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"Die Uhr tickt für Putin": Russland hat jetzt mit zwei Problemen zu kämpfen


"Die Uhr tickt für Putin"
Russland hat jetzt mit zwei Problemen zu kämpfen

  • Daniel Mützel
Von Daniel Mützel

13.05.2022Lesedauer: 5 Min.
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Leid und Zerstörung: Unser Reporter trifft Soldaten und Zivilisten in der von Angriffen gezeichneten Stadt Charkiw. (Quelle: t-online)

Putins Offensive im Donbass verläuft nicht nach Plan. Moskau kämpft derzeit an drei Fronten – und wird bei Charkiw von einem ukrainischen Gegenangriff überrascht. Dort sind Kiews Truppen nur noch zehn Kilometer von der russischen Grenze entfernt.

Die russische Invasion in der Ukraine läuft auch in ihrer zweiten Phase nicht nach den Vorstellungen des Mannes im Kreml: Nach der gescheiterten Einnahme Kiews im März konzentrieren sich russische Truppen seit April auf die Eroberung des Donbass.

Doch auch hier gerät die russische Panzerwalze ins Stocken: Nördlich von Charkiw befreite die ukrainische Armee zuletzt ein Dorf nach dem anderen. Und am Fluss Siwerskyj Donez kam es zu einer militärischen Niederlage, die ihresgleichen sucht: Beim Versuch, den Fluss mithilfe einer Pontonbrücke zu überqueren, verlor die russische Armee rund 50 Fahrzeuge und womöglich Hunderte Soldaten.

Angesichts des stockenden Vorstoßes und der hohen Verluste an Menschen und Material stellt sich die Frage, wie lange Kremlchef Wladimir Putin die heiße Kriegsphase noch ausdehnen will und was er noch braucht, um einen Sieg zu deklarieren.

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Entscheidend für den weiteren Kriegsverlauf sind vor allem die Entwicklungen in drei Regionen:

  • die Bewegungen um die Millionenstadt Charkiw
  • die Offensive im Donbass
  • der Kampf um die Südukraine

Charkiw: Nur noch zehn Kilometer bis zur russischen Grenze

Bei Charkiw lässt sich derzeit eine erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive beobachten: Im Norden und Nordwesten der zweitgrößten Stadt des Landes befreite die ukrainische Armee immer mehr Dörfer. Seit vergangenem Wochenende waren es nach Angaben des Generalstabs zehn Siedlungen, die nun wieder unter ukrainischer Kontrolle sind.

Damit rücken die Verteidiger immer näher an die russische Grenze. Ein ukrainischer Offizier sagte t-online am Freitag, die ukrainische Armee könne an einem Punkt der Front bis zu zehn Kilometer an Russland heranrücken. t-online konnte diese Information nicht unabhängig verifizieren. Es entspräche jedoch den Geländegewinnen der ukrainischen Streitkräfte in den vergangenen Tagen.

Der militärische Erfolg der Ukraine bei Charkiw fußt auch auf einer (Fehl-)Kalkulation der russischen Militärführung: Diese hatte zuletzt immer mehr Kämpfer und Material aus der Region um Charkiw in den Donbass verlagert, um dortige Truppen zu verstärken.

"Ein taktischer Fehler", sagt Mathieu Boulegue, Militärexperte der britischen Denkfabrik Chatham House, zu t-online. Die russische Militärführung habe offenbar zu schwache Verteidigungslinien aufgebaut und die Kampfkraft der ukrainischen Gegenoffensive unterschätzt. Um die Gegenoffensive zu stoppen oder eine eigene zu starten, müsse sie woanders Truppen und Material freisetzen, die aber dort wiederum fehlen könnten.

Stockende Offensive im Donbass

Auch in den Regionen Luhansk und Donezk läuft der Vorstoß aus russischer Sicht suboptimal. Die Kreml-Armee habe es bislang "verbockt", im Donbass signifikante militärische Erfolge zu erzielen, so Militärexperte Boulegue.

"Sie haben zwei Wochen gebraucht, um Isjum einzunehmen. Die wichtige Stadt Sjewjerodonezk ist weiter in ukrainischer Hand und auch der geplante Kessel um Kramatorsk ist vorerst gescheitert."

Die russische Armee versuchte bereits vor Wochen eine Einkreisung ukrainischer Truppen auf Höhe der provisorischen Regionalhauptstadt Kramatorsk zu erreichen. Ein großer Teil der ukrainischen Streitkräfte, unter anderem Einheiten mit hoher Kampferfahrung, ist dort stationiert. Bei einem Kessel wären sie von Nachschub abgeschnitten.

