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Russlands Kriegstaktik: So will Putin die Ukraine langsam erdrücken


Neue russische Kriegstaktik
Putin will die Ukraine langsam erdrücken


Aktualisiert am 06.04.2022Lesedauer: 7 Min.
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Wladimir Putin: Der russische Präsident hat seine Strategie im Ukraine-Krieg gewechselt.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Der russische Präsident hat seine Strategie im Ukraine-Krieg gewechselt. (Quelle: Montage: t-online/imago-images-bilder)

Die Ukraine kann Putins Armee zurückdrängen und erobert viele Gebiete zurück. Doch Russland hat seine Strategie gewechselt, der nächste Angriff könnte bevorstehen. Wie ist die militärische Lage? Ein Überblick.

Der Schrecken in der Ukraine findet kein Ende: Russland hat sich zwar aus dem Norden des Landes zurückgezogen. In den zurückeroberten Städten wie Butscha finden die ukrainischen Streitkräfte nun aber die grausamen Folgen des russischen Angriffs vor. Viele Indizien sprechen dafür, dass die Schergen von Präsident Putin dort gezielt Zivilisten hingerichtet haben – unter dem Deckmantel einer konstruierten "Entnazifizierung".

Die erfolgreichen Gegenoffensiven sind für die Ukraine unterdessen ein wichtiger Erfolg. Sie sorgen für Hoffnung, obwohl sich an der Kräfteverteilung seit Kriegsbeginn nur wenig verändert hat. Russland versucht noch immer, die Ukraine militärisch zu schlagen, aber nun mit einer anderen Strategie: Es herrscht jetzt ein Abnutzungskrieg.

Das Szenario Abnutzungskrieg

Putin geht davon aus, dass er über einen längeren Zeitraum mehr Kräfte und mehr militärisches Gerät mobilisieren kann als die Ukraine. Er will die ukrainische Armee zwar nicht mehr an vielen Fronten schnell besiegen, aber die russische Armee soll sie nun langsam aus einer Richtung erdrücken. Der nächste russische Großangriff steht bevor und es droht ein Krieg zu werden, der Monate oder sogar Jahre anhalten könnte.

Die ukrainischen Erfolge verzerren teilweise die Sicht auf die militärische Lage. Die Ukraine muss die Gegenwehr möglichst groß verkaufen, vor allem innenpolitisch hat das eine wichtige Bedeutung. Schließlich steht man einer der größten Armeen der Welt gegenüber und ist darauf angewiesen, die Kampfmoral hochzuhalten – und das vielleicht über einen längeren Zeitraum. Deshalb muss der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Sieg als realistisches Szenario darstellen und erfolgreiche Gegenoffensiven inszenieren.

Gleichzeitig ist aber auch wahr, dass die russische Armee sehr hohe Verluste erleidet. Die erste Angriffsphase war für den Kreml eine Katastrophe, die Gegenoffensiven verschaffen der Ukraine nun Zeit. Die kann sie nutzen, um ihre Verteidigungslinien in den Städten weiter zu verstärken und mehr westliche Waffen und Munition zu erhalten. Im Land gibt es dennoch keinen Zweifel daran, dass die zweite russische Angriffswelle noch härter ausfallen wird.

Momentan erlebt der Krieg eine operative Pause, bis Russland seine Verluste kompensiert und sich neu gruppiert hat. Gustav Gressel, Militärexperte bei der internationalen Denkfabrik "European Council on Foreign Relations", beschreibt die Situation wie folgt: "Wir erleben in der Ukraine momentan Truppenverlegungen auf beiden Seiten. In den nächsten Wochen wird es wieder richtig losgehen." Es sei gut denkbar, dass sich Offensiven und Pausen nun immer wieder abwechseln werden.

Russische Propaganda spricht von "Ausradierung" der Ukraine

Dabei ist völlig unklar, ob die russische Führung den Angriff auch in Zukunft "nur" auf den Osten beschränken will. "Die russischen Verlagerungen in die Ostukraine bedeuten nicht, dass man die Besetzung des ganzen Landes schon aufgegeben hat", erklärt Gressel. In Kherson zeige sich beispielsweise, wie Russland versuche, ein Besatzungsregime einzurichten – und das sei kein gutes Zeichen. "Putin hält an seinen Kriegsplänen fest und die russische Propaganda verschärft noch einmal den Ton. Dort wird schon davon gesprochen, dass man die ganze Ukraine als Volk ausradieren soll. Politisch gibt es kaum Fortschritte."

