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Fachkräfte aus der Ukraine | "Die deutsche Bürokratie zu verstehen, ist wirklich schwierig"


Fachkräfte aus der Ukraine
"Die deutsche Bürokratie zu verstehen, ist wirklich schwierig"


Aktualisiert am 22.08.2022Lesedauer: 7 Min.
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Viktoriia Kramarova: Die Ukrainerin ist aus Charkiw geflüchtet und arbeitet jetzt bei SAP.Vergrößern des Bildes
Viktoriia Kramarova: Die Ukrainerin ist aus Charkiw geflüchtet und arbeitet jetzt bei SAP. (Quelle: Sebastian Weindel)

Menschen aus der Ukraine könnten den Fachkräftemangel lindern. Doch es gibt große Hürden – zum Beispiel die deutsche Bürokratie.

Wenn Viktoriia Kramarova von ihrer Heimat erzählt, spricht sie noch leiser als sonst. Sie kramt in einem grauen Rucksack und holt ihr Handy hervor. Manches kann man nicht aussprechen, nur zeigen. Aus dem Video, das sie nun abspielt, klingt die Stimme ihres Vaters, er sagt etwas auf Ukrainisch, im Hintergrund hört man seine Schritte.

Die Räume, durch die er streift, waren einst das Zuhause der Familie Kramarova. Nun ist der fünfte Stock des Hochhauses zerstört, der Putz abgeplatzt, die Wände sind aschgrau, Fenster und Türen fehlen. Kramarova beißt sich auf die bebende Unterlippe, ihre Augen füllen sich mit Tränen. "Meine Eltern und ich wurden von den Explosionen aus dem Schlaf gerissen", erzählt sie. "Ich bin einfach nur froh, dass meine Familie, meine Freunde am Leben sind."

Entstanden ist die Aufnahme in der ukrainischen Stadt Charkiw, 2.380 Kilometer entfernt von dem Ort, wo die 22-Jährige jetzt sitzt: Walldorf in Baden, ein Städtchen, in dem kaum mehr als 15.000 Einwohner leben – und Deutschlands wertvollstes Unternehmen SAP seinen Hauptsitz hat. Dort arbeitet Viktoriia Kramarova seit Mai als IT-Spezialistin.

Mit ihrem Bachelorabschluss in System Engineering hat sie genau jene Qualifikation, die in Zeiten des Fachkräftemangels so dringend gesucht wird: Laut einer Erhebung des Branchenverbandes Bitkom waren allein im vergangenen Jahr 96.000 Informatiker-Stellen unbesetzt.

SAP hat deshalb bereits im März, nur wenige Wochen nach Beginn der russischen Angriffe auf die Ukraine, überlegt, wie man offene Stellen mit Geflüchteten besetzen könnte. "Wir haben sofort erkannt, dass das hier eine Chance für beide Seiten ist", sagt Sprecher Thomas Leonhardi. Neue Jobs habe man zwar nicht geschaffen, aber den Zugang zu den bestehenden erleichtert.

"Dazu haben wir eine Plattform in Englisch und Ukrainisch aufgesetzt, auf der sich die Bewerberinnen und Bewerber über SAP und unsere Vakanzen informieren können." Insgesamt 26 Stellen habe SAP so mit geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainern besetzen können, knapp 1.000 Bewerbungen habe es gegeben.

Das ukrainische Silicon Valley

Kramarova kennt sich aus mit Computern und Coding, das Programmieren komplexer IT-Anwendungen ist für sie Alltag. Die Ukraine ist bekannt für ihre top ausgebildeten IT-Fachleute. "Ich schätze, gut 70 Prozent meiner Freunde arbeiten auch als Software-Spezialisten", erzählt Kramarova auf Englisch. "Diese Jobs sind wahnsinnig beliebt in der Ukraine."

Das gilt besonders für ihre Heimatstadt Charkiw, das viele das ukrainische Silicon Valley nennen. Vor dem Krieg waren dort 450 IT-Firmen niedergelassen, die mehr als 25.000 IT-Fachkräfte beschäftigten. Wie Viktoriia Kramarova sind viele von ihnen in die Westukraine oder die Europäische Union geflohen. Theoretisch können sie von überall arbeiten, die Sprache der Codes ist universell.

Können also ukrainische Computerexperten wie Kramarova das Fachkräfteproblem lösen?

Bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) gibt man sich in dieser Frage eher zurückhaltend. In der Regel hätten Geflüchtete einen befristeten Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen. "Ob Fachkräfte, übrigens nicht nur aus der IT-Branche, dauerhaft dem deutschen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, hängt von den weiteren, auch politischen Entwicklungen sowie den individuellen Wünschen und Voraussetzungen der Geflüchteten ab", sagt ein BA-Sprecher auf t-online-Anfrage. Auch Viktoriia Kramarova möchte zurück in die Heimat, wenn der Krieg vorbei ist. "Aber es ist schwer zu sagen, wann das sein wird."

