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Experte zu Silvester-Gewalt: "Debatte über gescheiterte Integration ist falsch"


Historiker Oltmer über Migration
"Die Integration ist überhaupt nicht gescheitert"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 14.01.2023Lesedauer: 7 Min.
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Frau mit Deutschlandfahne (Archivbild): Die Integration von Migratinnen und Migranten sei hierzulande keineswegs gescheitert, sagt Historiker Jochen Oltmer.Vergrößern des Bildes
Frau mit Deutschlandfahne (Archivbild): Die Integration von Migratinnen und Migranten sei hierzulande keineswegs gescheitert, sagt Historiker Jochen Oltmer. (Quelle: Chai von der Laage/imago-images-bilder)

Rettungskräfte wurden an Silvester attackiert, einmal mehr wird die Integration von Migranten in Deutschland als gescheitert bezeichnet. Doch stimmt das? Historiker Jochen Oltmer widerspricht.

Deutschland debattiert über Migration – wieder einmal. Anlass sind Übergriffe auf Polizei- und Rettungskräfte in der Silvesternacht. Aber wird die Debatte fair und konstruktiv geführt? Wenn etwa CDU-Chef Friedrich Merz Kinder von Migranten als "kleine Paschas" tituliert?

Jochen Oltmer, Experte für die Geschichte der Migration, erklärt, wie erfolgreich die Integration von Migrantinnen und Migranten in Deutschland eigentlich sei. Und welchen Problemen sich Politik und Gesellschaft stellen müssten.

t-online: Professor Oltmer, in der Silvesternacht wurden Rettungskräfte und Polizei in Städten wie Berlin attackiert, nun wird breit über eine "gescheiterte Integration" von Migranten in Deutschland diskutiert. Ist die Integration denn tatsächlich misslungen?

Jochen Oltmer: Die Integration ist überhaupt nicht gescheitert, wenn es auch tatsächlich Probleme gibt, die nicht zu leugnen sind. Wir leben aber in einer Zeit, in der bestimmte Ereignisse wie die der Silvesternacht eine hohe politische und mediale Aufmerksamkeit erhalten – und die nach ein paar Tagen und Wochen schnell wieder vergessen werden. Das ist das große Problem.

Dabei wäre es dringend nötig, die Umstände der Übergriffe aufzuklären. Bislang bleiben Politik und Behörden eine Erklärung eher schuldig, stattdessen wird hauptsächlich über Migration debattiert.

So ist es leider. Bei zahlreichen gesellschaftlichen Entwicklungen, die als problematisch wahrgenommen werden, wird sehr schnell ein Bezug zur Migration hergestellt. Aus dem Grund, weil sie eben in großen Teilen der Öffentlichkeit kritisch gesehen wird. Dieser Mechanismus der Skandalisierung ist nicht neu, sondern tritt mit verlässlicher Regelmäßigkeit wieder auf.

Jochen Oltmer, Jahrgang 1965, lehrt Neueste Geschichte an der Universität Osnabrück und ist zugleich Vorstand des dortigen Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS). Der Historiker ist Experte für die Geschichte der Migration, 2020 erschien sein Buch "Migration. Geschichte und Zukunft der Gegenwart" in einer erweiterten Neuauflage.

Nun ist aber die Tatsache, dass Polizei- und Rettungskräfte angegriffen werden, überaus besorgniserregend.

Die Debatte aber hauptsächlich über die vermeintlich gescheiterte Integration zu führen, ist schlichtweg falsch. Tatsächlich spielen dabei viele Missverständnisse eine Rolle. Zunächst ist der Anteil von Migranten unter den festgenommenen Randalierern von Silvester in Berlin geringer als zunächst berichtet. Dass ihr Anteil immer noch recht hoch ist, hat hingegen einen einfachen Grund: In zahlreichen deutschen Städten ist der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund wesentlich höher als im Rest des Landes. Im hessischen Offenbach zum Beispiel haben mittlerweile rund 80 Prozent der unter Achtzehnjährigen einen solchen.

Wo liegt aber dann der eigentliche Kern der Problematik, wenn etwa in manchen Städten sogenannte No-go-Areas ohne öffentliche Sicherheit entstehen?

Wir müssen verstärkt über Kriminalität und deren Ursachen sprechen. Kriminelle Handlungen werden so gut wie immer von Männern ausgeübt, vor allem von jungen Männern. In manchen Kreisen herrscht ein Kult der Männlichkeit, der ausgesprochen anachronistisch und gefährlich ist. Nämlich die Ansicht, dass Gewalt ein rechtmäßiger Ausdruck von Frust und Protest sei. Da muss deutlich die Grenze aufgezeigt werden. Einerseits durch die Ermittlung und Verurteilung von Straftätern, andererseits müssen die Ursachen der Gewaltbereitschaft beseitigt werden, etwa mithilfe von Sozial- und Bildungsarbeit. Die Augen weiter zu verschließen, bringt nichts.

Laut Statistischem Bundesamt hatte 2021 jede vierte Person in der Bundesrepublik einen Migrationshintergrund, in Gesellschaft und Politik scheint diese Tatsache aber weniger gegenwärtig zu sein. Ist Deutschland seit langer Zeit ein Einwanderungsland, das gar eigentlich keines sein will?

