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EM | Kaminer: Darum fiel das neue "Wunder von Bern" für Deutschland ins Wasser


Europameisterschaft
Warum das neue "Wunder von Bern" ins Wasser fiel

MeinungVon Wladimir Kaminer

Aktualisiert am 27.06.2021Lesedauer: 6 Min.
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Joachim Löw: Eine Neuauflage des "Wunders von Bern" blieb aus, meint Wladimir Kaminer.Vergrößern des Bildes
Joachim Löw: Eine Neuauflage des "Wunders von Bern" blieb aus, meint Wladimir Kaminer. (Quelle: Sven Simon/imago-images-bilder)

Der Ball rollt wieder, Corona scheint nebensächlich zu sein. Doch während der Lockdown unter anderem Frankreichs Kicker abhärtete, zog die DFB-Elf bislang leider keinen Vorteil aus dem Virus.

Dies sind meine launischen Fußballnotizen. Ich habe sie unterwegs in Kiew, Berlin und Brandenburg, auf dem Fensterbrett, im Auto auf dem Knie gemacht. Aus meiner Sicht geben sie ein Bild dieses chaotischen Sommers wieder mit einem ersten Großevent nach der – hoffentlich schlimmsten Phase – der Pandemie.

Die Aufhebung der Impfpriorisierung und extreme Hitze veränderten das Stadtbild und das Verhalten der Fußgänger. Immer mehr Menschen liefen halb nackt und voll geimpft durch die Straßen. Einige trugen außer Höschen nur das kleine Pflaster am Oberarm, als Zeichen dafür, dass sie zu der Oberschicht der 3G-Gesellschaft (Genesene, Geimpfte und Getestete) gehören. Ich habe sogar einige Minderjährige kennengelernt, die sich ein solches Pflaster geklebt haben, ohne wirklich geimpft zu sein. Das galt als cool.

Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit rund 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Büchern gehört "Russendisko". Kürzlich erschien sein neuestes Buch "Der verlorene Sommer. Deutschland raucht auf dem Balkon".

Doch die meisten in meinem Umkreis haben mindestens eine Dosis irgendeines Wundermittels erhalten. Alle möglichen Impfstoffe fließen nun in unseren Adern. Das enorm gewachsene Interesse an Fußball zum Beispiel mag eine solche Folge der Impfungen sein, alle Kneipen und Cafés, sogar die Spätis in Berlin haben Fernsehgeräte an die frische Luft getragen, meine Nachbarn aus dem Erdgeschoss stellten das Fernsehgerät aufs Fensterbrett, obwohl sie kein Café betreiben.

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Dafür hatten sie sofort dreißig zufällige Passanten vor ihrem Fenster stehen, und das bei Spanien gegen Polen! Die Menschen schauen sich Fußball im Stehen an, so gesellig hat man vor der Pandemie nur die Weltmeisterschaft geschaut, nicht die Europameisterschaft. Meine Kinder, die früher überhaupt kein Interesse an Fußball gezeigt haben und nur das alte Lied über elf Millionäre, die einem Ball hinterherlaufen, nachsangen, wollten auf einmal kein einziges Spiel verpassen.

Sogar meine Mutter mit ihrer Katze hat zu Hause Fußball geguckt, allerdings nur Spiele in russischer Übertragung. "Die Russen machen lustigere Kommentare", meinte meine Mutter. Diese EM ist in gewisser Weise eine Zeitreise, sie sollte eigentlich vor einem Jahr stattfinden, wurde wie unser ganzes Leben auf später verschoben, wegen Corona. Um die Gefahr einer neuen Welle zu reduzieren, soll die verschobene EM in elf Städten gleichzeitig spielen, "in zehn europäischen und einer asiatischen Stadt Baku", wie es in der Ankündigung der Uefa stand. Da mögen die Aserbaidschaner eine andere Meinung über ihre Hauptstadt haben, aber sei es drum.

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Ich hatte mir vorgenommen, in jeder Gruppe mindestens ein Spiel anzuschauen, jedes Mal an einem anderen Ort, um zu verstehen, wie viel Fußball, wie viel Corona und wie viel Politik dahintersteckt. Doch ich bin bei vier Gruppen geblieben:

Gruppe B: Belgien gegen Russland

Russland gegen Belgien haben wir mit Mama und ihrer Katze gemeinsam angeschaut. In Russland ist die Stimmung tatsächlich besser, das Stadion in St. Petersburg war viel besser belegt als in den anderen europäischen Städten: Sie lassen einfach mehr Menschen rein und pfeifen auf die empfohlene halbierte Belegung der Sportarena. Auch das Maskentragen ist in St. Petersburg unter Fußballfans verpönt.

Die Russen sind Fatalisten. Sie wissen, Corona hin oder her, wir werden alle sterben, der Unterschied ist nur, dass die einen sich vorher einen guten Abend im Stadion machen und die anderen vor Angst in die Hosen.
Als die belgische Mannschaft vor Beginn des Spiels geschlossen auf dem Rasen kniete, um ein Zeichen gegen Rassismus zu setzen, sind die russischen Spieler stehen geblieben, die Tribünen pfiffen die Belgier aus.

"Das macht man jetzt so im Westen", erklärte der russische Moderator, "das müssen wir aber nicht tun. Wir haben uns nichts vorzuwerfen, wir haben niemanden kolonisiert, wir waren keine Sklavenhändler, im Gegenteil haben wir viele Jahre lang halb Afrika gefüttert, als sie noch sozialistisch waren. Die Belgier sollen knien, wir nicht." Nach dem Spiel, 3:0 für Belgien, schrieben die Zeitungen: Man hat uns geschlagen, aber nicht in die Knie gezwungen. Das Spiel mag verloren sein, aber die Würde haben wir gewonnen.