Zum aktuellen Zeitpunkt ist außerdem unklar, wie viele IT-Fachkräfte aus der Ukraine überhaupt in Deutschland ankommen. Angaben zu Bildungsabschlüssen seien bislang noch nicht ausreichend erfasst. "Die genaue Anzahl von IT-Fachkräften zu ermitteln, könnte aber auch deshalb schwierig werden, weil viele sich direkt bei den Unternehmen melden und nicht über die Jobcenter vermittelt werden", heißt es von der Arbeitsagentur. "Da hilft, dass viele gut Englisch sprechen oder von Privatpersonen bei der Jobsuche unterstützt werden."

Eine Chance für den Arbeitsmarkt

Und doch: Grundsätzlich rechnen die Arbeitsmarktexperten durchaus mit mehr Zuwanderung von gut ausgebildeten Personen aus der Ukraine. "Dies kann als eine Chance für den deutschen Arbeitsmarkt gesehen werden." Dabei komme den Arbeitgebern eine besondere Bedeutung zu. Soll heißen: Wer gute Leute will, die in Deutschland neu anfangen, muss sich um sie auch bemühen. So wie SAP.

Bei Kramarova war das jedoch nicht nötig. Sie ist nicht über das Bewerberportal auf SAP aufmerksam geworden, ihre Geschichte nimmt einen kleinen Umweg. Er beginnt mit einem Zufall: Als sie mit ihrer Mutter in Deutschland ankommt, veröffentlicht sie einen Beitrag bei Facebook, über den sie Unterschlupf bei einer Sozialarbeiterin in Kassel findet. Über eine Freundin dieser Sozialarbeiterin wiederum gelangt Kramarovas Lebenslauf schließlich zu SAP und ihrem jetzigen Chef.

"Nach dem Vorstellungsgespräch bekam ich die Nachricht, dass sie mich anstellen wollen", sagt Kramarova und lächelt schüchtern. Die zierliche Frau sitzt in einem schlichten Besprechungsraum, ihre schwarzen Haare fallen in langen Wellen über ihre Schultern.

Ihre Arbeitsumgebung, Walldorf, der Firmencampus sind ihr inzwischen vertraut. Seit nunmehr zwei Monaten arbeitet Kramarova in Gebäude Nummer 8 des IT-Parks. Ein grauer Betonklotz aus den 70er Jahren, das allererste Büro auf dem Betriebsgelände in Walldorf.

Wo SAP-Gründer Dietmar Hopp einst den Grundstein für den Unternehmenserfolg legte, tüftelt die 22-Jährige nun an Programmen, damit die SAP-Programme auf den Bildschirmen der Kunden übersichtlich aussehen. Unter anderem sorgt sie dafür, dass sich hinter jeder bunten Schaltfläche die richtige Funktion verbirgt.

Fragt man Kramarova, wie man sich ihren Alltag als Frontend-Entwicklerin vorstellen kann, klingt ihre Antwort fast lapidar: "Ich schreibe den ganzen Tag lang Codes." Ihr gefalle der Moment, wenn die endlos langen Reihen von Buchstaben, Zahlen und Zeichen sich plötzlich zu einer App visualisierten. "Ich arbeite nicht nur mit Daten, ich designe auch."

Parallel ein Masterabschluss in System Engineering

Nach Feierabend ist Kramarova damit beschäftigt, für ihren Master in System Engineering zu lernen. Das Studium hat sie bereits im vergangenen Jahr in Charkiw begonnen. "Von Februar bis April konnte ich nicht studieren", erzählt sie. "Aber dann wurde die gesamte Ausbildung ins Digitale verlegt. Meine Dozenten schicken mir regelmäßig Aufgaben, die bearbeite ich dann nach Feierabend und schicke sie per Mail zurück."

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Die Bundesagentur für Arbeit vermittelt die Geflüchteten vorrangig in Integrationskurse und berufsbezogene Sprachkurse, um die "nicht oder nur eingeschränkt vorhandenen deutschen Sprachkenntnisse" zu verbessern. Oft sind solche Kurse auch nötig. Laut SAP-Sprecher Leonhardi sei die größte Hürde bei der Einstellung von Geflüchteten tatsächlich die Sprache.

SAP ist in der Ukraine kaum bekannt

"Wir setzen nicht voraus, dass jemand Deutsch kann", sagt er. "Aber ein gewisses Niveau in Englisch muss ein Bewerber oder eine Bewerberin mitbringen, sonst wird es im täglichen Zusammenarbeiten einfach schwierig."

