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Down-Syndrom: Tiago beweist - so gelingt Integration und selbstbestimmtes Leben


Tiago beweist - so gelingt Integration und selbstbestimmtes Leben

t-online, Simone Blaß

15.01.2014Lesedauer: 5 Min.
Tiago hat es geschafft - trotz Down-Syndrom. (Vergrößern des BildesTiago hat es geschafft - trotz Down-Syndrom. (Quelle: privat)
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Heute weiß man, dass Menschen mit Down-Syndrom lange Zeit unterschätzt wurden. Ihre Entwicklung ist zwar verlangsamt und sie brauchen mehr Zeit und Energie, um etwas zu lernen als andere Kinder, aber sie können es lernen. Und bei der richtigen Förderung später ein selbstständiges Leben führen. So wie Tiago Graf - ein Paradebeispiel für gelungene Integration mit großen Plänen.

Die Grundschule weigerte sich das Kind aufzunehmen

Der zweisprachig aufgewachsene Tiago war schon immer an allem interessiert, wollte dazulernen, Dinge selbst machen. Und obwohl man im Kindergarten gleich gegenüber noch nie zuvor ein behindertes Kind betreut hatte, erklärte man sich bereit, es zu versuchen. "Zum Schluss wollten sie den Jungen gar nicht mehr hergeben", erinnern sich seine Eltern amüsiert. Diese Offenheit zog sich allerdings nicht durch die weitere Bildungskarriere. Die Sprengelschule weigerte sich damals, ein Kind mit Down-Syndrom aufzunehmen: "Man war nicht einmal bereit, uns zu einem Gespräch zu empfangen."

Eine Tatsache, die Tiagos Mutter, eine gebürtige Portugiesin, erschreckte: "Ich komme aus einer anderen Mentalität, so eine selektive Erziehung kenne ich nicht. Wir mussten viel kämpfen." Dass Tiago schließlich die Montessori-Schule besuchen durfte, war für seine Eltern damals "wie ein Gewinn im Lotto."

"Individuelles Lernen ist für die Integration das A und O. Hier lernen Kinder von Kindern", erklärt Maria Graf. Sie ist selbst Erzieherin und arbeitet inzwischen als pädagogische Fachkraft an einer Montessori-Schule. "Vom geistig behinderten bis zum hochbegabten Kind ist alles vertreten. So, wie es eigentlich in der Gesellschaft ja auch ist", ergänzt ihr Mann, der Architekt Anton Graf.

Tatkräftige Unterstützung und Integrationsbegleitung

Drei Praktika hat Tiago bereits während der Schulzeit absolviert, später gemeinsam mit Christoph Jahn noch sieben weitere. Christoph Jahn ist von der gemeinnützigen Integrationsbegleitung Access GmbH in Nürnberg. Dort hat man es sich zur Aufgabe gemacht, Menschen mit Behinderung in Form von Qualifizierungspraktika dabei zu unterstützen, den für sie passenden Arbeitsplatz zu finden. Um so auch als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft wahrgenommen zu werden. Tiago Graf ist eines der Beispiele für besonders gelungene Integration. Seit einem halben Jahr arbeitet er inzwischen erfolgreich bei einem Marktforschungsunternehmen - mit unbefristeter Festanstellung.

Berufswunsch: Geheimagent

Tiagos Aufgaben sind Sortierarbeiten und Ablage. Die Post abholen, öffnen und verteilen, Rechnungen scannen und kopieren. Die Aufgaben, die Tiago übernimmt, mögen nicht schwierig erscheinen, aber sie erfordern Gewissenhaftigkeit. "Er ist dabei so ordentlich und korrekt - ich würde ihm meine Bankbelege geben", verrät der Integrationsberater.

Schon während der Praktika in Küchen, bei Verkehrsgesellschaften, in Seniorenheimen und in Bibliotheken habe sich schnell gezeigt, dass Bürotätigkeiten dem jungen Mann am meisten liegen. "Am Anfang hatte Tiago ganz wilde Berufswünsche. Er wollte in einer Pistolenfabrik arbeiten oder auch Geheimagent werden." Jedes Mal, wenn er sich daran erinnert, muss Christoph Jahn schmunzeln. "Aber inzwischen ist er sehr realistisch geworden und hat sich super entwickelt."

"Ich bringe jeden Tag die Sonne mit"

Der heute 20-Jährige kann sein Arbeitstempo selbst bestimmen und ist stolz darauf, dass er auf sich alleine gestellt arbeiten darf. "Nur, wenn ich eine neue Aufgabe bekomme, dann hilft mir Herr Jahn. Ansonsten erledige ich alles allein und gleich. Mein Chef kann stolz auf mich sein."

