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Kommentar zu Jamaika-Sondierungen: Neuwahlen? Never Ever!


Jamaika-Sondierungen
Neuwahlen? Never ever!

Meinungt-online, Jonas Schaible

Aktualisiert am 16.11.2017Lesedauer: 3 Min.
Parlamentarische Gesellschaft bei Nacht: Die letzten Stunden der Sondierungen werden merkwürdig überhöht.Vergrößern des BildesParlamentarische Gesellschaft bei Nacht: Die letzten Stunden der Sondierungen werden merkwürdig überhöht. (Quelle: Stefan Jaitner/dpa-Zentralbild/dpa)
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So zäh die Sondierungen auch sind: Neuwahlen wird es nicht geben. Das Risiko ist zu groß – für alle Beteiligten.

In der Nacht zum Freitag soll die Entscheidung fallen: Einigen sich Union, FDP und Grüne darauf, Koalitionsverhandlungen aufzunehmen? Diese Nacht wird im Vorfeld merkwürdig überhöht. Sogar von der “Nacht der langen Messer” ist die Rede – ein Begriff, der in Deutschland sonst für die Mordserie an möglichen Hitler-Gegnern in der SA durch die Nazis steht.

Dieses Raunen wirkt selbst dann überzogen, wenn man ignoriert, wie schief und makaber die Bezeichnung ist. Denn die Entscheidung kann nur lauten: Ja, es gibt eine Einigung. Natürlich.

Es wird es keine Neuwahlen geben. Nicht, weil die Parteien mit einem Mal ihre Liebe zueinander entdecken oder unbekannte inhaltliche Schnittmengen. Auch nicht, weil es dauern würde und kompliziert wäre, Neuwahlen zu erzwingen.

Hinter dem Schleier des Nichtwissens

Sondern, weil niemand ahnen kann, was Neuwahlen bedeuten würden. Um das zu verstehen, hilft eine Idee des US-amerikanischen Philosophen John Rawls. Er hat sich den “Schleier des Nichtwissens” ausgedacht, als Kernidee eines Gedankenexperiments. Denn er wollte begründen, was wirklich gerecht ist.

Gerecht wäre diejenige Gesellschaft, überlegte Rawls, auf die sich Menschen unter einer bestimmten Bedingung einigen. Diese Bedingung heißt: Sie haben allesamt keine Ahnung, welchen Platz sie hinterher in dieser Gesellschaft einnehmen, ob sie arm sind oder reich, gebildet oder nicht, Arbeiter oder Bauer, Liberaler oder Grüner, Seehofer oder Söder. Unter diesen Bedingungen kann niemand die Regeln so manipulieren, dass sie ihm allein nützen.

Hinter einem ähnlichen Schleier des Nichtwissens hocken derzeit die schwarz-gelb-grünen Verhandler in der parlamentarischen Gesellschaft.

Umfragen zeigen, dass bei Neuwahlen im Kern alles bliebe, wie es ist. Nun sind Umfragen keine Prognosen, erst recht keine verlässlichen, aber sie wären zumindest ein Indiz, würden sie denn Trends zeigen. Zeigen sie aber nicht. So bleiben nur Spekulationen, und die lassen sich so drehen, dass für alle Parteien das Richtige dabei ist.

Ja, wirklich für alle.

Prognosen wie aus den Innereien eines Huhns

Wer auch immer die Verhandlungen platzen ließe, könnte als prinzipientreu gelten oder als verantwortungslos oder egoman.

Die CDU könnte gewinnen, weil sie sich in den Verhandlungen vernünftig präsentiert hat und Leihstimmen von der FDP zurückbekommen würde. Aber sie könnte verlieren, weil sie keine klaren Positionen vertritt und die Kanzlerin angeschlagen scheint.

Die CSU könnte gewinnen, weil sie als harte Verteidigerin bayerischer Interessen und deutscher Grenzen auftritt. Aber sie könnte verlieren, weil interne Machtkämpfe immer schaden.

Die FDP könnte gewinnen, weil sie extrem sichtbar ist und inhaltlich nicht umfällt. Aber sie könnte verlieren, weil sie zu unversöhnlich auftritt und niemand versteht, warum sie so an der Kohlekraft hängt.

Die Grünen könnten gewinnen, weil ihre Kernthemen viel diskutiert werden, auch wegen des Klimagipfels und der Paradise Papers. Aber sie könnten verlieren, weil sie ihre Wähler durch zu große Kompromissbereitschaft verärgern.

Die SPD könnte gewinnen, weil sie sich glaubhaft als Oppositionspartei gegen die Union positioniert. Aber sie könnte verlieren, weil sie ihre grundsätzlichen Probleme nicht gelöst hat und viel weniger in den Medien ist.

Die Linke könnte gewinnen, weil die Paradise Papers zeigen, dass Steuerflucht der Superreichen Deutschland schadet und sie Protestwähler anzieht. Aber sie könnte verlieren, weil sie derzeit nur durch interne Kämpfe in die Medien kommt.

Die AfD könnte gewinnen, weil gescheiterte Verhandlungen ihr weitere Protestwähler zuspülen könnte. Aber sie könnte auch verlieren, weil die Republik seit der Wahl nicht mehr obsessiv auf die Partei fixiert ist.

Neuwahlen? Jaja, als ob

Jede dieser Prognosen ist so belastbar wie eine, die aus dem Vogelflug oder den Innereien eines Huhn abgelesen wird. Oder anders formuliert: Mehr Rawls war selten. Die Störrigkeit der deutschen Wähler, die bei ihrer Entscheidung bleiben, ist ein Segen. So wird niemand zu Hochrisikozockereien verleitet.

Natürlich kokettieren einige Verhandler trotzdem mit dem Verhandlungsabbruch. Aber insgeheim müssen auch sie wissen, dass alle wissen, dass alle hinter demselben Schleier des Nichtwissens sitzen. Neuwahlen? Jaja, als ob.

Es gibt zwei Einschränkungen, aber sie machen eine Einigung nur wahrscheinlicher: Angela Merkel weiß, dass sie Neuwahlen womöglich den Job kosten würden. Horst Seehofer weiß sicher, dass ihn Neuwahlen den Job kosten würden – er sondiere deshalb auch bemerkenswert gewissenhaft, heißt es aus Verhandlungskreisen.

Zugegeben, ein Rest Unsicherheit bleibt. Vor allem ein neues Söder-Lager in der CSU könnte querschießen, die Grünen-Delegierten "Nein" sagen. Deshalb sind Neuwahlen nicht ganz ausgeschlossen, sondern nur sehr sehr unwahrscheinlich. Ähnlich unwahrscheinlich ist nur, dass die Sondierer am Ende einen Koalitionsvertrag schmieden, der eine vollkommen gerechte Gesellschaft bringt.

Aber soviel Rawls ist dann wohl doch nicht.

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