Diese Tatsache ist politisch tatsächlich lange Zeit geleugnet worden, das war ein großer Fehler. Es gab seitens der Politik kein Bemühen, dieser Einwanderung Akzeptanz und Anerkennung zu verschaffen. Dass Migration eine Herausforderung ist und auch Probleme mit sich bringen kann, ist zudem eine Binsenweisheit. Diese Ignoranz sorgt nun etwa dafür, dass in Deutschland eine große Anzahl von gut integrierten Menschen mit Migrationshintergrund lebt, die sich nicht anerkannt und repräsentiert fühlen. Und von Debatten, wie sie gerade angesichts der Silvesterkrawalle stattfinden, sehr verunsichert ist.

Kommen wir einmal auf die Gruppen von Menschen zu sprechen, die seit der Gründung der Bundesrepublik einwanderten. Zunächst waren es vor dem Hintergrund des Kalten Krieges vor allem Flüchtende aus der DDR.

Richtig. Von 1949 bis 1961 verließen fast drei Millionen Menschen die Deutsche Demokratische Republik – und gingen in den Westen. Vor dem Hintergrund des sogenannten Wirtschaftswunders in der jungen Bundesrepublik ist das sehr wichtig, denn diese Leute waren in der Regel jung und qualifiziert, deswegen auch in der stark expandierenden Wirtschaft sehr begehrt.

1961 verhinderte dann allerdings der Mauerbau durch die SED den Fortgang von DDR-Bürgern in den Westen.

Die westdeutsche Wirtschaft florierte allerdings weiter. Schon 1955 hatte die Bundesregierung ein Abkommen zur Anwerbung von Arbeitskräften mit Italien abgeschlossen, diese Praxis wurde dann in den Sechzigerjahren weiter forciert. Vor allem aus der Türkei kamen später viele sogenannte Gastarbeiter nach Westdeutschland, wobei dieser Begriff irreführend ist. Genau wie die Anwerbeabkommen immer wieder als spezifische deutsche Einrichtung angesehen werden. Tatsächlich schloss 1919 Frankreich die ersten Anwerbeabkommen mit anderen Staaten ab, das war seither eine keineswegs unübliche Praxis in Europa.

Während die sogenannten Gastarbeiter aus wirtschaftlichen Gründen in die Bundesrepublik kamen, nahm das Land auch politische Flüchtlinge auf.

Als die Sowjetunion 1956 den Volksaufstand in Ungarn niederschlug, flüchteten zum Beispiel mehrere Zehntausend Menschen in die Bundesrepublik. In den späten Siebzigerjahren kamen oppositionelle Iranerinnen und Iraner zu uns, zeitgleich nach dem Ende des Vietnamkrieges auch sogenannte Boat People aus Südostasien. Gerade an den beiden letztgenannten Gruppen lässt sich erkennen, dass zu dieser Zeit nicht mehr ausschließlich Menschen aus Europa in Deutschland Sicherheit suchen, sondern aus weiten Teilen der Welt.

Tatsächlich sind Schutzsuchende aus Krisengebieten allerdings der weitaus kleinere Teil der Menschen, die nach Deutschland kommen.

Das stimmt. Quasi seit der Geburtsstunde der Europäischen Union, dem Abschluss der Römischen Verträge 1957, wurde das Ziel der Freizügigkeit für die Bürgerinnen und Bürger der Staatengemeinschaft formuliert, nun ist sie seit längerer Zeit Realität. Ein großer Teil des Zuzugs in die Bundesrepublik besteht in den letzten Jahren deswegen tatsächlich aus Menschen aus EU-Ländern. Im Vordergrund der politischen und medialen Debatte steht allerdings eine wesentlich kleine Gruppe – und zwar die Personen, die hierherkommen, um Schutz zu suchen.

Was wiederum bedeutet, dass die bundesdeutsche Sichtweise auf die Migration sehr verkürzt und verzerrt ist.

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Absolut. Der allergrößte Teil der Migration in die Bundesrepublik spielt in der öffentlichen Wahrnehmung keine Rolle, auf der kleinen Gruppe der Schutzsuchenden lastet hingegen der gesamte Druck der Aufmerksamkeit. "Einwanderung in der Sozialsysteme", "Asyltourismus" und dergleichen wären hier als Stichwort zu nennen.

Nun haben wir über Millionen Menschen gesprochen, die nach Deutschland kamen. Zugleich sagten Sie bereits, dass sich beim eigentlich unwilligen Einwanderungsland Deutschland im Prinzip nicht von einer gescheiterten Integration sprechen lässt. Wie war das möglich?

Tatsächlich hat es in der Bundesrepublik im europäischen Vergleich in dieser Hinsicht weit weniger Konflikte gegeben als in manchen westeuropäischen Nachbarländern …

… im Herbst 2005 kam es in französischen Banlieues zu schweren Ausschreitungen.

