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Einwohner aus Bergkarabach: "Der Westen muss einen neuen Völkermord verhindern"


Schwelender Konflikt
"Wir wollen kein zweites Syrien werden"

Von Tobias Eßer

Aktualisiert am 04.04.2023Lesedauer: 4 Min.
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Bewaffneter im Lachin-Korridor: Freiwillige bewachen den Weg zur aserbaidschanischen Blockade.Vergrößern des Bildes
Bewaffneter im Latschin-Korridor: Freiwillige bewachen den Weg zur aserbaidschanischen Blockade. (Quelle: KAREN MINASYAN)

Bergkarabach ist abgesperrt. Wer zu Beginn der Blockade nicht in der Region war, kommt nicht mehr hinein. Für die Einwohner ist das eine Katastrophe.

"Niemand hat angekündigt, dass die einzige Straße nach Bergkarabach geschlossen wird", sagt Anna Joljan. Sie sitzt im Gastraum eines Hotels in der armenischen Stadt Goris. Der Ort ist zu ihrer notdürftigen Heimat geworden, weil Joljan und ihre Familie nicht mehr in die Krisenregion westlich von Aserbaidschan zurückkehren können.

Joljan gehört zu den etwa 1.100 Menschen, die seit der Blockade von Bergkarabach im Nachbarland gestrandet sind und die in Hotels, bei Verwandten oder in Notunterkünften unterkommen mussten. "Es geht weder rein noch raus", sagt sie. "Nur die Transporte des Roten Kreuzes und die russischen Friedenstruppen dürfen den Latschin-Korridor passieren."

In Bergkarabach leben hauptsächlich Armenier

Der Latschin-Korridor ist die einzige Straße, die die Region Bergkarabach mit Armenien verbindet. Bergkarabach, auf armenisch Arzach, will eine unabhängige Republik werden. Zwar wird die Region zu 90 Prozent von ethnischen Armenierinnen und Armeniern bewohnt, völkerrechtlich gehört sie allerdings zu Aserbaidschan.

Zwischen Armenien und Aserbaidschan herrscht seit Langem ein Konflikt, der immer wieder auch zu einem Ausbruch von Gewalt führt. Als es im Jahr 2020 zum offenen Krieg um Bergkarabach kam, eroberten die Truppen Aserbaidschans große Teile der ehemaligen autonomen sowjetischen Region. Außerdem musste die armenische Regierung als Teil eines von Russland verhandelten Waffenstillstandsabkommens Landesteile an den Nachbarstaat abgeben. Danach konnten Armenierinnen und Armenier Bergkarabach nur noch über den Latschin-Korridor betreten.

"Umweltaktivisten" gefährden Bergkarabach

Seit dem 12. Dezember 2022 ist allerdings auch dieser Weg nicht mehr passierbar. Selbst ernannte Umweltaktivisten aus Aserbaidschan blockieren den Latschin-Korridor. "Außer den Transporten des Roten Kreuzes und den russischen Grenzschutztruppen lassen die Aktivisten an der Blockade niemanden durch", sagt Anna Joljan. Videos des armenischen Investigativ-Magazins "Civilnet", zeigen, dass zu Beginn die Blockade sogar russische Grenzschutztruppen betraf. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International gehen davon aus, dass diese Aktivisten in Wahrheit von den aserbaidschanischen Behörden unterstützt werden. Recherchen von "Civilnet" zeigen: Teile der blockierenden Aktivisten gehören direkt zum Umfeld des aserbaidschanischen Präsidenten Alijew.

Die Blockade des Latschin-Korridors gefährde das Leben Tausender Menschen in Bergkarabach, schreibt Amnesty International in einem Bericht aus dem Januar 2022. Anna Joljan sagt dazu: "Zwar gibt es noch Nahrung, die ist allerdings sehr teuer." Ein Kilogramm Kartoffeln koste mittlerweile etwa 800 Dram, umgerechnet etwa zwei Euro. Bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen von rund 300 Euro ein teures Gut.

"Meine Verwandten in Bergkarabach sagten, die ersten Wochen der Blockade seien besonders hart gewesen", erklärt Joljan. Da die Blockade im Winter begonnen habe, hätten viele Menschen auf ihre zuvor angelegten Vorräte zurückgreifen müssen, sagt sie. Aktuell bessere sich die Situation leicht, weil die russischen Truppen in der Region mit Aserbaidschan verhandelt hätten und Lebensmittel nach Bergkarabach bringen dürften. "Die sind allerdings teuer, außerdem haben nicht alle Zugang dazu", so Joljan.

