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Heinz Buschkowsky: Migrantenkinder "sind ein Teil von uns"


Interview mit Heinz Buschkowsky
"Auch Migrantenkinder sind ein Teil von uns"

t-online, Daniel Reviol

Aktualisiert am 05.02.2015Lesedauer: 7 Min.
Im April 2015 tritt Heinz Buschkowsky von seinem Amt als Bezirksbürgermeister Berlin-Neuköllns zurück.Vergrößern des BildesIm April 2015 tritt Heinz Buschkowsky von seinem Amt als Bezirksbürgermeister Berlin-Neuköllns zurück. (Quelle: imago-images-bilder)
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Mit knackigen Aussagen zu Migration und Integration machte sich der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (66) weit über Berlin hinaus einen Namen. Am 1. April 2015 wird "The Big Buschkowsky", wie ihn einst Bürger seines Stadtteils tauften, von seinem Amt zurücktreten - die Gesundheit spiele nicht mehr mit. Ein Mann der klaren Worte ist Buschkowsky immer noch. Im Interview mit t-online.de erklärt der SPD-Politiker seine Verachtung für jede Form von politischem Extremismus, warum auch Migrantenkinder ein Teil unserer Gesellschaft sind und welchen Satz Angela Merkel sich hätte sparen können.

t-online.de: Das beste Mittel, um Terroranschläge wie zuletzt in Paris zu verhindern, ist gelungene Integration. Würden Sie der Behauptung zustimmen?

Heinz Buschkowsky: Im Prinzip ja. In einer Berliner Zeitung war nach den Anschlägen in Paris die Bemerkung zu lesen, dass die Banlieues in Frankreich Brutstätten des Terrors seien. Das ist ein hartes Urteil, aber nicht vollkommen abwegig. Wer sein Leben als perspektivlos empfindet, sich diskriminiert und ausgestoßen fühlt, wem alle Konsumwünsche versagt bleiben, ist anfällig für Aggressionen und Schuldzuweisungen gegen die, die er für die Ursache seines empfundenen Elends hält. Eine gelungene Integration in das Gesamtgefüge wirkt dem entgegen.

Wer für sich ein selbstbestimmtes Leben in Wohlstand und einen Platz in der Gesellschaft sieht und danach strebt, der ist zwar nicht immun für Radikalisierung, aber erheblich schwerer für die Rattenfänger erreichbar. Denn entscheidend für die Integration in die Lebenswelt der westeuropäischen Demokratien ist Bildung. Mit dem Wissenserwerb tritt die Fähigkeit des Differenzierens, Vergleichens und Abwägens ein. Ein ideologischer oder religiöser Tunnelblick hat es da schon schwerer, sich durchzusetzen.

Allerdings darf man sich nicht dem Trugschluss hingeben, dass eine gelungene Integration eine unbesiegbare Waffe gegen Fundamentalismus und Fanatismus ist. Zwar kommen Attentäter im überwiegenden Maß aus der Unterschicht und der kriminellen Szene, aber es gab in der Vergangenheit auch Beispiele für Fanatiker mit einer bürgerlichen Vita.

Wie groß ist die Gefahr für Jugendliche in Neukölln, in extremistische Szenen zu rutschen? Sowohl was islamistische als auch zum Beispiel rechtsextreme Tendenzen betrifft.

Politischer Extremismus ist scheinbar unausrottbar. Ich persönlich lehne politischen Extremismus egal in welcher Verpackung strikt ab. Für mich gibt es keinen guten und keinen schlechten Extremismus, keine böse und keine gerechte Gewalt. Ideologien oder Weltanschauungen, die Gewalt gegen andere als zulässiges oder sogar unvermeidliches Instrument propagieren, stehen für mich außerhalb des demokratischen Diskurses.

Ich differenziere auch nicht zwischen unkultivierten Sprechchören, egal ob sie von links oder rechts kommen. Wer Asylbewerber "Viehzeug" nennt oder die Nazi-Ära glorifiziert, wer den Nahostkonflikt durch Hasstiraden wie "Juden ins Gas" lösen will, gehört für mich in die gleiche Kategorie wie die militante linke Krawallszene.

Extremismus blüht immer dort, wo die Gesellschaft schläft oder das Gebot der Chancengerechtigkeit für jeden aus dem Auge verloren hat. Kinder, die in Neukölln geboren werden, müssen die gleichen Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben haben, wie die, die ihre Jugend im Schweizer Internat verbringen. Dort, wo am Ende der Schulzeit der Transfer zum Jobcenter ansteht, liegt der Nährboden für verpfuschte Lebensläufe und die Gefährdung des inneren Friedens. Welchem "Heilsbringer" sich die Jugendlichen dann anschließen, ist letztlich Nebensache. Der Springerstiefel-Typ mit dem Bürstenhaarschnitt ist genauso kaputt wie der Gotteskrieger.

