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In Russland breitet sich ein Stalin-Kult aus


"Brauchen etwas, das uns eint"
In Russland breitet sich ein seltsamer Stalin-Kult aus

Von ap, t-online
19.12.2015Lesedauer: 4 Min.
Stalin-Kult in Russland zum 70. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland.Vergrößern des BildesStalin-Kult in Russland zum 70. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland. (Quelle: Reuters-bilder)
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In Russland schießen immer mehr Stalin-Museen und -Büsten aus dem Boden. Kein Anlass scheint dafür nichtig genug zu sein. Das neueste Museum steht im Dorf Choroschewo, wo der Diktator eine Nacht verbracht haben soll. Menschenrechtler sind alarmiert.

Stalin besuchte Choroschewo im August 1943 während seines einzigen Frontbesuchs im Zweiten Weltkrieg. In der Ortschaft soll er sich mit seinen Generälen beraten haben.

Im Vorgarten des neuen Museums prangt eine Büste von Josef Stalin. Im Inneren führt Museumsdirektorin Lydia Koslowa eine Gruppe von Schülern durch die beiden Ausstellungsräume.

Angesichts der zunehmenden internationalen Isolation Russlands und seiner wirtschaftlichen Probleme scheint sich das Land immer stärker auf Triumphe der Vergangenheit zu besinnen. Präsident Wladimir Putin verweist regelmäßig auf den sowjetischen Sieg im Zweiten Weltkrieg - Stalins meist gepriesene Errungenschaft - wenn er Entschlossenheit demonstrieren möchte, die Interessen Russlands gegen den Westen zu verteidigen.

Stalin in einem günstigeren Licht

"Wir haben selbstverständlich angefangen, Stalin in einem günstigeren Licht zu betrachten", sagt Sergej Saborowski, der als Reiseleiter für die Militärhistorische Gesellschaft arbeitet. "Warum ausgerechnet jetzt? Vielleicht liegt es daran, dass die Lage in der Welt nicht die beste ist. Wir brauchen Stärke. Wir brauchen etwas, das uns eint."

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 pflegte die Kommunistische Partei Stalins Andenken weiter. Die Mitglieder zeigten bei Kundgebungen sein Porträt, rühmten seine Modernisierungspolitik und feierten treu seinen Geburtstag am 21. Dezember.

Inzwischen geht man davon aus, dass der Diktator in Wahrheit am 18. Dezember geboren wurde. Doch die Kommunisten werden trotzdem bis Montag warten, bis sie Blumen an seinem Grab auf dem Roten Platz niederlegen.

Nach Stalins Tod 1953 war sein Leichnam zunächst im Lenin-Mausoleum beigesetzt worden. Acht Jahre später wurden die Überreste aber auf einen Friedhof umgebettet, nachdem sein Nachfolger Nikita Chruschtschow den Personenkult um Stalin verurteilt hatte.

Der Rest des Kommunismus

Inzwischen sind die alternden Kommunisten zwar noch ein beliebtes Fotomotiv, aber politisch weitgehend unbedeutend geworden. Doch ihre geschönte Version von Stalin ist von einer Randerscheinung zum Mainstream aufgestiegen. Die Zahl der Russen, die nach eigenen Angaben ein schlechtes Bild von Stalin haben, geht ständig zurück, von 43 Prozent im Jahr 2001 auf heute nur noch 20 Prozent. Eine wachsende Mehrheit erklärt, sie könne sich kein Urteil über die Amtszeit des Herrschers erlauben.

Vor allem in diesem Jahr zum 70. Jahrestag des Siegs im sogenannten Großen Vaterländischen Krieg, wie er in Russland genannt wird, hat sich der Stalin-Kult verstärkt.

Das Museum in Choroschewo, drei Auto-Stunden von Moskau entfernt, ist eines von mehreren, die die Militärhistorische Gesellschaft seit Jahresbeginn in der Region Twer eröffnete. Die Gesellschaft untersteht dem russischen Kulturministerium. Das kleine Stalin-Museum ist Teil einer Gedenkroute mit dem Namen "Pfad zum Sieg", die auch an Kriegsdenkmälern und einem im Krieg ausgebrannten Gebäude entlangführt.

Nur die guten Seiten Stalins

Die Ausstellung konzentriert sich auf die militärischen und wirtschaftlichen Erfolge Stalins. Weder über militärische Schwächen noch über andere Schattenseiten des Kriegs oder von Stalins 30-jähriger Amtszeit wird ein Wort verloren. Auf den Vorwurf, das Museum vermittle Besuchern ein einseitiges Bild, reagiert Direktorin Koslowa barsch. Ähnlich brüsk wird sie im Gespräch über "westliche" Geschichtsdeutungen, die Stalin als Diktator abstempelten.

"Stalin war kein Engel, beileibe nicht, aber er hat sich um die Sicherheit seiner Bürger gekümmert", sagt sie, umgeben von Porträts des Herrschers und begeisterten Berichten über sein militärisches Können. "Dies ist kein Stalin-Museum", beteuert die Direktorin. "Zweck dieses Museums ist es, unsere Geschichte und die historischen Tatsachen zu beschützen."

Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial hält das Stalin-Revival für höchst besorgniserregend. Die Gesellschaft rief zu einem Verbot von Stalin-Bildern auf. "Natürlich gefällt es uns nicht, dass dieses Museum eröffnet wurde", sagt Jelena Schemkowa, die als Historikern bei Memorial arbeitet.

Nach Schätzung von Wissenschaftlern wurden im Zuge politischer Säuberungsaktionen unter Stalin mehr als eine Million Menschen hingerichtet. Millionen weitere starben in Straflagern, bei der Deportation ethnischer Minderheiten oder verhungerten in der Ukraine und im Süden Russlands.

Zwar vermied es der Kreml bisher, Stalin kategorisch zu verurteilen oder auch nur zu dulden. Allerdings versucht die Regierung zunehmend, die Geschichtsschreibung unter ihre Kontrolle zu bringen. Einzelpersonen, Museen und Nichtregierungsorganisationen, die die Geschichte nicht "ordnungsgemäß" interpretieren, müssen mit staatlichen Sanktionen rechnen.

Stalin-Kult rettet russische Identität vor dem Zerfall

Mit einer Umkehr dieses Trends ist nach Einschätzung von Experten so bald nicht zu rechnen. Ein Ende des Stalin-Kults und das Eingeständnis, dass das sowjetische System kriminell war, würde für viele Russen einem "vollständigen Identitätsverlust" gleichkommen, sagt Lew Gudkow, Direktor des unabhängigen Lewada-Zentrums, das sich mit der öffentlichen Meinung zu Stalin beschäftigt. "Sie bestreiten nicht, was Stalin getan hat, aber sie sehen ihn lieber als majestätischen Souverän denn als umstrittenen Herrscher."

Auch in den Lehrplänen der Schulen ist bisher kein Platz für Kritik an Stalin. Entsprechend stehen Lehrkräfte wie Irina Michailowa, die an einer Schule in Choroschewo unterrichtet, voll hinter der Nostalgie.

"Es ist wichtig, nicht zu vergessen, wem wir die friedliche Umgebung zu verdanken haben, in der wir heute leben", sagt sie. "Das Stalin-Museum ist sehr wichtig für uns. Wir sind stolz darauf, es hier zu haben."

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