Parallel zum Strategiewechsel sind die russischen Kriegsverbrechen und der Bombenterror gegen die Zivilbevölkerung auch Angriffe auf die Moral – die schrecklichen Bilder aus Butscha passen in diese perfide Strategie.

Auch militärisch ist Putins Armee noch im Vorteil. Experte Gressel befürchtet zudem Nachschubprobleme für die Ukraine: "Die ukrainischen Verluste können schlechter ausgeglichen werden, weil der Westen langsam Waffen liefert und weil die Ukraine noch viel altes Gerät aus der Sowjetunion verwendet, das die westlichen Staaten schwer ergänzen können."

Langer Krieg wird wahrscheinlicher

Die westlichen Sanktionen treffen Russland zwar hart, aber es ist unwahrscheinlich, dass sie Putin zum Einlenken bewegen werden. Im Gegenteil: Die russische Propaganda zeichnet mit Erfolg das Bild des teuflischen Westens, wodurch sich ein großer Teil der russischen Bevölkerung in diesem Konflikt hinter Putin gestellt hat.

Christoph Wanner, "Welt"-Korrespondent in Moskau, beschreibt oft in seinen Berichten aus Russland eine "Wagenburgmentalität" in der Bevölkerung. Die erhoffte Revolte gegen Putin blieb bisher auf jeden Fall aus – es gibt kaum Fahnenflucht in der russischen Armee und keine Sabotageakte gegen den Krieg.

Die Mischung aus Repression, Einschüchterung und Desinformation zeigt offenbar Wirkung in Russland – im Westen hätte wohl kaum jemand erwartet, dass eine derartige Massenmanipulation in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal möglich ist. Innenpolitisch scheint Putin diese Schlacht zu gewinnen.

Auch wirtschaftlich droht Russland noch nicht der Kollaps. "Russland kann finanziell diesen Krieg länger durchstehen", meint Gressel. Der russische Außenminister Sergej Lawrow reist durch Asien und bietet dort russische Rohstoffe zu Billigpreisen an – Länder wie China, Indien oder Pakistan unterminieren die westlichen Sanktionen. "Ein langer Krieg ist zwar nicht so ruhmreich, wie man sich das zu Kriegsbeginn in Moskau vorgestellt hat, aber trotzdem ist der Kreml sich sicher, dass man die Ukraine langsam erdrücken kann", sagt Gressel. Das könne noch über Jahre so gehen.

Überblick über die militärische Lage

Militärisch sieht die Lage in den einzelnen Regionen der Ukraine wie folgt aus:

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Befreiung der Nordukraine

Die russische Armee hat die Offensive auf Kiew vorerst beendet und Truppen aus den Regionen im Norden zurückgezogen. Ukrainische Infanterieverbände werden dort nun die Verteidigungslinien verstärken und die Grenzen sichern. Das gibt der ukrainischen Armee auch die Möglichkeit, Truppen an andere Fronten zu verlegen.

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"Zwar bleiben auch Verbände zurück, um die Grenze nach Belarus abzusichern, aber die schwereren mechanisierten Verbände schickt die Ukraine in Richtung Osten", sagt Gressel. In Belarus gibt es zwar noch russische Reserven, aber aktuell spricht an der Nordgrenze nichts für eine erneute Offensive. Schneeschmelze, hohe Wasserstände, Matsch und sumpfiges Gebiet machen militärische Manöver dort zudem momentan fast unmöglich.

Kampf um den Brückenkopf im Süden

Auch die russischen Vorstöße auf Mykolajiw und Odessa im Süden wurden gestoppt und zurückgedrängt. Nun tobt eine der wichtigsten Schlachten in diesem Krieg: der Kampf um Kherson. Dabei geht es nicht nur um die Stadt, die Russland erobert hat, sondern vor allem um den wichtigen Brückenkopf über den Fluss Dnepr. Kann die ukrainische Armee Kherson zurückerobern, wäre das ein großer Rückschlag für Putin.

Russland kämpf dort verbissen und hat in den vergangenen Wochen die Kräfte noch einmal verstärkt. "Ich glaube, dass die Ukraine in den nächsten Tagen noch einmal stärker angreifen wird, weil um Kiew Kräfte frei geworden sind", meint Gressel. Der Ausgang dieses Kampfes sei ungewiss. "Das werden wir in den kommenden Tagen sehen."

Osten wartet auf den nächsten Großangriff

Der Kreml hat den Osten der Ukraine zum primären Kriegsziel erklärt und in der Region könnte es in den kommenden Wochen zum nächsten russischen Großangriff kommen, sobald Putins Armee sich dafür regruppiert hat und genug Nachschub in das Kriegsgebiet gebracht wurde.

