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Israel | Vater sucht verzweifelt Sohn: "Etwas abgrundtief Böses am Werk"


Vater vermisst acht Familienmitglieder
"Hier ist etwas abgrundtief Böses am Werk"

  • Daniel Mützel
Von Daniel Mützel

Aktualisiert am 13.10.2023Lesedauer: 7 Min.
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Israelische Streitkräfte bergen Leichen von israelischen Bewohnern aus einem zerstörten Haus.Vergrößern des Bildes
Israelische Streitkräfte bergen Leichen von israelischen Bewohnern aus einem zerstörten Haus. (Quelle: Ilia Yefimovich/dpa)

Nach den Terrorangriffen der Hamas sucht ein israelischer Vater verzweifelt seinen Sohn. Dabei vertraut er lieber österreichischen und deutschen Behörden.

Von Daniel Mützel, Israel

Gilad Korngold steht in seiner Wohnküche und reißt die Arme in die Luft. "Das ist die erste gute Nachricht seit Tagen!"

Gerade hat den Familienvater ein Anruf erreicht: Das Handy seines vermissten Sohnes Tal ist offenbar im Gazastreifen geortet worden. Auch von Tals Frau Adi hat ein Freund in der Armee Handysignale abgefangen, allerdings an einem anderen Ort. Korngold, der mit seiner Familie im Kibbuz Gvulot rund 30 Kilometer vom Gazastreifen entfernt lebt, überrascht das nicht: "Wir haben schon gehört, dass sie die Männer von den Frauen trennen. Ich hoffe nur, dass die Kinder bei der Mutter sind."

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Quelle: t-online

Korngolds Sohn, der 30-jährige Tal, dessen Frau Adi (38), ihre beiden Kinder Nave (8) und Yahel (3) und vier weitere Verwandte sind seit den Terrorangriffen der Hamas am vergangenen Wochenende verschwunden. Korngold vermutet, ja hofft, dass sie sich in der Gewalt der Islamisten befinden und noch leben. Doch sicher kann er sich nicht einmal darüber sein. Die israelischen Behörden sind auch fünf Tage nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel noch immer dabei, die Toten in den Kibbuzim nahe des Gazastreifens zu bergen und zu identifizieren.

Hoffen auf Deutschland und Österreich

Jeden Tag werden dabei neue Gräueltaten bekannt, die die Hamas im Süden Israels beging: Im Kibbuz Kfar Azza etwa sollen Islamisten Babys enthauptet haben, im Nachbarort Be’eri, wo Korngolds Familie verschleppt wurde, sollen Menschen lebendig verbrannt worden sein.

Korngold kennt all diese Nachrichten. "Ich versuche, ruhig zu bleiben", sagt er und wirkt dabei sogar überzeugend. Bei der Suche nach seiner Familie vertraut der Familienvater jedoch nicht auf die Regierung von Benjamin Netanjahu, sondern auf zwei europäische Staaten, die machtpolitisch wenig zu melden haben in der Region, sich aber bei Verhandlungen einen Ruf als neutrale Vermittler erarbeitet haben: Österreich und Deutschland.

Korngold, ein kleiner, freundlicher Mann Anfang 60, arbeitet als IT-Fachmann. Er hat wie sein Sohn Tal die österreichische und die israelische Staatsbürgerschaft, seine Schwiegertochter Adi und die beiden Enkel sind Deutsch-Israelis. Korngold hofft, dass Wien und Berlin im Hintergrund bereits an einer Lösung feilen und am Ende seine Familie aus den Fängen der Terroristen freibekommen werden. "In der österreichischen Botschaft kennt jeder den Namen Tal!", sagt Kornblum. Auf die israelischen Behörden will er nicht warten: "Kannst du vergessen. Die haben anderes zu tun."

"Ich kann das nicht kontrollieren"

Er weiß aber auch, dass seine Hoffnung in die Europäer vergeblich sein könnte. Niemand weiß, wie sich der Krieg noch entwickelt, keiner kennt die Agenda der Hamas.

Doch den Gedanken scheint Korngold gar nicht an sich heranzulassen. Seine Gelassenheit wirkt so überzeugend, als hätte er die Rolle einstudiert. Kann man ruhig bleiben, wenn die halbe Familie von Terroristen verschleppt und vielleicht massakriert wurde? Korngold kann. "Ich kann das nicht kontrollieren, ich bin so", sagt er.