Wie lässt sich verhindern, dass Jugendliche für extremes Gedankengut empfänglich werden?

Ein weiter Horizont, ein klarer Blick, Ehrgeiz, etwas zu leisten, und Stolz auf das Erreichte. Wer diese Kompetenzen sein Eigen nennen kann, ist nur in den seltensten Fällen für die Flunderperspektive der Gehirnwäsche empfänglich. Unser Bildungssystem hat immer noch nicht verinnerlicht, dass es wieder eine veritable Unterschicht im Land gibt. Hierauf hätten wir schon längst reagieren müssen.

Heinz Kühn, der erste Ausländerbeauftragte der Bundesrepublik, hat uns schon 1979 vor einer anstehenden Bildungskatastrophe gewarnt. Kinder und Jugendliche aus analphabetischen Elternhäusern haben zu Hause keine Unterstützung beim Pythagoras. Deshalb müssen wir ihren Bildungserwerb anders steuern als dort, wo Kinder weiße Kniestrümpfe tragen und mit gefalteten Händen am Tisch sitzen. Bei mir in Neukölln wird fast jedes zweite Einwandererkind mit katastrophalen Sprachmängeln eingeschult, obwohl schon ihre Eltern in Deutschland zur Welt gekommen sind.

Um es deutlich zu sagen: Die unterschiedliche Rumwurstelei jedes Bundeslandes in den Schulen muss aufhören. Die Rahmenkompetenz für das Bildungswesen sollte zum Bund gehören. Die Ganztagsschule ist der traditionellen Halbtagsschule weit überlegen. Deshalb muss die Ganztagsschule wie im übrigen Europa obligatorisch werden. Wir benötigen eine verbindliche, kostenfreie Vorschulerziehung mindestens ab dem dritten Lebensjahr. In die sozialen Brennpunkte gehören die besten Lehrer und nicht die im Burn-Out-Modus.

Jüngst erklärte Angela Merkel, dass der Islam ein Teil Deutschlands sei. Wie sehr muss sich die deutsche Gesellschaft anderen Kulturen annähern?

Ich kann mit dem Satz des Ex-Bundespräsidenten und nun auch der Kanzlerin nichts anfangen. Die inhaltliche Botschaft ist völlig unklar. Steht "gehört zu Deutschland" in einem historischen Bezug? Dann wäre es einfach falsch. Unsere Gesellschaft hat sich im Laufe von Jahrhunderten entwickelt und die heute gültigen Lebensregeln hervorgebracht. Unsere Ethik ist in ihrer Normen- und Werteschöpfung von christlichen und jüdischen Einflüssen geprägt worden. Bei der Reformation, der Aufklärung und der Entwicklung des Humanismus hatte der Islam nun wirklich keinen Anteil.

Meint der Satz, dass der Islam als Weltreligion im Land präsent ist und gelebt wird, dann ist dies in Anbetracht von vier Millionen Muslimen in Deutschland eine Feststellung etwa von der Bedeutung, dass morgens die Sonne aufgeht. Wer in welchem Gott seinen Frieden findet oder ob eine spirituelle Ebene des Lebens völlig abgelehnt wird, das entscheidet in einer säkularen Gesellschaft jeder für sich selbst.

Einwanderung bringt immer neue Impulse. Das hält eine Gesellschaft jung und verhindert einen Werteinzest. Die Grenze liegt allerdings dort, wo der Kerngehalt unseres toleranten, offenen, demokratischen Gemeinwesens in Frage gestellt wird. Unser Leitmotiv lautet "Freiheit für den Einzelnen, Respekt vor dem Einzelnen und Gerechtigkeit für den Einzelnen". Die Würde des Menschen ist unantastbar. Egal, ob Mann oder Frau, Jung oder Alt, religiös oder atheistisch: Wir leben gewaltfrei miteinander, und Recht und Gesetz gelten für alle gleichermaßen. Solange wie wir uns hierzu im Einvernehmen befinden, kann es eigentlich keine Probleme geben.

Bevor sie sich auf den Weg machen, müssen Einwanderer sich entscheiden, ob sie Teil einer solchen Gesellschaft werden und ihr beitreten wollen. Wer seine eigene kulturelle Identität über die der selbst gewählten neuen Heimat stellt, bewegt sich unausweichlich auf Kollisionskurs. Einwanderer müssen den Willen zur Integration mitbringen.

Was heißt Einwanderung in der Praxis für Deutschland - sollten Kindergärten sich an islamische Reinheits- und Speisegebote halten, sollte der Islam Teil des Religionsunterricht werden, muss der Sportunterricht überdacht werden?

