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Wintersturm in den USA gleicht "Schnee-Apokalypse": Eine Reportage aus dem kältesten Ort


Reportage aus Montana
So fühlt sich der Megafrost in den USA an

  • Bastian Brauns
Von Bastian Brauns, Bozeman

Aktualisiert am 24.12.2022Lesedauer: 5 Min.
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Schnee, Eisregen, Temperaturabfallen: So dramatisch ist die Situation in den USA. (Quelle: t-online)

Zu Weihnachten müssen die USA mit einem Jahrhundertsturm aus Eis und Schnee rechnen. Ein Besuch in Bozeman, Montana, dem aktuell kältesten Ort Amerikas.

"Unterschätze niemals die Kälte", sagt Wave. Er sitzt am Steuer jenes Tundra-Geländewagens, den ich als Taxi bekomme, um auf den verschneit vereisten Straßen von Bozeman irgendwie voranzukommen. Eigentlich wollte ich nur weiße Weihnachten bei Freunden verbringen. Am Fuß der Rocky Mountains im US-Bundesstaat Montana gefriert der Atem von Wave nun bei minus 25 Grad Celsius an der Innenseite der Windschutzscheibe des Tundras.

Er zeigt mir ein großes Pflaster, das er um seinen linken Zeigefinger geklebt hat. "Siehst du? Heute Morgen habe ich die Tür zugeschlagen. Ein Stück Eis hat mir dabei die ganze Haut abgerissen", sagt Wave. "Und das Verrückte ist: Ich habe gar nichts gespürt. Erst nachdem ich ein paar Minuten im Auto saß und ich das ganz Blut sah." Ich bin mir unsicher, ob er nicht vielleicht was geraucht hatte. Aber ich glaube Wave, dass mit diesen Temperaturen nicht zu spaßen ist.

"Bombenzyklone" und "Schnee-Apokalypse"

Was im Nordwesten der USA derzeit seinen Anfang nimmt, wächst sich kurz vor Weihnachten zu einer historischen Kaltsturmfront für das ganze Land aus. Von der Arktis kommend, reichen Eiswinde und Blizzard-Gefahr über den mittleren Westen bis an die Ostküste Amerikas. Der Wintersturm und der plötzliche Absturz der Temperaturen stellen selbst die Südstaaten Texas und Florida vor Probleme.

Von "Schnee-Apokalypse", "Bombenzyklone" und dem "arktischen Monster" ist in den Nachrichten zu lesen. Tausende Flüge wurden bereits gestrichen. Es soll ein Winterweihnachtssturm werden, wie ihn wohl jede Generation nur einmal in ihrem Leben erfahren wird.

Auch der US-Präsident warnt die Bevölkerung inzwischen und trifft in Washington mit dem Katastrophenschutz und seinen Wetterexperten zusammen. Dieser Sturm ist "kein einfacher Schneetag, den man vielleicht als Kind kannte", sagt Joe Biden. Die Wetterlage sei sehr gefährlich und absolut ernst zu nehmen.

Mit 26 Gouverneuren der insgesamt 50 Bundesstaaten sei er bereits in Kontakt. "Hören Sie bitte auf die Warnungen der lokalen Behörden!", appelliert Biden. "Sollten Sie Reisepläne haben, brechen Sie jetzt sofort auf. Warten Sie nicht. Das ist kein Spaß."

Kalt, kälter, Montana

In den ersten fünf Minuten außer Haus denke ich noch: Ach, so viel kälter, als ich es aus Deutschland kenne, ist das doch gar nicht. Weil es in Montana sehr trocken ist, spürt man die Kälte nicht sofort. Dann aber atme ich ein und bekomme einen Hustenanfall.

Eisig und trocken bahnt sich die Luft ihren Weg in meine Lungen. Die Kälte kriecht mir in die Knochen – trotz zwei Paar Socken, langer Unterhose und fünf Lagen aus Unterhemden, T-Shirts, Pullover und Mantel. Ich spüre: Sofort muss ich von draußen irgendwie nach drinnen.

Meine Freunde hatten mich gewarnt: "Es ist zu kalt, um draußen zu telefonieren." Ich sagte: "Das passt schon, die Sonne scheint doch." Es passt gar nicht. Der Schein trügt. Jetzt weiß ich, warum wirklich niemand im Freien zu sehen ist. Nur Menschen in Autos, die ihre Motoren laufen lassen.

24 Stunden später ist die Temperatur weiter gefallen. Auf minus 35 Grad Celsius. Eine Freundin sagt: "Es gibt hier einen Spruch. Ab minus 15 Grad spürst du keinen Unterschied mehr. Du stirbst nur schneller." Ich beschließe, mich ab sofort an ihre Empfehlungen zu halten.

