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Probleme für Putin im Ukraine-Krieg: "Es geht langsam zu Ende"


Krieg in der Ukraine
"Es geht langsam zu Ende"

Von Patrick Diekmann

Aktualisiert am 07.09.2022Lesedauer: 7 Min.
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Ein Soldat der berüchtigten "Gruppe Wagner", einer russischen Söldnertruppe, im Donbass in der Nähe des schwer umkämpften Ortes Bakhmut.Vergrößern des Bildes
Ein Soldat der berüchtigten "Gruppe Wagner", einer russischen Söldnertruppe, im Donbass in der Nähe des schwer umkämpften Ortes Bakhmut. (Quelle: IMAGO/Viktor Antonyuk)

Die Anzeichen verdichten sich: Die Ukraine kann im Süden Erfolge verzeichnen – und auch im Osten läuft es schlecht für Putin. Ein Überblick über die Kriegslage.

Es sind erbitterte Kämpfe, wohl mit hohen Verlusten auf beiden Seiten. Im Süden der Ukraine läuft seit mehreren Tagen eine Gegenoffensive der ukrainischen Armee. Russische Munitionsdepots werden angegriffen und explodieren, Brücken werden gesprengt. Die Ukraine kann einige Ortschaften zurückerobern und es wächst die Hoffnung, dass dies auch für die strategisch wichtige Stadt Cherson erreicht werden kann. Aber eines ist klar: Die ukrainische Armee macht zwar Fortschritte, aber nur sehr langsam.

Trotzdem ist die Offensive der Ukraine in der Region Cherson schon jetzt ein strategischer Erfolg: Der russische Präsident Wladimir Putin ist zunehmend in der Defensive. Schnelle Geländegewinne sind nicht das gegenwärtige Ziel Kiews, denn die ukrainische Armee verfügt über zu wenig Schützen- und Kampfpanzer für eine erfolgreiche Gegenoffensive auf breiter Front.

Stattdessen schafft es die Ukraine erfolgreich, die russischen Nachschublinien zu attackieren und die Versorgung mit Waffen und Munition deutlich zu erschweren. Wenn die ukrainischen Truppen den momentanen Druck aufrechterhalten können, sind ein Rückzug Moskaus und die Einnahme Chersons denkbar. Das Momentum in diesem Krieg ist gegenwärtig auf der Seite der Ukraine:

  • Das geplante Referendum in Cherson über einen Beitritt der Region zu Russland wurde vorerst gestoppt. Das war das zentrale Ziel Kiews.
  • Die jetzige militärische Lage bindet einen großen Teil der russischen Truppen im Süden und verhindert gleichzeitig, dass Russland selbst dort Geländegewinne erzielen kann, weil Versorgungslinien mit Raketenwerfern und Drohnen besser angreifbar sind.
  • Es war das erste Mal in diesem Krieg, dass Russland auf eine Aktion der Ukraine reagieren musste. Vorher bestimmte immer die russische Militärführung, wo gekämpft wird.
  • Im Osten stand die ukrainische Armee extrem unter Druck, Russland konnte seine Truppen dort logistisch deutlich besser versorgen. Mit der Ankündigung des Angriffs hat die Ukraine den Kreml dazu gezwungen, Truppen in den Süden zu verlegen. Das entlastete die östliche Front. Nun konnte die Ukraine auch im Osten erfolgreiche Gegenoffensiven forcieren.
  • Jede Erfolgsnachricht ist für die Ukraine in diesem Krieg gegen das russische Militär wichtig. Die Gegenoffensive wird im Land als Symbol für den erfolgreichen Widerstand gesehen.
  • Die ukrainische Armee hat es in Cherson geschafft, Brücken über den Fluss Dnipro zu zerstören. Das sichert auch Hafenstädte wie Odessa besser gegen mögliche künftige Angriffe der russischen Armee ab.

"Echte Gewinne" für die Ukraine

Die ukrainischen Truppen machen nach Einschätzung Londons bei ihrer Gegenoffensive im Süden des Landes "echte Gewinne". Das sagte der britische Verteidigungsminister Ben Wallace am Montag im Parlament in London. "Die Ukraine hat eine Reihe von Flussübergängen schwer beschädigt, mit dem Ziel, den russischen Nachschub zu beschränken", so Wallace weiter. Moskaus Invasionsarmee werde sowohl mit Artilleriebeschuss belegt als auch von Bodentruppen attackiert.

Nach Einschätzung der Briten hat Russland im Laufe des Kriegs bisher etwa 25.000 Tote in seinen Reihen zu beklagen. Nimmt man Gefangenschaft, Fahnenflucht und andere Gründe hinzu, haben die russischen Invasionstruppen demnach insgesamt rund 80.000 Mann verloren, sagte Wallace. Der Minister machte jedoch deutlich, dass auch die Ukrainer derzeit bei ihrer Offensive Verluste erleiden.

Der Kreml spielt dagegen den Erfolg der Offensive herunter und betont die hohen Verluste der ukrainischen Armee. Das "Regime" aus Kiew führe seine erfolglosen Versuche fort, sich im Raum zwischen Mykolajiw und Krywyj Rih festzusetzen, berichtete das russische Verteidigungsministerium am Samstag in Moskau. Dabei habe die Ukraine 23 Panzer und 27 Kampffahrzeuge verloren. Zudem sollen mehr als 230 Soldaten getötet worden sein. In Krankenhäusern fehlten Betten und Blutkonserven.

"Langsame und methodische" Zerschlagung der russischen Streitkräfte

Ein klares Bild über die Lage im Süden des Landes kann aktuell jedoch nicht gezeichnet werden. Es ist wahrscheinlich, dass beide Seiten ihre Verluste beschönigen. Neutrale Journalistinnen und Journalisten befinden sich im Moment kaum an der Front in Cherson. Deshalb sind die offiziellen Angaben generell eher skeptisch zu betrachten.