Seine Frau Nitza bringt Soda mit Eiswürfeln und Schokowaffeln, stellt sie auf den Holztisch im Wohnzimmer und lässt ihren Mann mit den Gästen alleine. Sie will nicht über die Vermissten reden, zumindest nicht mit Journalisten. Mor, 28 Jahre, Korngolds zweiter Sohn, wuselt durch das Haus, ruft an, wird angerufen, versorgt den Vater mit den wichtigsten Neuigkeiten. Beginnt die israelische Bodenoffensive? Feuert die Hamas Raketen auf den Kibbuz? Jede Nachricht kann das Leben der Korngolds schlagartig verändern.

"Wo ist die Armee?"

Der Tag, an dem Korngolds halbe Familie verschwand, begann am 7. Oktober um 6 Uhr morgens. Der Vater merkte schnell, dass das Donnern der Raketen aus dem Gazastreifen diesmal anders war. Es hörte nicht mehr auf. Tausende Raketen soll die Hamas an diesem Tag auf ganz Israel abgefeuert haben, bevor sie mit einem Bulldozer den Grenzzaun niederdrückte und Hunderte Terroristen auf israelisches Gebiet vorrückten.

Davon wusste Korngold zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Er schrieb mit seinem Sohn auf WhatsApp, der mit seiner Familie Verwandte im Kibbuz Be’eri wenige Kilometer von Korngold entfernt besuchte. Er wollte wissen, wie es seinem Sohn und der Familie ging, erzählt Korngold. Doch Tal schrieb ihm, er könne gerade nicht, er halte die Türklinke zum Schutzbunker fest, damit niemand von außen eindringen könne. Wer auf der anderen Seite der Tür stand, erfuhr der Vater nicht. Dann war die Verbindung weg.

Wenig später überschlugen sich die Nachrichten in einer WhatsApp-Gruppe, in der sich die Mitglieder von Kibbuzim in der Region organisieren. "Wir werden angegriffen", schrieb einer, "das sind professionelle Terroristen", ein anderer. Und immer mehr fragten verzweifelt: "Wo ist die Armee?"

Ein "intelligenter" Zaun, der einem Bulldozer nicht standhielt

Während Korngolds Kibbuz Gvulot weitgehend verschont blieb, traf es Be’eri umso härter: Von den 1.200 Bewohnern, die dort vor den Terrorangriffen lebten, wurden rund 10 Prozent getötet – 108 Zivilisten erschossen, verbrannt, enthauptet.

"Wie kann die stärkste Armee des Nahen Ostens so versagen?", fragt Korngold aufgebracht. "Zwei Tage lang haben wir nichts gehört. Sie bauen einen 'intelligenten"' Zaun für 1,5 Milliarden Schekel, der sich mit einem einfachen Bulldozer wegschieben lässt?" Es sind Fragen, die sich gerade Millionen Israelis stellen.

Korngolds Ruhe ist nur für einen kurzen Moment verschwunden, dann sagt er wieder sanft: "Ich beschuldige niemanden. Noch nicht."

"Terroristen sind in der Nähe, wir müssen sofort weg!"

Der Vater führt nach draußen zum Kibbuz-eigenen Swimmingpool. Zwei Straßen weiter können sich die Korngolds und die anderen Gvuloter an warmen Tagen für gewöhnlich abkühlen. Hier hat Korngold Tal das letzte Mal gesehen, das war vor Monaten. Doch bevor der Vater die Geschichte erzählen kann, ruft Mor plötzlich: "Die Armee hat geschrieben: Terroristen sind in der Nähe, wir müssen sofort weg!"

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Vater und Sohn rennen die Straße zurück zum Haus, um in den Schutzbunker zu flüchten. "Habt keine Angst", keucht Korngold. In der rechten Hand hält er eine Pistole, die er zum Schutz bei sich trägt, sobald er das Haus verlässt. Kurz bevor er in die Einfahrt biegt, zeigt Korngold auf die Straße, die nach Osten führt. "Dort in der Nähe sollen sie sein", ruft Korngold.

Im Bunker des Hauses wartet bereits der Rest der Familie. Sechs Menschen und zwei Reporter drängen sich in dem kleinen Schutzraum, der vor Raketenangriffen schützen und feuersicher sein soll. Es gibt Wasser und Süßigkeiten, ein Bett sowie einen großen Fernseher, auf dem die israelischen Nachrichten neue Raketenangriffe der Hamas vermelden.

Nach einer Stunde schickt das israelische Militär über WhatsApp eine Entwarnung. Für die Korngolds wie für alle Israelis ist all das nicht ungewöhnlich: Raketenbeschuss, die regelmäßige Flucht in den Bunker. Anders ist nur, dass es nun täglich passiert, oft mehrere Male.

