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Staatenlos in Deutschland: Diese Menschen sind für den Staat unsichtbar


Menschen ohne Staat
Bürokratie auf Kosten der Grundrechte

  • Marianne Max
Von Marianne Max

Aktualisiert am 19.06.2022Lesedauer: 7 Min.
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Menschen am Hauptbahnhof Düsseldorf: Tausende in Deutschland gelten als staatenlos.Vergrößern des Bildes
Menschen am Hauptbahnhof Düsseldorf: Tausende in Deutschland gelten als staatenlos. (Quelle: Olaf Döring/imago-images-bilder)

Bildung, medizinische Versorgung, Freizügigkeit: Tausenden in Deutschland werden diese Grundrechte verwehrt. Denn kein Staat erkennt sie als Angehörige an.

Fast 7,3 Millionen – so viele Menschen sind seit Beginn des russischen Angriffskriegs aus der Ukraine geflohen, zählt das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR). Die meisten von ihnen leben im Nachbarland Polen, gefolgt von Russland. Drittgrößtes Aufnahmeland ist Deutschland. Hier haben seit Ende Februar rund 780.000 Geflüchtete Zuflucht gefunden.

Dank der sogenannten "Massenzustrom"-Richtlinie der EU sollte das für alle Menschen aus der Ukraine hierzulande ohne aufwendiges Asylverfahren möglich sein. Und doch ist es für eine Personengruppe besonders schwierig: für Staatenlose. 2020 zählte das UNHCR in der Ukraine rund 35.000 von ihnen.

"Es ist sehr schwer ersichtlich und intransparent, was genau für staatenlose Personen aus der Ukraine in Deutschland gilt", sagt Christiana Bukalo zu t-online. Sie ist Gründerin von "Statefree" – einer Organisation, mit der sie Staatenlosen helfen will. Seit Beginn des Krieges haben sich auch staatenlose Menschen aus der Ukraine mit vielen Fragen an sie gewandt.

Frau Bukalo, was ist Staatenlosigkeit?
"Eine Person ist staatenlos, wenn sie keine wirksame Staatsangehörigkeit hat, also von keinem Staat als Staatsangehörige anerkannt wird. Das ist wichtig hervorzuheben: Es geht darum, ob man vom Staat anerkannt wird und nicht andersherum. Das ist keine Wechselwirkung."

In München geboren und doch staatenlos

Bukalo weiß, wovon sie spricht, denn auch sie selbst ist staatenlos – wie etwa 122.000 Menschen in Deutschland. Weltweit sind es nach Schätzungen des UNHCR etwa zehn Millionen. "Eine der Hauptursachen für Staatenlosigkeit ist, dass Staatenlosigkeit sozusagen vererbt wird", erklärt Bukalo.

Damit meint sie das sogenannte Abstammungsprinzip, demnach Kinder ausländischer Eltern bei ihrer Geburt die Staatsangehörigkeit der Eltern zugewiesen bekommen. Erst seit dem Jahr 2000 gilt unter gewissen Voraussetzungen auch das Geburtsortsprinzip in Deutschland – nicht aber für Staatenlose.

"Das heißt, wenn die Staatsangehörigkeit von Menschen nicht klar oder ausreichend nachgewiesen ist, gilt sie als ungeklärt. Wenn diese Personen dann ein Kind bekommen, gilt das Kind ebenfalls als ungeklärt oder staatenlos", erklärt Bukalo.

Auch sie hat aus diesem Grund keine Staatsbürgerschaft erhalten. Ihre Eltern kamen aus Westafrika nach Deutschland und konnten keine für die deutschen Behörden ausreichenden Nachweise vorlegen. Bukalo wurde so zwar in München geboren, deutsche Staatsangehörige ist sie jedoch nicht.

Grundrechte über Umwege

Das Problem: "Fast alle unsere Grundrechte sind von unserer Staatsangehörigkeit dominiert", erklärt Bukalo. Beispielsweise hängt der Zugang zur Gesundheitsversorgung, Bildung oder der Reisefreiheit von ihr ab. "Alle Situationen, in denen man seine Staatsangehörigkeit nachweisen muss, stellen ein Problem dar", so Bukalo.