Diese Diskussion hat man in den deutschen Kneipen und Cafés nicht mitbekommen. Dort waren alle mit dem Schicksal des dänischen Spielers Christian Eriksen beschäftigt, der zur gleichen Zeit während des Spiels gegen Finnland seine Zunge verschluckte. Er erlitt einen Herzstillstand und wurde von den Ärzten auf dem Fußballfeld reanimiert. "Unsere Mannschaft hat verloren, aber das Leben hat gewonnen", titelten später die Dänen. Die Russen nahmen ihre Würde in die Hand, schlugen damit bei dem nächsten Spiel Finnland mit 1:0, kassierten jedoch von den reanimierten Dänen am Ende vier Tore und waren raus.

Gruppe E: Polen gegen Slowakei

Das Spiel Polen gegen Slowakei hörte ich mir im Autoradio an, auf dem Weg nach Brandenburg, nach einem heißen Wochenende in Berlin wollte ich am nächsten Tag das Spiel Frankreich gegen Deutschland in Ruhe bei der Freiwilligen Feuerwehr bei uns im Dorf anschauen. Fußball im Radio macht manchmal mehr Spaß, vor allem hat man ein ganz anderes Bild vom Spiel.

Beide Moderatoren waren sehr aufgeregt, sie riefen die ganze Zeit "Lewandowski, Lewandowski!", "Lewandowski kommt von links", "Lewandowski kommt von rechts". Ich glaube, bei jedem aufmerksamen Zuhörer sollte bei dieser Übertragung der Eindruck entstehen, der Spieler Robert Lewandowski würde allein gegen die slowakische Mannschaft auf dem Feld auftreten.

Wahrscheinlich lag es daran, dass viele polnische Spieler schwer aussprechbare Namen hatten, der Robert war jedoch von seinen vielen Spielen für Bayern München gut bekannt, also musste er zumindest im Radio allein gegen die Slowaken kämpfen. Er kam von links und rechts oder er kam gar nicht, die Kräfte waren zu ungleich, wie kann ein Mann gegen elf Gegner bestehen? Lewandowski verlor gegen die Slowakei 2:1. Kaum erreichte ich das Dorf, lief mir noch ein "Lewandowski" direkt vor die Räder. Er war vielleicht elf oder zwölf Jahre alt, dieser Wirbelwind im Lewandowski-Trikot und hatte lange blonde Haare nach hinten gekämmt. Zum Glück habe ich rechtzeitig gebremst.

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Gruppe F: Deutschland gegen Frankreich

Wir haben mit den freiwilligen Feuerwehrmännern einen Kasten Bier schweigsam leer getrunken, auf dem großen Bildschirm hinter der Feuerwache wurde die zarte deutsche Mannschaft von den französischen Wölfen zerfleischt. Die Deutschen schienen für das Spiel nicht vorbereitet zu sein, das Eigentor war nicht ausschlaggebend, sie hätten auch ohne verloren.

Wahrscheinlich hatten die Franzosen einen stärkeren Lockdown ohne Pause zwischendurch, nicht so wie bei uns. Bei den Franzosen waren die ganze Zeit alle Geschäfte nach 18 Uhr zu und die Sperrstunde griff früher. Also haben sie von früh bis spät nur trainiert, sagten die Feuerwehrmänner. Andere meinten, die Deutschen brauchen am Anfang immer eine Niederlage, um in Rage zu kommen. Je schlechter sie am Anfang spielen, umso stärker werden sie Richtung Finale. Das hat sich dann im Spiel gegen Portugal auch bestätigt.

Gruppe C: Ukraine gegen Österreich

Am vergangenen Montag flog ich nach Kiew zur Buchmesse. Die Ukrainer haben mein neues Buch übersetzt, ich hatte viele Interviewanfragen, mehrere Veranstaltungen waren geplant. Der Fahrer Serhij sollte mich vom Flughafen abholen. Doch am gleichen Tag spielte die Ukraine in Bukarest gegen Österreich. Hätte ich das bloß früher gewusst, hätte ich mir einen anderen Tag für die Einreise überlegt.

Die ganze Ukraine fieberte mit ihrer Mannschaft mit, als würde die Zukunft des Landes auf dem Spiel stehen. Wird die Ukraine gegen Österreich gewinnen, kommt sie weiter und wird am Ende vielleicht in die EU aufgenommen? Verliert sie das Spiel, wird sie für immer dem anderen großen Verlierer Russland zu Füßen liegen.

Ja, wir waren schlecht, sagte der Fahrer Serhij. Aber wir sind noch immer besser als die Russen gewesen – und nur das zählt. Russland hatte nämlich am gleichen Tag 4:1 gegen Dänemark verloren und war aus der EM ausgeschieden. Uns fehlt bloß eine Mannschaft, die noch schlechter als wir spielt, wenn die Slowakei 5:0 gegen Spanien verlieren würde, dann hätten wir eine Chance, meinte der Fahrer.

So geschah es dann auch. Am letzten Tag der Gruppenspiele lud der Chef des deutschen Kulturinstituts zu sich nach Hause ein, "das Wunder von Bern 2.0" zu gucken. Das wird noch eine Tradition, rund alle 70 Jahre treffen Ungarn und Deutschland aufeinander und versuchen das "Wunder von Bern" noch einmal nachzuspielen, aber jedes Mal mit einem anderen Ergebnis. Diesmal stimmte die Kulisse, es regnete in Strömen, die Deutschen kämpften verzweifelt um einen Ausgleich. Für das Wundertor zum Sieg hat es am Ende dann aber nicht gereicht. Egal, wir sehen uns in 70 Jahren wieder.

Die im Gastbeitrag geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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