"In der zweiten Phase sehen wir Geiseln in Bussen"

Trotz der mehr als hundert Geiseln, die sich in der Gewalt der Hamas im Gazastreifen befinden, bereitet die israelische Armee aktuell eine Bodenoffensive vor. Korngold sieht das gelassen: "Das ist in Ordnung, sie wollen keine Schwäche zeigen." Er ist sicher, dass die Hamas verhandeln will. Auch deren Ankündigung, für jedes zivile Gebäude, das die Israelis in Gaza beschießen, eine Geisel zu exekutieren, beunruhigt ihn nicht.

"Das ist eine Drohkulisse, die erste Phase der Verhandlungen. In der zweiten sehen wir Geiseln in Bussen auf dem Weg nach Israel." Woher er das Vertrauen und die Kraft nimmt, seine Fassung zu bewahren, Korngold kann es nicht erklären: "Ich kann das nicht kontrollieren. So ist es eben."

Dann piept sein Telefon, eine WhatsApp-Nachricht erscheint auf dem Display. Korngold schaut auf sein Handy, liest, stockt. "Bitte sag‘ mir, was da steht." Er ist zu aufgewühlt, um weiterzulesen und reicht dem Reporter das Handy. Eine Bekannte hat ihm einen Nachrichtenartikel der österreichischen "Kleinen Zeitung" geschickt: Ein vermisster Österreicher sei tot aufgefunden worden, steht darin. Er sei "Opfer des brutalen Großangriffs der Terrororganisation Hamas auf Israel" geworden, wird eine Meldung des österreichischen Außenministeriums zitiert.

"Fuck"

"Meinen die Tal?", fragt Korngold mit Verzweiflung in der Stimme. Aus der Meldung geht nicht hervor, um wen genau es sich handelt. Doch Korngold weiß, dass offiziell drei Österreicher als vermisst gelten. Das heißt, dass sein Sohn mit einer 33-prozentigen Wahrscheinlichkeit tot sein könnte. Man sieht Korngold an, dass er gerade genau das denkt. "Fuck", brüllt er durchs Wohnzimmer und sprintet mit dem Handy vor die Haustür.

Ein Anruf bei der österreichischen Botschaft bringt Gewissheit: Der Tote ist nicht Tal. Korngold kommt zurück ins Wohnzimmer. Die ganze Zeit hat er versucht, stark zu sein, die Fassung zu wahren. Jetzt ist davon nicht mehr viel übrig. Der Gedanke, dass sein Sohn tot irgendwo in Gaza liegt, hat ihn in Sekunden niedergeschmettert. Er entschuldigt sich für seinen kurzen Ausbruch. Eingesunken in einen weißen Ledersessel sitzt er da, seine Augen sind feucht.

Dann klingelt erneut das Telefon. Die israelischen Behörden wollen wissen, ob er Neues von Tal gehört hat. "Was machen die? Scheiß' auf die!", ruft er. "Sie fragen uns nach Neuigkeiten über meinen Sohn? Die kannst du vergessen."

"Wenn mein Sohn tot ist, weiß ich, wer schuld ist"

Er schläft wenig, sagt er, fühle sich ausgelaugt und schwach. "Wenn mein Sohn tot ist, weiß ich, wer schuld ist." Die Hamas? Kornblum schüttelt den Kopf und sagt leise "Bibi“. Korngold spricht damit aus, was eine wachsende Zahl an Israelis denkt: Dass der israelische Premier Benjamin Netanjahu zu viel mit den Korruptionsermittlungen gegen sich und den landesweiten Protesten gegen seine Regierung beschäftigt war, statt das Land vor Bedrohungen zu schützen. "Unsere Feinde haben gespürt, dass wir schwach und zerstritten sind. Und sie haben den Moment genutzt, um einen zweiten Holocaust anzurichten", sagt Korngold.

Er scheint die Hoffnung verloren zu haben, dass Israelis und Palästinenser friedlich koexistieren können. "Wenn meine Familie zurück ist, soll die israelische Armee machen, was sie will. Macht den Gazastreifen platt und baut danach ein neues Gaza auf. Mit schönen Häusern, mit Menschen, die Hoffnung haben."

Was Korngold mit "Gaza plattmachen" meint, möchte er nicht weiter ausführen. Sehnt er sich nach Rache an den Palästinensern? "Ich weiß es nicht. Es geht einfach nicht in meinen Kopf hinein, wie man Babys enthaupten kann. Hier ist etwas abgrundtief Böses am Werk."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche in Gvulot
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