Sie selbst konnte nicht am Schüleraustausch teilnehmen. Studieren musste sie an einer privaten Hochschule – mit entsprechend höheren Gebühren als an staatlichen Universitäten. "Durch solche Hürden entstehen zum Beispiel hohe Kosten, für eine sowieso schon unterprivilegierte Gruppe", erklärt Bukalo. Auch ihr Studienfach sei ein anderes geworden, als sie es sich gewünscht habe.

Bukalos Beispiel zeigt: Für Staatenlose gibt es in Deutschland hohe Hürden, wenn sie ihre Grundrechte in Anspruch nehmen möchten.

Kennen Sie schon unseren Podcast "Tagesanbruch am Wochenende"? Diese Folge mit einer Diskussion über die Wiedereinführung der Dienstpflicht:

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Keine Flucht für Staatenlose?

Das Recht auf Asyl ist da keine Ausnahme. Bukalo und ihr Team wussten das, als Russland am 24. Februar die Ukraine angriff. "Wir haben sofort gemerkt, dass wir da helfen müssen", sagt sie. Aber es sei auch ein extremer Druck dagewesen. "Wir haben realisiert: Wir sind leider die einzigen, die sich darum kümmern." In den sozialen Medien erstellte sie schnell die wichtigsten Hinweise für Betroffene.

Dokumente, Fotos oder Andenken sollten staatenlose Personen mitnehmen – alles, was als Nachweis dafür dienen könnte, dass sie sich zum Ausbruch des Krieges in der Ukraine aufgehalten haben und eine von den Behörden anerkannte ungeklärte Staatsangehörigkeit haben.

Die Hinweise von "Statefree" wurden vielfach geteilt – ob sie alle, die ihre Hilfe brauchen, erreicht haben, weiß Bukalo nicht. "Wir vermuten leider, dass viele Staatenlose einfach in der Ukraine geblieben sind. Weil sie gar nicht wissen, was ihre Rechte und Möglichkeiten sind, und somit keinen Ausweg für sich sehen."

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"Massenzustroms-Richtlinie" mit Ausnahmen

Tatsächlich gibt es einen Ausweg, wenngleich dieser zu Beginn des Krieges nicht ganz klar war: Kurz nach der russischen Invasion wendete die Bundesregierung die sogenannte "Massenzustroms-Richtlinie" der EU an. Sie soll im Fall eines Massenzustroms von Vertriebenen unter anderem die Mindestrechte von Geflüchteten garantieren. Nach der Anwendung Anfang März hätten demnach auch staatenlose Personen zunächst ein Recht auf Schutz in Deutschland gehabt – wenn sie einen unbefristeten Aufenthaltsstatus nachweisen können. "Das hört sich erstmal gut an, war es aber nicht", erklärt Bukalo.

  • Das erste Problem: "Das Gesetz richtete sich an 'de jure' Staatenlose – also an Staatenlose, deren Staatenlosigkeit juristisch und behördlich anerkannt wurde." Viel mehr Menschen seien aber 'de facto' staatenlos, ohne dass das behördlich anerkannt sei. Ihre Staatsangehörigkeit gilt als "ungeklärt".
  • Das zweite Problem: Von den juristisch anerkannten Staatenlosen seien nur solche akzeptiert worden, die einen unbefristeten Aufenthaltsstatus vorweisen konnten. "Da beißt sich die Katze in den Schwanz, denn um einen Aufenthaltsstatus zu bekommen, muss die Staatsangehörigkeit geklärt sein", sagt Bukalo.

Erst einige Wochen nach Kriegsbeginn passte die Bundesregierung die Maßnahmen an. "Das heißt, alle Staatenlosen aus der Ukraine haben jetzt ein Anrecht auf die mit der Massenzustroms-Richtlinie verbundenen Rechte", erklärt Bukalo. Sie hofft, dass das auch umgesetzt wird: "Es ist viel Kommunikation und Aufklärung nötig, damit diese Information auch in den zuständigen Ämtern ankommt." Oft würden Angehörige von Drittstaaten und Staatenlose durch die Behörden zusammen genannt, in der Praxis aber dann doch wieder unterschieden.

