten hat, erklärt Ihnen unser USA-Korrespondent Bastian Brauns.


Endlich ein Sieg! Die deutsche Nationalmannschaft hat sich nach vier Remis in Folge den Frust von der Seele geschossen. Die DFB-Elf konnte sich in der Nations League gegen Italien durchsetzen und spielt wieder um den Gruppensieg mit. Hier lesen Sie die Einzelkritik zum packenden Spiel von gestern Abend.


Was amüsiert mich?

Jeder Wähler hat seine eigene Geschichte.

Ich wünsche Ihnen ein stets glückliches Händchen.

Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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