"Der Krieg an mehreren Fronten ist gescheitert, weil man die zähe Verteidigung der Ukraine unterschätzt und dafür zu wenige Kräfte an zu vielen Orten hat", meint Gressel. "Jetzt setzt man auf ein Schwergewicht im Donbass und versucht dort eine Überlegenheit zu erreichen, um die Ukraine dort zu schlagen."

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Allgemein erwarten Experten kurzfristig die Einnahme der wichtigen Hafenstadt Mariupol und einen heftigen Angriff in der Region Luhansk im Nordosten, die noch teilweise von der Ukraine gehalten wird. Danach wird erwartet, dass die russische Armee versuchen wird, die ukrainischen Stellungen im Donbass einzukesseln und vom Nachschub abzuschneiden.

Aber ein Selbstläufer wird das für Putin nicht. Schätzungen gehen von bis zu 80.000 ukrainischen Soldaten aus, die in der Region stationiert sind und Russland bisher nur geringe Geländegewinne ermöglichten. Es sind kampferfahrene Truppen, die nun auf weitere Unterstützung aus dem westlichen Teil des Landes hoffen können. Ein langer und blutiger Zermürbungskampf ist wahrscheinlich.

Die Kämpfe um die Städte im Osten zeigen, wie schwer es selbst russische Eliteverbände haben werden: Mariupol ist noch immer nicht erobert, obwohl die Stadt seit Wochen eingekesselt ist. Mittlerweile versuchen ukrainische Verbände vom Westen vorzurücken, um den russischen Kessel zu durchbrechen, aber das ist taktisch heikel.

"Das dürfte sehr schwierig werden, weil dort starke russische Eliteverbände im Einsatz sind", so Gressel. "Für die Ukraine ist diese Offensive sehr riskant, aber von großer symbolischer Bedeutung. Die ukrainische Führung will den eigenen Landsleuten zeigen: Egal wie grausam es wird, verteidigt euch, denn irgendwann boxen wir euch raus." Dabei droht die Ukraine aber Kräfte zu verlieren, die sie anderswo benötigt.

Auch die Millionenstadt Charkiw ist weiterhin ein Kriegsziel Moskaus. Generell lässt sich beobachten, dass die russische Armee gerne entlang von Eisenbahnlinien vorstößt, um schnell Nachschublinien aufzubauen. Charkiw ist dafür ein wichtiger Knotenpunkt, besonders in Richtung Donbass. Aber die Stadt lässt sich auch gut verteidigen, bislang konnte Russland sie nicht einkesseln. "Dort ist die erste Garde der russischen Panzerarmee angetreten, ein Eliteverband", beschriebt Gressel. "Selbst der hat es nicht geschafft, Charkiw in den ersten Kriegstagen zu umschließen."

Wie plant der Westen?

Es spricht vieles dafür, dass das Grauen des Krieges noch länger weitergehen wird. Am Verhandlungstisch unternimmt der Kreml bislang keine Schritte in Richtung einer politischen Lösung. Zumindest sind die russischen Forderungen – Putin spricht noch immer von "Entnazifizierung" – so realitätsfern, dass die Ukraine das ablehnen muss. Russland versucht lediglich, die Gespräche fortzusetzen – als Signal an die Welt, um die eigene Grausamkeit zu kaschieren.

Es ist wahrscheinlich, dass sich Putin mittlerweile auf einen langen Konflikt eingestellt hat und dafür die militärischen Vorbereitungen trifft. Die Propaganda hat dieses Szenario bereits vorbereitet und die russische Führung bemüht sich intensiv um Freiwillige aus den Reihen der jungen Männer, die Anfang April ihren zwölfmonatigen Wehrdienst abgeschlossen haben und die nun ausgebildete Soldaten sind.

Die Ukraine kann einen längeren Konflikt nur durchhalten, wenn auch die Unterstützung des Westens anhält. Je mehr Verluste sie erleidet, desto mehr wird sie darauf angewiesen sein, Nachschub an Ausrüstung und Munition, aber auch an Treibstoff zu bekommen. Dabei könnten der Ukraine Panzer und gepanzerte Fahrzeuge ausgehen. Der Westen müsste dann intensiver darüber nachdenken, ob er moderneres Gerät liefern will. Die Ausbildung an diesem Gerät kostet Zeit, aber wenn sich nun ein längerer Krieg abzeichnet, dann muss auch im Westen dafür geplant werden. Letztlich bleibt nur die Hoffnung, dass der Ukraine dieses Szenario erspart bleibt.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Gustav Gressel
  • Eigene Recherche
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