Nach der Flucht plötzlich staatenlos?

Bukalo drängt darauf, dass Staatenlose mindestens identisch behandelt werden. "Staatenlose Personen haben schließlich ein viel höheres Schutzbedürfnis. Denn eine drittstaatsangehörige Person hat zumindest einen Staat, dem sie angehört, wohingegen eine staatenlose Person gar keinen Staat hat, der sich um sie kümmert und für sie Verantwortung übernimmt", erklärt sie.

Viele Menschen werden erst durch die Flucht staatenlos, weil ihre Papiere verloren gehen oder zerstört werden. Sie selbst sei mit diesem Begriff auch erst im Erwachsenenalter in Berührung gekommen. "Im Migrationskontext ist es oft so, dass Menschen ihre Dokumente auf der Flucht verlieren und häufig nicht wissen, wie relevant und unabdingbar diese wiederum in Deutschland und anderen Ländern sind, um Zugang zu Rechten und Schutz zu erlangen", sagt Bukalo.

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Erst in der Auseinandersetzung mit den zuständigen Behörden merkten das viele. Denn will man seine Staatenlosigkeit in Deutschland schriftlich haben, gibt es dafür derzeit nur einen Weg: Die Ausländerbehörde kann die Staatenlosigkeit bei der Beantragung eines Reiseausweises feststellen. Dabei ist die Feststellung der Staatenlosigkeit jedoch an die abschließende Klärung der Identität der Person geknüpft – also der ursprünglichen Staatsangehörigkeit.

Um die klären zu lassen, könnten die Betroffenen mit Blick auf die Ukraine noch versuchen, ihre zuständigen Botschaften zu erreichen. "Aber wir wissen ja nicht, wie es dort weitergeht. In vielen Ländern, in denen Krieg herrscht, kann man fünfmal bei der Botschaft anklopfen und die reagieren nicht und schicken dir keine Dokumente, weil sie gar kein Interesse daran haben", erzählt Bukalo.

Davon unabhängig stellt diese Bedingung besonders für Menschen, die durch das Regime ihres Herkunftslandes verfolgt werden, eine große Hürde dar. Sie müssten sich den Behörden des Landes zu erkennen geben, das sie bedroht.

"Viele Politiker wissen nicht, dass das vor ihren Augen passiert"

Was also, wenn es keinen Ausweg gibt? Auf diese Frage hat die Bundesregierung derzeit kaum eine Antwort – und der Druck, eine zu geben, ist gering. Menschen ohne Staatsangehörigkeit dürfen in Deutschland nicht wählen.

Bukalo hat dennoch einen Weg gefunden, ihre Forderungen publik zu machen, ohne dabei zu laut zu werden. "Wir wollen nicht auf die Barrikaden gehen, aber wir möchten den Verantwortlichen die Augen öffnen", erklärt sie.

Die Gründe für die ausbleibende Antwort der Bundesregierung auf eine Frage, die Zehntausende Menschen im Land bewegt, sieht Bukalo nicht etwa in bösem Willen. Stattdessen sei das Thema eben unsichtbar. "Ich glaube, es gibt viele aktive Politiker und Politikerinnen, die nicht wissen, dass das vor ihren Augen passiert", erklärt Bukalo.

Einen weiteren Grund sieht sie in mangelndem Verantwortungsbewusstsein, fehlendem Willen zur Veränderung und einer "mit der Politik verbundenen Ideologie". "Die deutsche Staatsangehörigkeit wird als sehr hohes Gut angesehen und ist mit bestimmten Vorstellungen verbunden", so Bukalo. Einigen bleibe sie daher verwehrt. Für Deutschland werde sich das nicht lohnen, warnt Bukalo. "Es kann nicht im Interesse eines Staates sein, dass Zehntausende Menschen keinen geklärten Status haben."

Recht auf Identität

Mit "Stateless" fordert sie deshalb, dass sich das ändert. Staatenlose sollen erleichterten Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit bekommen und Kinder ein Recht auf Staatsangehörigkeit, fordert sie unter Berufung auf die UN-Kinderrechtskonventionen. Und auf ihre eigene Erfahrung: "Es macht einen großen Unterschied, wie sehr man sich zugehörig fühlt in einem Land, in dem man geboren ist, aber nicht eingebürgert werden kann", erzählt Bukalo. Kindern blieben so wesentliche Teilhabe und Zugang zu Integration verwehrt.