"Russland hat derzeit mit zwei Problemen zu kämpfen. Die erfolgreiche Gegenoffensive bei Charkiw zwingt Moskau auch defensiv zu denken: Jetzt muss die Armee nicht nur ukrainische Positionen angreifen, sondern auch ihre eigenen verteidigen", so Boulegue. Das zweite Problem betreffe die Tatsache, dass die russische Armee "nicht ewig kämpfen kann". Die westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine und die schlechte Moral der eigenen Truppen bedeute, dass Putin nicht mehr viel Zeit für seine Offensive bleibe.

Nun gehe es darum, möglichst viel ukrainisches Territorium noch abzugreifen, bevor Russland das Gros der Kampfhandlungen einstellen müsse. "Die Uhr tickt für Putin", sagt der Militärexperte. Dabei spielten die Schlachtfelder des Südens hierbei eine besondere Rolle.

Die meisten Gewinne im Süden

Im Süden und insbesondere der Region um Cherson sei Russland bisher am erfolgreichsten, so Boulegue. Hier habe die russische Armee seit Kriegsbeginn nicht nur große Landgewinne erzielt, sondern auch Besatzungsregime in größeren Städten wie Mariupol und Cherson etabliert. Vor allem die wichtige Landbrücke zwischen der besetzten Halbinsel Krim und der Russischen Föderation sei durch eine breite Landmasse gesichert.

Dennoch ist auch hier nicht alles erreicht worden, was sich Russland vorgenommen hatte. Erinnert sei an die Angaben des russischen Generalmajors Rustam Minnekajew, der am 22. April die neuen russischen Kriegsziele offiziell bekannt gab: Neben der vollständigen Kontrolle des Donbass und der Eroberung des ukrainischen Südens sprach der ranghohe Militär zudem von einem "Korridor nach Transnistrien" zu den prorussischen Separatisten in Moldau.

Damit hatte Minnekajew die Eroberung von Odessa implizit als Kriegsziel nahegelegt. Allerdings ist Russland weit davon entfernt, auch nur in die Nähe der wichtigen Hafenstadt zu kommen: Bevor russische Artillerie die Stadt ins Visier nehmen oder gar eine Bodenoffensive auf die Stadt beginnen kann, müssen die Angreifer durch Mykolaijw, eine Stadt rund 130 Kilometer davor. Doch auch die Offensive auf Mykolaijw ist schon einmal gescheitert. Zwischen der ukrainisch kontrollierten Hafenstadt und dem rund 80 Kilometer entfernten, russisch besetzten Cherson gibt es seit Wochen kaum Bewegung: Stattdessen liefern sich ukrainische und russische Truppen eine Art Stellungskrieg mit wenig Landgewinnen für die eine oder andere Seite.

Auch die Eroberung von Mariupol ist immer noch nicht abgeschlossen. Noch immer haben sich Kämpfer des Asow-Regiments in den Katakomben der Industrieanlage verschanzt und leisten erbitterten Widerstand. Die russische Armee schickt ihre Artillerie, Kampfpanzer, Flugzeuge und sogar Kriegsschiffe gegen die letzten Verteidiger Mariupols, aber die halten der Walze weiter stand. Wie lange, wird sich zeigen. Die Hilferufe aus dem Stahlwerk werden lauter. Derzeit verhandelt die ukrainische Regierung über eine Evakuierung der Kämpfer. Der Kreml lehnt bisher strikt ab.

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Die nächste Phase des Krieges

Die militärische Lage in der Ukraine sei weiterhin sehr volatil, sagt der Militärexperte Boulegue. Er erwarte jedoch, dass die russische Führung versuchen werde, in den nächsten Wochen möglichst viele Geländegewinne zu erzielen, bevor sie eine neue Phase des Kriegs einleite. "Es wird Übergang vom Bewegungs- zum Stellungskrieg geben. Russische Truppen werden sich eingraben und versuchen, die eroberten Gebiete politisch abzusichern. Nach innen durch die Etablierung von Besatzungsregimen, nach außen durch Diplomatie."

Es werde weiter Tote und einzelne Gefechte geben, so Boulegue. Aber die Zeit der großen Offensiven werde vorbei sein. Der Kreml werde versuchen, so viel wie möglich seiner Kriegsbeute politisch abzusichern. Wie viel Land sie bis zu diesem Tag noch erobern können, wird sich in den kommenden Tagen und Wochen entscheiden.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Interview mit ukrainischem Offizier
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