Plötzlich befinde ich mich also am aktuell kältesten Ort der Vereinigten Staaten. In Bozeman liegt der Allzeit-Minusrekord bei minus 41 Grad Celsius. Davon sind wir noch 5 Grad entfernt. Wasserrohre frieren ein.

"Das ist nicht normal", ist der häufigste Satz, den ich bei meinen Treffen höre. Hier sind sie an Kälte gewöhnt. Aber dass die Temperatur so schnell und tief fällt, das sei absolut untypisch.

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Das Wetterphänomen "Bombenzyklone" beschreibt einen sich schnell verstärkenden Sturm, bei dem der Luftdruck innerhalb von 24 Stunden ebenfalls rasend schnell abfällt. Ich verstehe das fast ebenso wenig wie die absurd wirkende Umrechnung von Fahrenheit nach Celsius. Ich lerne: Nur bei minus 40 Grad Fahrenheit sind es auch minus 40 Grad Celsius. Ansonsten ist es kompliziert.

Entspannt bleiben die meisten angesichts der Jahrhundertkälte trotzdem. Man hilft sich hier mit Heizlüftern für die Füße und Drinks für die Seele. Ein Bekannter mixt den ganzen Tag über Drinks: Manhattan, Cosmopolitan oder Gin mit Birnenpüree und Prosecco. Das lokale Dark Ale soll ich auch probieren. Na gut. Dann Cheers, denke ich.

Jeder bestätigt mir: "Glückwunsch! Du bist echt zu der beschissensten Zeit des Jahres gekommen." Morgen kommt der Schneesturm.

Die Behörden empfehlen, Haustiere nicht ins Freie zu lassen, weil sonst deren Pfoten festfrieren. Ich gehe trotzdem raus mit einem Hund, weil der so wirkt, als ob er unbedingt will. Sein Name ist Bergie, ein Goldendoodle, der Schnee liebt.

Erst tollt er durch die weißen Berge im Vorgarten und bleibt wie angewurzelt stehen. Er scheint nicht zu wissen, welche Pfote er zuerst vom Boden lösen soll. Abwechselnd hebt er eine nach der anderen und hält sie zitternd in die Luft. Schnell steigen wir ins vorgeheizte Auto und brausen davon.

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Wer sich draußen aufhält, soll alle Körperteile mit mehreren Lagen Stoff bedecken. Sonst drohen schon nach wenigen Minuten Erfrierungen. Plötzliche Schneeverwehungen auf den einsamen Landstraßen durch die Prärie können hier zur Todesfalle werden, sollte das Auto stecken bleiben.

Zum Glück müssen wir nur ein paar Lebensmittel abholen. Die Straßen sind schon jetzt vollkommen von einer Eisschneeplatte bedeckt. Immerhin: Anders als in der Hauptstadt Washington bricht hier nicht alles zusammen, wenn eine Schneeflocke vom Himmel fällt.

Die Nerven liegen blank

Salz kann in Bozeman nicht gestreut werden, erzählt man mir. Zu teuer für diese Mengen an Eis und Schnee. Außerdem würde das hier sehr rare Grundwasser ungenießbar.

Es ist inzwischen so kalt, dass die Wetterbehörde von Montana das öffentlich demonstrieren will. Ein Video zeigt einen Mitarbeiter, der eine Tasse kochendes Wasser in die Luft wirft. Es zerstäubt in einer Schneewolke. Für Experimente ist dieses Wetter offenbar genau das Richtige.

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In den Nachrichten zeigen sie am Abend eine wütende Frau am Flughafen von Miami in Florida. Dort war ich gerade noch im Urlaub bei 28 Grad Celsius, Palmen und Ceviche. Das Chaos um die landesweit gestrichenen Flüge vor Weihnachten scheint die Frau nervlich mitzunehmen.

Tausende Kilometer entfernt reißt sie Monitore aus der Verankerung und wirft sie nach einem Flughafenmitarbeiter. Polizisten verhaften sie schließlich. Ich bin froh, dass ich noch vor dem historischen "polar vortex", diesem Polarwirbel aus der Arktis, in Montana angekommen bin.

Das Weihnachtswochenende bringt für mehr als die Hälfte der Amerikaner Kältesturmwarnungen mit sich. Der schneereichste Teil des gefährlichen Sturms soll erst noch bevorstehen. Immerhin, es werden sehr weiße Weihnachten.

Als wir nach Hause fahren, erfasst uns eine Schneeböe. Aus der Lüftungsanlage stäuben die Schneekristalle ins Wageninnere. Wie aus der Tasse des Menschen von der Wetterbehörde.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen vor Ort
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