UN-Kinderrechtskonvention, Artikel 7:
(1) Das Kind ist unverzüglich nach seiner Geburt in ein Register einzutragen und hat das Recht auf einen Namen von Geburt an, das Recht, eine Staatsangehörigkeit zu erwerben, und soweit möglich das Recht, seine Eltern zu kennen und von ihnen betreut zu werden.
(2) Die Vertragsstaaten stellen die Verwirklichung dieser Rechte im Einklang mit ihrem innerstaatlichen Recht und mit ihren Verpflichtungen aufgrund der einschlägigen internationalen Übereinkünfte in diesem Bereich sicher, insbesondere für den Fall, dass das Kind sonst staatenlos wäre.

Weiterhin fordert sie die Bundesregierung dazu auf, ein transparentes Verfahren zur Feststellung der Staatenlosigkeit einer Person zu entwickeln. Außerdem solle sie sich voll und ganz zum internationalen Übereinkommen über die Rechtsstellung von Staatenlosen bekennen.

Das Abkommen wurde 1954 von der Bundesregierung unterzeichnet, mit zwei Ausnahmen: Staatenlose haben keinen Anspruch auf Sozialleistungen und Dokumente, die ihre Identität belegen. "Identität", das Wort verwenden viele Behörden als Bezeichnung für die Staatsangehörigkeit. Bukalo meidet das Wort in diesem Zusammenhang. Für sie ist das nicht das Gleiche. "Man kann staatenlos sein und trotzdem eine Identität haben", sagt sie – und fordert, dass das auch staatlich anerkannt wird.

Rückenstärkung für "Statefree"

Unterstützt wird Bukalo in ihren Forderungen von "Join Politics" – einem auf Spenden basierten Start-up, das nach eigenen Angaben junge Talente auf ihrem Weg in die Politik unterstützen möchte und dabei auch auf andere Wege als die etablierten setzt.

"Christiana hatte den Verein 'Statefree' gegründet und im nächsten Schritt gesagt, dass sie noch viel mehr politische Arbeit leisten möchte, um eine Veränderung für Staatenlose zu erreichen. Sie hat also nicht den Weg einer Kandidatur gewählt, sondern versucht, ihr Herzensthema mit ihrer überparteilichen Expertise und in Zusammenarbeit mit Politikern in die Umsetzung zu bringen", sagt Philip Husemann, Co-Geschäftsführer von "Join Politics", zu t-online.

Das Start-up will mit seinem Förderangebot auch junge Menschen ansprechen, die, so Husemann, oft mit Parteien "fremdeln". "Join Politics" solle eine weitere, überparteiliche Anlaufstelle bieten und politisch Engagierte finanziell, aber auch mit Coachings oder Kampagnenplanung unterstützen. Das Ziel: "Die Demokratie bewahren und verhindern, dass 'die Trumps' die Politik übernehmen", so Husemann.

Stattdessen sollten "die richtigen Personen" die "richtigen Ämter" besetzen. Dass das gelingt, sei nicht sicher, aber man wolle es versuchen. Die Entscheidung, wer letztendlich als Talent gefördert wird, trifft ein Komitee aus fünf Personen – beraten durch Experten und Expertinnen aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft.

Ob man damit die Breite der Gesellschaft abbilden kann? "Am Ende bleibt es eine Förderentscheidung", so Husemann. "Bei Christiana würden wir uns freuen, wenn sie in der Migrationspolitik später einmal die richtigen Akzente setzt."

"Mit 'Statefree' wollen wir eine Vision zeigen", erklärt Bukalo. Die Vision, dass es eine Zeit geben werde, in der sich auch Staatenlose frei bewegen und die gleichen Rechte wie andere geltend machen können.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Philip Husemann, Co-Vorsitzender von "Join Politics"
  • Gespräch mit Christiana Bukalo, Gründerin von "Statefree"
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