Das wäre ein Beispiel. In der Bezeichnung Gastarbeiter, über die wir schon gesprochen haben, kam lange deutlich die Erwartung zum Tragen, dass diese Menschen Deutschland wieder verlassen würden. Was mehrere Millionen allerdings nicht getan haben. Im Gegenteil, sie haben ihre Familien nach Deutschland geholt und wurden hierzulande heimisch. Eine effektive Einwanderungspolitik, die diese Bezeichnung verdienen würde, fand damals und auch lange Zeit danach auf Bundesebene nicht statt. Vielmehr wurde die Niederlassung dieser Menschen sowohl auf bundespolitischer wie auf gesellschaftlicher Ebene ignoriert, wenn nicht gar bestritten.

Welche Institutionen haben aber dann dafür gesorgt, dass Möglichkeiten zur Integration und Teilhabe geschaffen wurden?

Verschiedene Kommunen, insbesondere Großstädte wie München, Frankfurt am Main oder auch Stuttgart haben bereits in den späten Sechziger- und Siebzigerjahren eine Integrationspolitik begonnen, die Migrantinnen und Migranten Perspektiven und Teilhabe ermöglicht haben. Nicht zuletzt haben aber die Menschen, die nach Deutschland gekommen sind, Veränderungen mit ermöglicht. Mit Beharrlichkeit haben sie gegen Diskriminierung gekämpft, dafür gesorgt, dass manche ausländerrechtliche Bestimmung geändert oder abgeschafft worden ist.

Im Jahr 2000 ermöglichte die Einführung des Geburtsortsprinzips den Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit.

Das war ein wichtiger Schritt – und trug endlich der Tatsache Rechnung, dass Menschen nach Deutschland gekommen waren, die bleiben würden. Nachdem sich in den Neunzigerjahren Rassismus und Rechtsextremismus in verschiedenen ausländerfeindlichen Anschlägen geäußert hatten, war es zudem eine wichtige symbolische Geste.

Die Deutschland zudem attraktiver als Einwanderungsland gemacht hat.

Zweifellos. Die Vereinten Nationen führen eine Statistik der wichtigsten Einwanderungsländer der Welt. Auf Platz eins finden sich die USA, auf Platz zwei folgt die Bundesrepublik Deutschland. Das sollte sich insbesondere die Politik noch einmal klarmachen.

Kommen wir zum Schluss noch einmal auf die sogenannten Problemviertel wie in Berlin zurück, auf die sich die politische und mediale Debatte bezieht. Was ging dort schief?

Ein Spaziergang durch die betroffenen Viertel ist lehrreich – insbesondere der Blick auf die Schulen. Dort ist zu wenig investiert worden, dort wurde zu wenig soziale, politische und administrative Arbeit geleistet. Nun rächen sich die Fehler der Vergangenheit. Die am besten ausgestatteten Schulen in Deutschland sind an den Orten zu finden, an denen die Menschen am wohlhabendsten sind. Am schlechtesten ausgestattet sind sie in der Regel dort, wo die Situation sozial ohnehin prekär ist.

Nun werden genau diese Umstände oft kritisiert, aber in der Realität ändert sich wenig. Warum?

Die Menschen in diesen Vierteln wurden lange Zeit ignoriert. Insbesondere die Migrantinnen und Migranten. Lange Zeit blieb ihnen die deutsche Staatsangehörigkeit verwehrt, als Wähler waren sie daher für die Parteien eher uninteressant. Und die Menschen spürten das auch deutlich. Wichtig wäre nun die Anwendung folgender Erkenntnis, die schon vor Jahrzehnten richtig gewesen ist: Eine erfolgreiche Integrationsarbeit muss tatsächlich vor Ort stattfinden und Chancen eröffnen. Es gibt wenig Schlimmeres, als wenn junge Menschen keine Perspektiven für sich sehen – und das gilt für alle, ob eingewandert oder nicht.

Tatsächlich ist der Zugang gerade zu besser qualifizierten Jobs in Deutschland schwierig.

An kaum einem anderen Ort der Welt ist die formelle Qualifikation für einen Job so wichtig wie im "Land der Zeugnisse". Ob wir uns diese Haltung noch erlauben können? Ich bezweifle es. Die demografische Entwicklung und der Fachkräftemangel sprechen eine eindeutige Sprache. Deutschland braucht Einwanderung – und diese Einwanderung wird durch Vielfalt geprägt sein.

Durch die Debatte geistert immer wieder der Begriff der "Leitkultur". Wie sinnvoll ist so etwas als Bestandteil der Debatte um die Migration?

Wir brauchen eine intensive Debatte um Einwanderung und Integration, da besteht kein Zweifel. Sie muss nur konstruktiv geführt werden. Als positiver Identifikationsrahmen bietet sich statt einer wie auch immer konstruierten "Leitkultur" das Grundgesetz wie die geltenden Gesetze an, die für alle definieren, was erlaubt ist und was nicht. Menschen, die nach Deutschland kommen, tun dies auch wegen der Stabilität und Sicherheit, die sie hier erwarten. Attacken auf Rettungskräfte sind inakzeptabel – da ist sich die überwältigende Mehrheit der Menschen ohne und mit Migrationshintergrund in Deutschland einig.

Professor Oltmer, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Jochen Oltmer via Videokonferenz
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