Schwierig für die deutsche Wirtschaft ist allerdings auch, dass viele der Neuankömmlinge die Firmen hierzulande kaum kennen. Obwohl SAP zu den wertvollsten Unternehmen Deutschlands zählt, hatte Viktoriia Kramarova in der Ukraine noch nie davon gehört. Das Land ist für den Softwarekonzern nicht allzu bedeutend, die meisten Entwickler sitzen in Deutschland, den USA oder Indien. Lediglich ein kleines Büro unterhält SAP in Kiew.

Buddy-Programm soll bei der Integration helfen

"Sehr überrascht, aber im positiven Sinne" sei Kramarova gewesen, als sie dann am 2. Mai ihren ersten Arbeitstag am Stammsitz in Walldorf hatte. Allein die Größe des Firmengeländes habe sie überwältigt. "Hier gibt es alles: eine Sparkasse, einen Friseur, ein Fitnessstudio. Im Grunde genommen könnte man hier leben." 14.000 Menschen arbeiten auf dem Betriebsgelände. Eine IT-Enklave südlich von Heidelberg.

Um neuen Mitarbeitern das Ankommen im Job zu erleichtern, gibt es bei SAP seit einigen Jahren ein sogenanntes Buddy-Programm. Das Prinzip: Ein bestehender Mitarbeiter kümmert sich um den neuen, ist für Fragen ansprechbar und sorgt dafür, dass er sich gut einfindet. "Vor allem für die Ukrainerinnen und Ukrainer ist das eine große Unterstützung", so Thomas Leonhardi.

Gegenseitige Unterstützung

Die geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainer werden bei SAP speziell mit ukrainischen Kollegen, die schon vor dem Krieg im Unternehmen gearbeitet haben, vernetzt. Ein ukrainischer Mitarbeiter koordiniert das Programm und organisiert regelmäßig gemeinsame Mittagessen in einer der Betriebskantinen auf dem Gelände.

Für Kramarova ist es ein wenig Vertrautheit, mit anderen Ukrainern sprechen zu können, erzählt sie. Von einer ukrainischen Kollegin hat sie Hilfe bei der Wohnungssuche erhalten, konnte nach den Besichtigungen bei ihr übernachten.

Am Ende ist sie bei einer französischen Familie mit zwei kleinen Kindern im Nachbarort St. Leon-Rot untergekommen. Dort hat sie ein eigenes Zimmer. Die Mutter arbeitet ebenfalls bei SAP. Miete verlangen ihre Gasteltern nicht von Kramarova. "Es ist ihnen sehr wichtig, Ukrainern zu helfen", erzählt sie. Dafür sei sie sehr dankbar. "Insbesondere bei den administrativen Sachen brauche ich Unterstützung. Die deutsche Bürokratie zu verstehen, ist wirklich schwierig."

Was sie damit auch meint: Im Vergleich zu ihrer Heimat wirkt in Deutschland manches antiquiert. Bevor sie in Walldorf ankam, habe sie noch nie Briefe von einer Behörde erhalten, so Kamarova. "Alles war digital in der Ukraine, persönliche Termine bei Ämtern brauchte man fast nie."

Mit ihrer Gastfamilie, die Englisch, Deutsch und Französisch spricht, versteht sich Kramarova gut. Oft wird gemeinsam gegessen oder abends gegrillt. Lustig sei es bisweilen, sagt sie. Beginnt sie bereits, sich in Deutschland zu Hause zu fühlen? "Nein", sagt sie leise und schüttelt den Kopf. Zu sehr beschäftigt sie der Krieg daheim, zu groß sind die Sorgen um ihre Familienangehörigen, die noch immer in der Ukraine leben.

Hoffen auf einen unbefristeten Vertrag

SAP bietet für die Geflüchteten auch anonyme psychologische Beratung durch Fachleute an. Außerdem können sie kostenlose Rechtsberatung, Gesundheitsberatung, Sprachkurse sowie Weiterbildungen in Anspruch nehmen. Auf einem internen Portal sind alle Angebote gebündelt.

Aktuell ist die Stelle von Viktoriia Kramarova auf sechs Monate befristet. "Natürlich ist das Ziel für befristete Verträge, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einen entfristeten Vertag zu bekommen", so Leonhardi von SAP. Hierzu müssten allerdings erst neue Stellen genehmigt werden. Angesichts der abkühlenden Konjunktur hat SAP erst im Juli einen Einstellungsstopp verhängt, Neueinstellungen sollen ins nächste Jahr verschoben werden.

"Ich hoffe sehr, dass ich weiterhin bei SAP arbeiten kann", sagt Viktoriia Kramarova. Als sie am Bahnsteig von Charkiw in ein neues Leben aufgebrochen ist, sei es nur darum gegangen, sich und ihre Mutter in Sicherheit zu bringen. Wer hätte ahnen können, wie viel Glück sie inmitten all des Unglücks haben würde? Auf Kramarovas T-Shirt steht "As beautiful as possible". Sie hat es in Deutschland gekauft.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
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