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München: "Wir sind Kirche" fordert Veränderungen nach Missbrauchsgutachten


Reformer Christian Weisner
"Wenn die Kirche sich nicht ändert, wird sie zur Sekte"

  • Marianne Max
InterviewVon Marianne Max

Aktualisiert am 26.01.2022Lesedauer: 5 Min.
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Christian Weisner, Mitbegründer von "Wir sind Kirche": Die Reformbewegung fordert ein Schuldeingeständnis von dem emeritierten Papst Benedikt XVI.Vergrößern des Bildes
Christian Weisner, Mitbegründer von "Wir sind Kirche": Die Reformbewegung fordert ein Schuldeingeständnis vom emeritierten Papst Benedikt XVI. (Quelle: ULMER Pressebildagentur/"Wir sind Kirche"/Grafik: t-online/imago-images-bilder)

Das Gutachten von München und Freising hat das Machtsystem der katholischen Kirche schonungslos aufgedeckt. Der Mitbegründer der Reformbewegung "Wir sind Kirche" fordert nun grundlegende Veränderungen.

Nach dem Gutachten zu den sexuellen Missbrauchsfällen im Erzbistum München und Freising kommt die Spitze der katholischen Kirche nicht mehr zur Ruhe. Der Druck aus Politik und Gesellschaft, aber auch aus den eigenen Reihen ist groß.

Christian Weisner, Mitglied und Mitbegründer der internationalen kirchlichen Reformbewegung "Wir sind Kirche", weiß allerdings, wie schwer es ist, einen Wandel in der katholischen Kirche herbeizuführen. In Hannover schloss er sich 1995 mit Dieter Grohmann, Eva-Maria Kiklas und vielen anderen zur Reformbewegung "Wir sind Kirche" zusammen.

Seitdem kämpft er innerhalb der katholischen Kirche gegen die bestehende Machtstruktur, gegen den Pflichtzölibat für Priester, für die Gleichberechtigung von Frauen, auch bei kirchlichen Ämtern, und gegen die Fixierung auf eine rigide Sexualmoral. Mit t-online hat er über seinen ersten Eindruck vom Münchner Missbrauchsgutachten gesprochen – und darüber, wie ein Wandel in der Kirche gelingen könnte.

t-online: Wie war ihr erster Eindruck von dem neusten Gutachten zu Missbrauchsfällen innerhalb der katholischen Kirche?

Christian Weisner: Das, was dort ans Tageslicht gebracht worden ist, ist ja prinzipiell von anderen Untersuchungen schon bekannt. Aber es ist immer wieder erschreckend zu lesen, was den Betroffenen angetan wurde und wie sich die Kirchenleitung dazu verhalten hat. In dem zweiten Münchner Gutachten spielt besonders ein Fall, der sich zu der Zeit ereignet hat, als Papst Benedikt XVI. Erzbischof von München und Freising war, eine große Rolle. Aber auch jeder andere Fall ist ein Fall zu viel. Das lebenslange Leid der Betroffenen, die Uneinsichtigkeit der Täter und das Wegschauen der Verantwortlichen sind unerträglich.

Papst Benedikt XVI. hat im Nachhinein eine Falschaussage im Gutachten eingeräumt und nannte diese ein "Versehen". Wie ist das ihrer Meinung nach zu bewerten?

Es ist höchst peinlich und ungeheuerlich, dass Joseph Ratzinger seine 82 Seiten lange Stellungnahme zum Münchner Gutachten in einem so entscheidenden und leicht nachprüfbaren Punkt korrigieren musste. Das kann kein Schreibfehler gewesen sein. Auch viele Menschen, die Ratzinger noch immer als moralische Autorität angesehen haben, werden darüber sehr enttäuscht sein. Und allein das Einräumen seiner Falschaussage reicht nicht aus, auch nicht das Bekunden von Trauer, Scham und Schmerz über das Leid der Betroffenen. Was immer noch fehlt, ist sein persönliches Schuldeingeständnis, denn als Erzbischof von München und Freising trug er seinerzeit die Verantwortung.

Warum ist ein Schuldeingeständnis so wichtig?

Benedikt ist bereits 2013 als Papst zurückgetreten. Das kam unerwartet, war aber ein wichtiges Zeichen, was ihm viel Anerkennung brachte. Jetzt, mit dieser Leugnung und den widersprüchlichen Aussagen, hat er seinen eigenen Ruf nicht nur als Mensch, sondern auch als Theologe verspielt. Ein uneingeschränktes Schuldeingeständnis könnte jetzt ein Vorbild für andere Bischöfe und Verantwortungsträger sein.

Warum hat gerade die katholische Kirche Ihrer Auffassung nach so mit sexuellem Missbrauch zu kämpfen?

