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Nach Tod der Queen: "Da braut sich der perfekte Sturm zusammen"


Briten im Krisenmodus
"Da braut sich der perfekte Sturm zusammen"

Von Camilla Kohrs, London

Aktualisiert am 15.09.2022Lesedauer: 5 Min.
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Polizisten nehmen am Rand der Trauerfeierlichkeiten für die Queen einen Mann fest: Während Großbritannien um Elizabeth II. trauert, wird die wirtschaftliche Lage für viele Menschen schlechter. (Quelle: Kin Cheung/AP/dpa)

Die Preise steigen auch im Vereinigten Königreich massiv – und viele Briten blicken in einen unsicheren Winter. Unterwegs in einem armen Vorort Londons.

Fast übermächtig thront der Bildschirm über dem zentralen Platz des Londoner Stadtteils Woolwich. BBC1 läuft da und das heißt in diesen Zeiten: Berichterstattung über die tote Queen, über Charles, über andere Mitglieder der royalen Familie.

Statt eines Sitzkissens hat sich Nijole-Margarita eine Zeitung auf die Stufen aus Stein gelegt, die den Platz überziehen. Sie will den ganzen Nachmittag hier zuschauen. Traurig sei sie wegen der Queen, das sei eine ehrliche Frau gewesen, sagt sie. Aber wie viele Millionen die Königsfamilie bekommt, wundere sie schon. Vor allem, weil sie selbst sich das Leben in London kaum noch leisten könne. Sie kommt aus Litauen, ist vor elf Jahren nach England gezogen – "als es noch Europa war", sagt sie.

Nachts arbeitet sie im Krankenhaus, bereitet das Frühstück vor, passt auf die Patienten auf. Noch vor einem halben Jahr gab sie 40 Prozent ihres Gehalts für die Wohnung und ihr Nahverkehrsticket aus, nun sind es 60, sagt sie. Beim Essen spare sie, damit sie sich auch mal etwas Neues zum Anziehen kaufen könne.

"Da braut sich der perfekte Sturm zusammen"

Nicht nur in Deutschland, auch in Großbritannien sind die Preise massiv gestiegen. Im Königreich sogar nochmal deutlich stärker. Gas, Strom, Lebensmittel – für alles müssen die Briten tiefer in die Tasche greifen. Das trifft vor allem die hart, die ohnehin schon wenig haben, wie viele in Woolwich im Londoner Bezirk Greenwich. Es ist einer der Bezirke, die in der Negativliste oft weit oben stehen: Die Zahl der Menschen, die sterben, bevor sie 75 sind, ist hoch, es gibt viele Schulabbrecher, mehr als 40 Prozent der Kinder leben unter der Armutsgrenze.

"Da braut sich der perfekte Sturm zusammen", sagt Anthony Okereke. Er ist Ratsherr von Greenwich, der Vorsteher der lokalen Regierung. Die steigenden Preise, die Folgen von Corona, das bringe immer mehr Menschen in Schwierigkeiten. Mit seinen Mitarbeitern führte er Ende August eine Umfrage unter 1.200 Bewohnern durch.

Das Ergebnis hat auch ihn schockiert: Mehr als 50 Prozent sparen an Lebensmitteln, mehr als 40 Prozent an ihrem Energieverbrauch, 26 Prozent lassen gar Mahlzeiten aus – weil sie es sich nicht mehr leisten können. Okereke macht sich nun Sorgen, was im Winter passiert, wenn die Menschen auf das Heizen verzichten, besonders weil einige Häuser nicht gut isoliert sind. "Wir wollen nicht, dass kalte Wohnungen und die fehlende Möglichkeit, Wohnungen zu heizen, die Menschen gefährden."

Preise steigen, Gehälter stagnieren

Der Bezirk steuert dagegen an, sagt er. Kinder, deren Eltern Sozialleistungen beziehen, bekommen Mahlzeiten an den Schulen gesponsort. Es gibt Beratungsstellen, auch eine kostenlose Hotline, die Menschen in Not anrufen können. Doch die Möglichkeiten der Bezirke seien begrenzt: In den vergangenen Jahren sind die Budgets für die Councils zusammengestrichen worden – und somit auch der Spielraum, steuernd eingreifen zu können, wie der Oppositionspolitiker von der Labour-Partei kritisiert. Und nicht nur darunter leiden die ärmeren Viertel wie Greenwich. Auch soziale Unterstützungsleistungen seitens der Regierung sind immer weiter heruntergefahren worden.