Das ist er auch. Bernd Wachter, Vorstandsvorsitzender der Psyma Group AG hat die Entscheidung, Tiago Graf einzustellen, bis heute nicht bereut. Im Gegenteil: "Tiago ist wirklich eine Bereicherung für unser Unternehmen. Er nimmt seine Arbeit sehr ernst, gibt sich unwahrscheinlich viel Mühe. Was er macht, macht er extrem akkurat und umsichtig, geradezu vorbildlich und bei den Kollegen ist er sehr beliebt." Sie alle schätzen seine Höflichkeit und seine Fröhlichkeit. "Er scherzt viel und ist ein richtiger Sonnenschein. Wir finden es schön, dass er da ist." Tiago mag seine Kollegen auch. "Sie sind sehr nett, reden mit mir über Fußball, aber auch über Klamotten und Kosmetik. Und sie sagen, ich bringen ihnen jeden Tag die Sonne mit."

Tiago will selbstständig arbeiten

Die betrieblichen Hierarchien zu durchschauen, soziale Regeln im Unternehmen zu erkennen und zu respektieren und Situationen richtig einzuschätzen, das ist für einen Menschen mit Down-Syndrom genauso schwierig wie das abstrakte Denken, zum Beispiel wenn es um den Begriff von Zeit oder den Wert von Geld geht. "Doch Tiago hat sich super entwickelt, ist im betrieblichen Kontext viel reifer geworden und hat sich auch schon hochgearbeitet." Einmal wöchentlich schaut Christoph Jahn noch vorbei, fungiert dabei als Ansprechpartner für beide Seiten: den Betrieb und Tiago. "Er gibt mir Tipps und zeigt mir Tricks, wie ich etwas möglicherweise besser machen kann und dann mach ich es alleine."

"Menschen mit Down Syndrom brauchen Strategien, damit sich bestimmte Prozesse automatisieren können", erklärt Tiagos Mutter. Die Portugiesin hat daher eine Art Tagebuch eingeführt, in dem der junge Mann seine erledigten Aufgaben festhält. Und an dem er sich auch mal selbst festhalten kann.

"Arbeit ist noch schöner als Schule"

Fragt man Tiago, ob es etwas gibt, was er an seiner Arbeit nicht leiden kann, kommt die Antwort prompt: das frühe Aufstehen. "Um halb sieben werde ich schon geweckt und wenn der Zeiger auf drei ist, muss ich los. Ich würde gerne länger schlafen." Doch der Arbeitsweg ist relativ weit und nicht immer einfach zu bewerkstelligen, aber Tiago Graf meistert ihn täglich alleine, eine Dreiviertelstunde pro Weg. Vier Stunden täglich arbeitet er, fast sechs Stunden ist er außer Haus. "Für ihn ist das schon eine ganze Menge", erklärt Tiagos Vater. Und fügt lächelnd hinzu: "Schließlich braucht er auch noch Kraft für all seine Hobbys."

Große Pläne für die Zukunft

Tiago hat viele Freunde, spielt Basketball, tanzt gerne, er geht regelmäßig in die Bibliothek und plant eine eigene Band zu gründen. Und er braucht Zeit für jemand ganz Besonderen: "Die Arbeit macht mir gute Laune, genau wie Theresa!" Theresa ist Tiagos Freundin, sie haben sich beim Hip-Hop kennen- und lieben gelernt.

Die junge Frau ist 24 und hat ebenfalls das Down-Syndrom. Zwei Jahre sind die beiden schon zusammen und ihre Pläne für die Zukunft sind groß: Sie möchten heiraten und eine eigene Wohnung beziehen. "Kein Wohnheim, sondern nur betreuende Unterstützung", so Anton Graf. Seine Wünsche und die seiner Frau gehen damit in Erfüllung: "Es war immer unser Ziel, dass Tiago selbstbestimmt leben und arbeiten kann. Tiago weiß, was er will. Er ist ein erwachsener Mann, der für sich entscheidet und der seine eigenen Träume hat."

Dem größten Traum ein Stückchen näher

Der erste Gehaltsscheck ist immer etwas Besonders und das war auch bei Tiago nicht anders. "Er hat sich so gefreut, war so stolz", erinnert sich sein Chef. Das Geld, das er selbst verdient, bringt den jungen Mann seinem größten Traum etwas näher: Eine Reise in die USA, gemeinsam mit Freundin Theresa, seinen Eltern und seinen Freunden.

"Da mieten wir einen Bus, in den alle reinpassen und dann fahren wir nach Amerika." Der Hinweis seiner Mutter, dass da der Atlantik dazwischenliegt, ist für ihn kein Argument. Schließlich kann man ja auch mit dem Schiff übers Meer fahren, auf das Schiff fährt man mit dem Bus. "So einfach ist das!"

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