Sexualisierte Gewalt gibt es überall. In Familien, Sportvereinen, Musikschulen, Internaten, bei der Bundeswehr. Aber sexualisierte und auch psychische Gewalt im religiösen Bereich, wo der Priester eine besondere Rolle einnimmt, wiegt für die Betroffenen besonders schwer, oft ein Leben lang. Die MHG-Studie hat da besondere Risiken für sexualisierte Gewalt herausgearbeitet, die es in der katholischen Kirche gibt.

Die "MHG-Studie" wurde 2018 vorgestellt. Sie ist benannt nach den Orten der Universitäten des Forschungskonsortiums – Mannheim, Heidelberg und Gießen – und trägt den Titel "Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz".

Welche wären das?

Da gibt es keine Machtkontrolle, einen Pflichtzölibat für den Priester, eine sehr rigide Sexualmoral und Frauen werden von Leitungsämtern ausgeschlossen. All diese Faktoren haben dazu geführt, dass es in der katholischen Kirche zu besonders vielen Fällen von sexualisierter Gewalt gekommen ist. Das haben Gutachten in den USA, in Irland, Australien, Belgien, in Deutschland schon 2010 und jüngst in Frankreich und Spanien gezeigt. Da kann sie sich nicht rausreden. Aber er dauert sehr lange, bis das Bewusstsein dafür da ist, dass es eben nicht nur ein einzelnes Versagen ist – sondern ein Systemversagen.

Beispielsweise berichten viele Betroffene, dass sie durch die herausgehobene Position des Priesters eingeschüchtert waren. Sie wurden zum Schweigen verdammt. Und wenn sie es ihren Eltern oder ihrer Gemeinde erzählt haben, hat man ihnen nicht geglaubt, weil man sich das beim Pfarrer nicht vorstellen konnte. Vielen Menschen hat das den religiösen Glauben zerstört.

Mit "Wir sind Kirche" setzen Sie sich gegen ebendiese Machtstrukturen und Risikofaktoren ein – wie groß sind die Hürden? Wie kann man dieses System aufbrechen?

Im Jahr 2001 hat Ratzinger alle weltweiten Verdachtsfälle unter das päpstliche Geheimnis gestellt. Das bedeutet, alles musste seiner kleinen Behörde in Rom, der Glaubenskongregation, gemeldet werden, die weder inhaltlich noch organisatorisch geeignet war, und es war bei Kirchenstrafe verboten, diese Dinge an die Öffentlichkeit zu bringen. Das System der Vertuschung und Geheimhaltung wurde damit von oberster Spitze angeordnet. Genau das hat es so schwer gemacht – erst nach und nach kamen die Fälle an die Öffentlichkeit. Nach der MHG-Studie wurde 2019 dann in Deutschland der Synodale Weg gestartet, wo die Bischöfe zusammen mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken und Experten an eben den genannten Risikofaktoren arbeiten.

Wir als "Wir sind Kirche", aber auch der "Eckige Tisch" oder "Maria 2.0" haben da noch harte Arbeit vor uns. Es ist Dickbrettbohren und es braucht Hartnäckigkeit.

Halten Sie es für realistisch, dass die Reformbewegungen innerhalb der katholischen Kirche den Wandel allein voranbringen können oder sollte der Staat eingreifen?

Ja er sollte eingreifen, eben weil es so langsam geht und es immer wieder Rückschläge gibt. Viel zu viel Vertrauen ist verloren gegangen, als dass man alles nur allein der Kirchenleitung überlassen könnte. Sie hat bewiesen, dass sie das allein nicht schaffen kann. Es braucht die Öffentlichkeit, es braucht die Medien und die Strafverfolgungsbehörden.

Sie sagen, da ist Vertrauen verloren gegangen – können Sie da verstehen, wenn viele jetzt aus der Kirche austreten?

Ja, das kann ich nachvollziehen, weil viele Menschen nicht diese Geduld haben, wie wir sie bei "Wir sind Kirche" haben. Aber ich bedauere sehr es, weil jeder Austritt die Reformkräfte in der Kirche schwächt. Die Gefahr besteht, dass am Ende nur noch ein "heiliger Rest" übrig bleibt, die alles glauben, was von oben kommt. Aber das ist keine Kirche, die sich am Beispiel Jesu orientiert. Wir brauchen wieder Menschen, die aufrütteln, und Widerstand gegen menschenverachtende Gesetze und Institutionen leisten. Wenn sich die römisch-katholische Kirche nicht ändert, dann wird sie zu einer Sekte, die auch keine Glaubwürdigkeit mehr verdient. Dann wird sie keine Bedeutung mehr in der Gesellschaft haben, und das möchte ich nicht.

Sehen Sie dennoch eine Zukunft für die Kirche?

Ja. Mit dem Gutachten ist das ganze System, das mit Joseph Ratzinger verbunden ist, zusammengebrochen. Das gibt Papst Franziskus jetzt hoffentlich die Freiheit, zu schauen, was wirklich wichtig ist. Die Menschen zusammenzuführen. Sie zu ermutigen, Hoffnung zu vermitteln, anstatt ihnen Angst zu machen.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Christian Weisner
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