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Natürlich müssen öffentliche Einrichtungen auf kulturelle Eigenheiten Rücksicht nehmen. Es ist aber immer eine Frage des Verhältnisses. Wer kein Schweinefleisch essen will, der lässt es halt. In Kindergärten und Schulen muss es dann eine Alternative geben.

Schwierig wird die Situation erst dann, wenn der Anspruch erhoben wird, dass alle kein Schweinefleisch mehr essen dürfen. Gleichfalls ist die Forderung, dass Erzieher keine Leberwurstbrote in der Pause essen dürfen, weil sie die Kinder verunreinigen, wenn sie sie hinterher anfassen, schon recht gewöhnungsbedürftig. Mädchen, die nicht schwimmen lernen dürfen, weil man ihre nackten Arme oder Beine sehen könnte, getrennter Sport- und Biologieunterricht, Fahrschulen nur für Frauen, damit diese nicht mit einem fremden Mann allein im Auto sind, Männern nicht die Hand geben wollen oder dürfen, sind solche Dinge.

Ich halte es für ziemlich vermessen, mit welchem Sendungsbewusstsein und welcher Aggressivität selbsternannte Interessensvertreter von Minderheiten dem Land ihre Anspruchserwartungen überstülpen. Muslime zum Beispiel verfügen über einen Anteil von vier Prozent an der Bevölkerung. Im gesellschaftlichen und politischen Alltag hat es jedoch den Anschein, als gäbe es nichts von größerer Bedeutung als den Islam und die Mentalität seiner Gläubigen. Daraus entstehen natürlich Reibungspunkte. Wir leben gemeinsam und nicht in getrennten Welten. Der Mensch eines anderen Geschlechts ist weder ein potenzieller Vergewaltiger noch ist eine Frau ohne Verhüllung eine Schlampe. Tradierte archaische Lebenswelten sind einer liberalen und offenen Gesellschaft fremd.

Warum soll es keinen islamischen Religionsunterricht geben? Es gibt doch auch einen christlichen. Ich bin jedoch dafür, dass die Religionslehrer in Deutschland ausgebildet werden und der Unterricht in deutscher Sprache erfolgt. Wie soll denn jemand einen zeit- und ortsgemäßen Unterricht an die Kinder erteilen, der gerade erst von irgendwo eingereist ist und die Lebensumstände der Kinder hier überhaupt nicht kennt? Ich kann - wie so häufig - nur mit Paracelsus antworten: Auf die Dosis kommt es an.

Sagen Sie uns bitte abschließend, warum es sich für Deutschland lohnt, Zeit, Mühe und Geld in die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu investieren.

Die einfachste und logischste Antwort lautet: Weil es unsere Kinder und Jugendlichen sind. Ob Migrationshintergrund oder nicht - Kinder, die in diesem Land leben, sind ein Teil von uns. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Unsere Verfassung gebietet es und unser Menschenbild auch. Für uns sind die Menschenrechte universell.

Es hat aber auch etwas mit dem Wohlergehen der Gesellschaft zu tun. Deutschland ist ein Einwanderungsland und muss es auch bleiben. Wir "Bio-Deutschen" sind aufgrund unserer niedrigen Geburtenrate nicht mehr in der Lage, den gesellschaftlichen Organismus am Leben zu halten. Bei den unter Fünfjährigen beträgt der Anteil der Einwandererkinder bereits über 35 Prozent. Daraus folgt, dass ein Leben in gewohntem Wohlstand in Zukunft nur mit der Integration der Einwandererkinder möglich sein wird.

Integration ist ohne Bildung nicht möglich. Ohne Bildung ist ein Leben in Wohlstand nicht möglich. Und ohne qualifizierte Arbeitskräfte wird die Wirtschaft die Herausforderungen der Zukunft nicht meistern. Deshalb ist Integration keine Sozialveranstaltung, sondern ein Stück Überlebenstraining unserer Gesellschaft. Wir haben Milliarden Euro in marode Banken gesteckt, weil sie systemrelevant sind. Ist die Jugend von heute als Bevölkerung von morgen das nicht? Ich denke doch. Deshalb halte ich den rituellen Hinweis auf fehlende Finanzmittel zum Umbau des Bildungswesens für wenig überzeugend. Andere Länder der EU jedenfalls sind mit weniger Geld erfolgreicher als wir.

Wer heute an der Integration und Bildung spart, wird morgen ein Vielfaches in Polizei, Justiz und Personenschutz investieren müssen. Die Gesellschaft muss bei der Integration mehr Gas geben. Aber sie darf auch nicht das Selbstbewusstsein verlieren, die in diesem Lande geltenden Werte und Regeln des Zusammenlebens von Einwanderern einzufordern und durchzusetzen. Integration ist ein hartes Stück Arbeit - für alle Beteiligten.

Das Interview führte Daniel Reviol.

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