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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Medizinethiker zu Abgasversuchen "Der Aufschrei ist nicht ethisch, sondern politisch"

Abgasversuche an menschlichen Probanden haben für empörte Reaktionen in Deutschland gesorgt und Fragen nach den Grenzen wissenschaftlicher Forschung aufgeworfen. t-online.de fragte bei Medizinethiker Urban Wiesing nach.
Herr Professor Wiesing, ein Abgasversuch an menschlichen Probanden, in Auftrag gegeben von einer Forschungsvereinigung der deutschen Automobilindustrie, schlägt aktuell hohe Wellen. Wie bewerten Sie diesen Fall?
Die Angelegenheit hat zwei Dimensionen. Da ist zum einen die forschungsethische Dimension: Darf man Menschen einem Risiko aussetzen für eine gewisse Erkenntnis? Das andere ist die politische Dimension: Was will die Autoindustrie, wenn sie solche Versuche durchführt? Da gibt es meines Erachtens zwei Bewertungen.
Die da wären?
Bei der Forschungsethik stehen wir immer vor der Frage: Setzen wir Probanden einem gewissen Risiko aus – und ist dieses Risiko gerechtfertigt, um Erkenntnisse zu bekommen? Der Nutzen ist in der Regel Wissen. Das Risiko für die Teilnehmer war in diesem Fall wohl gering. Sie sind drei Stunden lang der dreifachen, zulässigen maximalen Arbeitsplatzkonzentration an Stickoxiden ausgesetzt worden. Das war 2009 noch die zulässige maximale Konzentration. Das ist so ähnlich, als würde man drei Stunden in einer verqualmten Kneipe sitzen. Aber welche Erkenntnisse bekommen wir dafür?
Die Studie stellte keine messbare Reaktion bei den Probanden fest...
Richtig. Die Untersuchung ist ja auch einer Ethikkommission vorgelegt worden, die dem zugestimmt hat. Insofern ist das unter dem Blickwinkel der Forschungsethik eine Studie mit minimalem Risiko für die Probanden, mit einem gewissen Erkenntnisgewinn, dass nämlich die unterschiedlichen untersuchten Konzentrationen kaum einen Unterschied machen.
Also ist die Aufregung Ihrer Meinung nach übertrieben?
Da ist noch die politische Dimension. Die Forschung ist von einer – mittlerweile geschlossenen – Vereinigung der Automobilindustrie unterstützt worden. Und da stellt sich natürlich die Frage: Was wollen sie mit diesen Versuchen zeigen? Stellen Sie sich vor, die Tabakindustrie macht eine Studie mit 25 kerngesunden Menschen und sagt den Teilnehmern: Jetzt raucht mal eine Zigarette. Und dann schauen wir mal, wer danach alles tot umfällt. Natürlich keiner. Es geht bei der Problematik der Autoabgase nicht um drei Stunden Exposition, sondern um die dauerhafte, um jahrelanges Wohnen an einer Ausfallstraße, um die Gefahr von Krebs und anderen schwerwiegenden Erkrankungen. Und dazu gibt es schon sehr viele Erkenntnisse.
Das hört sich so an, als ob das Ziel ein möglichst wohlwollendes Untersuchungsergebnis für die Autokonzerne war?
Natürlich ging es darum, die Erkenntnisse wenn möglich politisch geschickt zu gebrauchen.
Der Fall um die Abgasversuche schlägt aktuell enorme Wellen. Die Kanzlerin sagt, das sei ethisch in keiner Weise zu rechtfertigen. Hat sie recht?
Da kann ich ihr nicht zustimmen. Betrachtet man die Studie als Grundlagenforschung mit minimalem Risiko für die Probanden und freiwilliger Teilnahme, dann ist sie ethisch vertretbar, auch wenn sie einige handwerkliche Mängel enthält. Ich halte die Untersuchung aber mit Blick auf die Unternehmen für politisch töricht. Die Aufregung ist ja auch nur in dem politischen Umfeld zu verstehen. Der Aufschrei ist ja nicht ethisch, sondern politisch.
Wie meinen Sie das?
Solche Untersuchungen müssen nicht grundsätzlich falsch sein. Auch Pharmaunternehmen machen Studien über ihre eigenen Medikamente. Aber da bleibt natürlich ein Geschmäckle. Denn die Frage ist doch: Brauchen wird die Erkenntnis, dass bei drei Stunden Exposition in so geringer Konzentration keine Nebenwirkungen auftreten? Es geht doch letztlich um eine politische Entscheidung: Wie gehen wir mit Dieselfahrzeugen um, mit Verbrennungsmotoren? Wie schaffen wir es, Mobilität umweltfreundlicher zu gestalten? Diese Gemengelage macht den Vorgang ja so problematisch. Die Autoindustrie bekommt es nicht hin, den Diesel sauber zu machen. Und offenbar ist sie daran auch nicht interessiert. Sie hat jahrelang gelogen und betrogen, was das Zeug hält. Und unterstützt dann auch noch fragwürdige Studien.
Versuche mit Autoabgasen lösen Assoziationen zu einem dunklen Kapitel der deutschen Geschichte aus.
Da sollte man aufpassen. Die Intention der Forschung ist nicht mit Auschwitz zu vergleichen. Das war ein Genozid, der auf Vernichtung aus rassistischen Gründen abzielte. Hier ging es um Stickoxid in einer Menge, die bis 2009 noch am Arbeitsplatz erlaubt war und um Erkenntnisse, wie sich das auswirkt. Da sollten wir differenzieren.
Braucht es überhaupt derartige Versuchsstudien an Menschen?
In der Medizin braucht es sie schon. Sie stehen aber immer in einem Spannungsverhältnis. Wir haben immer auf der einen Seite Probanden, die wir einem Risiko aussetzen. Beispielsweise beim Test eines neuen Medikaments. Dabei gehen wir ein Risiko ein, das ist unvermeidlich, denn wir wissen nicht, wie das neue Medikament wirkt. Die Frage ist: Wofür tun wir das? Was könnten die Patienten oder Probanden davon haben? Wie groß ist das Nutzenpotenzial, einerseits für die Versuchsteilnehmer, andererseits für die Gesellschaft, für die Wissenschaft? Diese Abwägung müssen wir stets vornehmen. Wir brauchen aber diese Erkenntnisse. Wir können die Studien an Menschen auch nicht durch Tierversuche ersetzen.
Wenn es aber wie in diesem Fall offensichtlich um einen wirtschaftlichen Nutzen geht?
Sicherlich zielt das Interesse der Automobilindustrie hier nicht auf Grundlagenforschung ab - sondern darauf, die Studie in ihrer Argumentation zu benutzen. Und das ist eben politisch äußerst fragwürdig. Denn die Erkenntnisse, was die Wirkung von Autoabgasen betrifft, sind doch eindeutig und lange bekannt und werden sich durch eine Studie an wenigen Menschen und drei Stunden Exposition nicht ändern. Deshalb hat man sich doch entschieden, die Grenzwerte zu senken.
Darf sich, wie in diesem Fall, eine öffentliche Forschungseinrichtung überhaupt für eine solche Studie zur Verfügung stellen?
Das ist die Freiheit der Wissenschaft. Es hat ein Geschmäckle. Aber es ist nicht verboten. Sie haben nichts Illegales gemacht. Die Studie hat freilich einige handwerkliche Mängel. Sie ist sicher kein Glanzstück der Wissenschaft.