Einer, der das unfair findet, ist Wehidullah. Er arbeitet in einem kleinen Lebensmittelladen im Zentrum von Woolwich. "Das Gehalt bleibt das gleiche, aber die Preise steigen", sagt er. Viele Kunden berichteten ihm darüber, dass sie immer weiter unter den steigenden Kosten leiden. Anders als Nijole-Margarita meint er nicht, dass das Königshaus zu viel Geld bekomme. "Jeder liebt hier die Queen", sagt er und zeigt auf den Platz um sich herum. Eher würde die Regierung den Energieunternehmen zu viel zugestehen, sie etwa nicht zu günstigeren Preisen verpflichten.

Die Preiskurve geht steil nach oben: Bis Juli sind die Gaspreise allein in diesem Jahr um 96 Prozent gestiegen, die Strompreise um mehr als 50 Prozent. Ein Ende ist nicht in Sicht. Die britische Regierung unter der neuen Premierministerin Liz Truss plant nun, den Gas- und Strompreis einzufrieren, für einen durchschnittlichen Haushalt bei jährlich 2.500 Pfund (2.800 Euro). Diese Preisgarantie gilt für den durchschnittlichen Verbrauch. Wer also mehr verbraucht, bezahlt auch mehr Geld. Das System ersetzt einen Preisdeckel, der zuvor einen Maximalwert pro Kilowattstunde festgelegt hat: Im Sommer lag der Deckel dadurch bei etwa 2.000 Pfund jährlich für einen durchschnittlichen Verbrauch, im vergangenen Winter bei rund 1.300.

Teurer Regierungsplan

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Ratsherr Okereke möchte, obwohl er selbst zur Labour-Partei gehört, sich mit einem Urteil über die neue Premierministerin von den Tories noch zurückhalten. Die Vorzeichen aber sind in seinen Augen nicht gut: "Ihre Kampagne war ohne Zweifel entmutigend", sagt er. "Sie ist als nicht als eine Politikerin aufgetreten, die eine Vision für ein neues Großbritannien hat, für alle da sein möchte", sagt er. Dennoch: "Die Jury ist noch nicht draußen", sagt er – in Anspielung an US-amerikanische Gerichtsverfahren, in denen sich die Jury in einen Hinterraum zurückzieht, um ein Urteil zu fällen. Aber die Premierministerin müsse sich nun wirklich schnell steigern.

Europäer verlassen das Viertel

Okereke selbst ist zur Politik gekommen, nach dem es 2011 zu gewaltvollen Ausschreitungen in London kam, wie er mal in einem Interview erzählte. Als Student hat er die Bilder gesehen, auch in Woolwich brannte es damals, und entschieden, selbst aktiv zu werden. Ob er nun wieder Ausschreitungen fürchte? "Ich hoffe es nicht", sagt er und wiederholt den Satz direkt noch einmal. Ganz sicher klingt er dabei nicht. Was ihm aber Hoffnung mache, ist, dass die Gemeinschaft eng zusammenhalte, sich die Menschen in dem Viertel gegenseitig unterstützen.

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Ein Beispiel dafür ist Patricia. Jeden Sonntag steht sie derzeit in der Fußgängerzone, verteilt gemeinsam mit anderen Mitgliedern ihrer Kirche Lebensmittel. Tags zuvor holen sie diese bei Salisbury ab, einer großen Supermarktkette. Die drei bleiben nicht lange in der Fußgängerzone, die Tüten mit Konserven, Brot und Obst sind schnell leer. Es kämen bereits viel mehr Menschen, sagt sie. "Wenn sie hier was zu essen bekommen, können sie ihr Geld für Energie ausgeben."

Zurück zu Nijole-Margarita. Eigentlich mag sie ihre Arbeit im Krankenhaus. Nun überlegt sie, zurück nach Litauen zugehen. Es lohne sich einfach nicht mehr. Auch Okereke berichtet, dass viele Europäer seit dem Brexit das Land und damit auch den Bezirk verlassen haben, um auf den Kontinent zurückzukehren.

Wann sie gehen wolle? Sie zuckt die Schultern. "Spätestens wenn 1.000 Pfund 1.000 Euro sind." Auf dem Bildschirm ist nun der Sarg zu sehen, der die Queen aus ihrem schottischen Landsitz nach Edinborough bringt. "Das ist wichtig", sagt sie und dreht sich zum Bildschirm. Damit ist auch das Gespräch beendet.

Verwendete Quellen
  • Recherche in Greenwich und Woolwich
  • Telefongespräch mit Anthony Okereke
  • trustforlondon.org.uk: Greenwich
  • Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
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