"Ein großer Teil der Menschen hat keine Arbeit mehr"

Ein weiteres Problem in Bergkarabach sei der nahezu vollständige Zusammenbruch der Wirtschaft. "Ein großer Teil der Menschen hat seit dem Krieg keine Arbeit mehr", sagt Anna Joljan. Dauernd gebe es Stromausfälle. In den ersten Wochen der Blockade mussten teilweise die Schulen schließen, weil die Gasversorgung instabil und die Schulgebäude zu kalt waren. Mittlerweile sei der Schulbetrieb allerdings teilweise wieder aufgenommen worden.

Wer wie Anna Joljan in Armenien war, als die Blockade begann, hat ein weiteres Problem: keine Unterkunft. Ihre Häuser in Bergkarabach stünden leer, sagt Joljan. Immerhin gebe es Unterstützung durch die armenische Regierung. "Sie zahlen unsere Miete und Nebenkosten für die Unterbringung in Armenien", sagt sie. Außerdem gebe die Regierung Zertifikate an Menschen aus Bergkarabach aus, mit denen sie neue Häuser in Armenien kaufen könnten.

"Wir wollen kein zweites Syrien werden"

Unterstützung würden sie sich allerdings auch vom Westen wünschen. "Wir wollen kein zweites Syrien werden, wo es nur Krieg gibt", sagt Anna Joljan. Viele Menschen aus Bergkarabach erhofften sich Unterstützung von der EU, um als eigenständiges Land anerkannt zu werden. Falls es mit der Unabhängigkeit nichts werde, solle der Westen wenigstens Druck auf Aserbaidschan ausüben, den Latschin-Korridor zu öffnen.

Dort, so fürchten die Menschen aus Armenien, könnte es einen neuen Genozid geben. Davor warnen auch Amnesty International und die NGO Genocide Watch: "Die EU und die Vereinigten Staaten müssen Druck auf Aserbaidschan und seinen Verbündeten, die Türkei, ausüben, die Blockade des Latschin-Korridors zu beenden", schreibt Genocide Watch auf der Website der Organisation. Am 22. Februar forderte auch der Internationale Gerichtshof in Den Haag Aserbaidschan auf, die Blockade umgehend einzustellen. Bislang war diese Aufforderung allerdings ohne Wirkung, den Aserbaidschan erkennt das Urteil des Gerichts nicht an.

"Der Westen muss einen neuen Völkermord verhindern"

"Der Westen muss einen neuen Völkermord verhindern", sagt Anna Joljan. Auch die Möglichkeit, Bergkarabach an Aserbaidschan abzugeben und fortan dort unter aserbaidschanischer Flagge zu leben, ist keine Option für sie. "Dort wurden mehrere Pogrome an Armeniern verübt", sagt sie, und spielt damit unter anderem auf das Massaker in Sumgait an. Dort ermordeten aserbaidschanische Männer im Jahr 1988 mindestens 52 armenische Bewohnerinnen und Bewohner und verletzten Hunderte weitere teils schwer. "Wir könnten deshalb niemals unter ihrer Fahne leben."

Die Hoffnung auf Frieden ist allerdings bei den Menschen aus Bergkarabach kaum noch vorhanden. "Eventuell müssten wir Bergkarabach aufgeben, um einen neuen Krieg zu verhindern", sagt Anna Joljan. Das könnte allerdings in einem langen Guerilla-Krieg der Bevölkerung münden. "Um ehrlich zu sein: Die Menschen in Bergkarabach würden eher sterben, als sich zu ergeben."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen vor Ort
  • icj-cij.org: "Application of the International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination (Armenia v. Azerbaijan)" (Englisch)
  • amnesty.de: "Aserbaidschan / Armenien: Die Blockade des Latschin-Korridors gefährdet Tausende Menschenleben"
  • lemonde.fr: "It is a prelude to genocide that we are witnessing today in Nagorno-Karabakh" (Englisch)
  • genocidewatch.org: "Azerbaijan blocks only road into Nagorno-Karabakh" (Englisch)
  • youtube.com: "Lachin corridor closed even for Russian peacekeepers"
  • civilnet.am: "Who really are Azerbaijan’s ‘environmental activists’ blockading Karabakh?" (Englisch)
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