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Erdbeben in Türkei | Berliner über Familie: "Er ist noch vor Ort gestorben"


Naturkatastrophe
"Er hat erst alle gerettet, dann hat ihn ein Betonklotz erwischt"

Von Jannik Läkamp

Aktualisiert am 07.02.2023Lesedauer: 4 Min.
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Erdbebenkatastrophe in der Türkei und SyrienVergrößern des Bildes
Erdbeben in der Türkei: Ein Mann sucht nach Menschen in den Trümmern eines zerstörten Gebäudes. (Quelle: Khalil Hamra/AP/dpa/dpa-bilder)

Die Folgen des Erdbebens in der Türkei und Syrien sind katastrophal. Auch in Berlin trauern Menschen um Angehörige und Freunde und versuchen zu helfen.

Das schwere Erdbeben in der Türkei und in Syrien bewegt auch viele Menschen in Deutschland. In zahllosen Hau-Ruck-Aktionen sammeln sie Spenden, organisieren Transporte, versuchen, Vermisste zu lokalisieren.

Das Erdbeben erschüttert auch die türkische Community in Berlin

Einer von ihnen ist Nihat Sorgeç. Der 65-jährige Berliner hat zwei Cousins bei der Katastrophe verloren, von vielen weiteren Angehörigen und Freunden fehlt noch immer jede Spur. Sorgeç lebte bis er 15 war in der Stadt Antakya, dem historischen Antiochia, die mitten im Erdbebengebiet liegt.

Es sind dramatische Szenen und Schicksale, die ihm Verwandte von dort berichten. Mehr dazu lesen Sie hier.

So habe sein Cousin Behdi noch seine Familie geweckt, als am Montag in der Früh plötzlich die Erde bebte und sie alle nach draußen gebracht. Er habe sie gerettet. Als er dann selbst das Haus verlassen wollte, sei ein riesiger Betonklotz herabgefallen und habe ihn erschlagen. "Er ist noch vor Ort gestorben", sagt Sorgeç mit belegter Stimme. Er sitzt im Kulturverein "Antikes Antiochia" in Kreuzberg, den er selbst gegründet hat und versucht von dort Hilfe für die Menschen in der Türkei zu organisieren.

Sorgeç erzählt am Telefon, was er von Verwandten erfahren hat. Er versucht, gefasst zu bleiben. Aber wenn es um seine Familie geht, stockt immer wieder seine Stimme. Auch ein weiterer Cousin sei unter den Trümmern begraben und tot geborgen worden. "Besonders schlimm ist die Ungewissheit", sagt er. Seit Montag wählt er immer wieder die Nummer eines sehr guten Freundes: "Ich habe es schon mindestens zehnmal versucht. Er geht nicht ran." Auch gemeinsame Bekannte hätten nichts von ihm gehört. Im Erdbebengebiet sind die Telefonnetze weitgehend zusammengebrochen. Auch Sorgeç‘ Schwester saß stundenlang vor dem Telefon, um zu erfahren, wie es Familienangehörigen und Freunden geht.

"Es war so eine schöne Stadt. Jetzt ist alles weg."

Erst nach Stunden hätten sie eine Tante ans Telefon bekommen. Ihr Haus sei zusammengestürzt, erzählte sie, ihr Mann konnte nur schwer verletzt geborgen werden. Von der Tante erfuhren sie, welche Freunde und Verwandten gestorben oder verletzt wurden, wem es gut geht.

Auch Sorgeç' Elternhaus wurde durch das Beben zerstört. Immer, wenn er oder seine Schwester in der Stadt waren, hätten sie dort gewohnt, sagt er. Seine Eltern leben schon lange nicht mehr.

"Jetzt ist es mit allen Sachen, mit allen Erinnerungen, mit allen Gegenständen unter Trümmern begraben“, sagt Sorgeç. Doch zum Glück hätten sich alle Menschen darin retten können. Erst beim zweiten Beben sei das Haus eingestürzt. Kurz vor dem Gespräch mit t-online sprach Sorgeçmit dem Bürgermeister von Antakya. Von ihm wisse er, dass allein in seiner Geburtsstadt 1.200 Häuser zerstört wurden: "In jedem Mehrfamilienhaus sind mindestens zwölf Wohnungen, in jeder Wohnung lebte eine Familie mit drei bis fünf Menschen", sagt Sorgeç. Unvorstellbar, wie viele Opfer das seien.

In der gesamten Erdbebenregion sollen bislang mehr als 6.000 Menschen gestorben und mehr als 26.000 verletzt worden sein.

"Ausgerechnet jetzt hat es auch noch geschneit"

Sorgeç sammelt zusammen mit seinen Vereinsmitgliedern Spenden, organisiert Transporte nach Antakya. Sie brauchen vor allem Daunenjacken, Zelte und Decken, etwas zum Kochen. Generatoren zum Strom erzeugen, Kochplatten und Heizgeräte für die Zelte. Denn die Temperaturen sind eisig. "Das ist ungewöhnlich für die Jahreszeit und eine zusätzliche Katastrophe", sagt Sorgeç. Normalerweise sei es dort jetzt nicht so kalt. "Ausgerechnet jetzt hat es sogar geschneit." Viele Menschen hätten sich zudem nur in ihren Schlafanzügen retten können. "Sie brauchen dringend warme Kleidung."

Hilfe aus dem Ausland sei unabdingbar. Sorgeç kritisiert die lokalen Hilfsdienste, etwa den Türkischen Roten Halbmond, ein muslimisches Pendant zum christlichen Roten Kreuz. "Die Hilfsorganisationen in der Türkei haben total versagt" In vielen Orten soll der Türkische Rote Halbmond noch immer nicht angekommen sein. Woran das gelegen haben könnte, darauf will Sorgeç sich nicht festlegen. "Aber sie waren höchstwahrscheinlich nicht gut organisiert." Es habe sich gezeigt, dass die Region um Antakya vernachlässigt worden sei. "Das ist ein Skandal."

"Es geht um Sekunden"

Sorgeç will deshalb die gesammelten Hilfsgüter seiner Organisation auch nicht von offiziellen Stellen verteilen lassen, sondern von Mitgliedern seines Vereins. Ein LKW mit Spenden sei schon unterwegs. Ein Freund von Sorgeç konnte ein 70-Tonnen-Cargoflugzeug organisieren. Es soll bald beladen mit Hilfsgütern in Richtung Türkei aufbrechen.

Von Angehörigen wisse er, dass viele Antakier zurzeit ihre Nachbarn, ihre Angehörigen per Hand, meist ohne schweres Gerät und technisches Know-How zu retten versuchten: "Es geht um Minuten, um Sekunden", sagt Sorgeç. Viel zu viele seien höchstwahrscheinlich schon erfroren. "Wir kämpfen gegen die Zeit."

Dieser Kampf geht auch an ihm nicht spurlos vorbei. Ab und zu werde ihm das alles zu viel, sagt er. Dann versucht er sich mit der Organisation der Hilfen abzulenken. "Doch als die Leute mit ihren Säcken voller Spenden ankamen, sind mir die Tränen gekommen."

Verwendete Quellen
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