Trotzdem verdichten sich die Meldungen, dass die Ukraine an der südlichen Front Fortschritte erzielt hat. "Die Gegenoffensive der Ukraine macht nur langsame Fortschritte, mehr war aber auch nicht zu erwarten. Es geht voran, aber nicht wirklich schnell", sagt Gustav Gressel, Russland- und Militärexperte bei der internationalen Denkfabrik "European Council on Foreign Relations", im Gespräch mit t-online. "Die Ukraine hat nicht genügend mechanisierte Kräfte, um die russische Armee in den Fluss zu treiben. Aber sie haben die Schwachstellen der Russen gut ausgenutzt."

Gustav Gressel ist als Senior Policy Fellow bei der politischen Denkfabrik European Council On Foreign Relations (ECFR) tätig. Er beschäftigt sich in seiner Forschung schwerpunktmäßig mit den militärischen Strukturen in Osteuropa und insbesondere mit den russischen Streitkräften.

Die Offensive im Süden war eine strategische Meisterleistung der Ukraine. Moskau zu zwingen, seine Schwerpunkte und seine Soldaten zu verlagern, sollte als "ein ziemlicher Erfolg" betrachtet werden, betont Mykola Bielieskov, wissenschaftlicher Mitarbeiter am ukrainischen "Nationalen Institut für strategische Studien", im Gespräch mit "Politico". "Es ist das erste Mal in dem Krieg, dass Russland seine Pläne aufgrund des Vorgehens der Ukraine korrigiert", sagte er. "Vorher lag die Initiative ausschließlich in russischen Händen."

Es geht für die Ukraine laut Analyst Bielieskov um die "langsame und methodische" Zerschlagung der russischen Streitkräfte.

Kampf gegen die russische Munition

Die Strategie der Ukraine wird anhand der vielen zerstörten russischen Munitionslager deutlich, die speziell mit den HIMARS-Raketenwerfern aus den USA gezielt angegriffen werden können. Das scheint laut vielen westlichen Analysten Wirkung zu zeigen. "Die Russen scheinen deutlich weniger Munition zu haben, als Kollegen und ich angenommen haben", schrieb etwa der US-Historiker und Militärwissenschaftler Jack Watling auf Twitter. Dies sei aber nur eine vorsichtige Einschätzung.

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Klar ist: Die russische Armee verfügt in der Breite über eine deutlich höhere Feuerkraft als die ukrainischen Verteidiger. Doch in Cherson wird es immer schwieriger für Moskau, den Nachschub über den Dnipro zu bringen. "Es sieht immer mehr so aus, als ob das Ziel der ukrainischen Gegenoffensive ist, die russische Zermürbung zu beschleunigen", erklärte Phillips P. OBrien, Professor für Strategische Studien an der Universität St Andrews in Schottland, auf Twitter.

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Laut Militärexperte Gressel hätten beide Seite aus politischen Gründen militärische Fehler gemacht. "Rein militärisch wäre es vernünftiger für die Ukraine gewesen, wenn sie noch gewartet und mehr Kräfte zusammengezogen hätte", sagt er t-online. "Aber die schnellen Vorstöße der Ukrainer um Isjum geben der Nicht-Verlegung von mechanisierten Reserven aus dem Osten noch mal einen ganz anderen Ton." Die Gegenoffensive um Charkiw verlaufe viel schneller als die in Cherson. "Auch für Russland wäre es militärisch sinnvoller gewesen, sich auf Brückenköpfe zurückfallen zu lassen, die man einfacher verteidigen kann." Aber Moskau möchte Cherson unbedingt halten und Kiew griff an, weil die ukrainische Führung ein Referendum in Cherson befürchtete.

"Für die Ukraine und Russland steht viel auf dem Spiel"

Die Folgen dieser militär-strategischen Fehler wiegen derzeit für Russland schwerer. So brachte die russische Armee zuletzt noch Nachschub an Truppen über den Dnipro, was die Versorgungsschwierigkeiten weiter verstärken dürfte. Außerdem zog der Kreml kampfstarke Verbände aus dem Osten der Ukraine ab, wodurch es der ukrainischen Armee möglich wurde, nun auch kleine Geländegewinne im Raum Charkiw zu verzeichnen. Der Dienstag war in jedem Fall operativ kein guter Tag für Wladimir Putin.

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Aber es könnte noch schlimmer kommen. "Es wird schwieriger für die russische Armee, Munition an die Front zu bringen. Das ist aber ein schleichender Prozess, es geht langsam zu Ende. Deswegen muss die Ukraine den Druck aufrechterhalten", erklärt Gressel. "Für die Ukraine und für Russland steht viel auf dem Spiel. Wenn die ukrainische Armee den Brückenkopf in Cherson erobert, dann hätten sie 20.000 russische Soldaten und viel Kriegsgerät ausgeschaltet."

Der Experte skizziert: "In ein bis zwei Wochen könnte die russische Armee in eine Situation kommen, in der sie das rechte Ufer des Dnipro nicht mehr halten kann."

Putin hofft auf Schwäche des Westens

Auch die Lage im von Russland besetzten Teil von Cherson ist beunruhigend für Moskau, es kommt immer wieder zu Anschlägen und Attentaten auf die von Russland eingesetzten Verwalter. "Der pro-russische Chef der Besatzungsverwaltung in Cherson ist geflohen und der Polizeikommissar hat sich auf die Krim abgesetzt", meint Gressel. "Deshalb kann man die Choreografie einer Annexion wahrscheinlich aktuell nicht durchführen. Das allein ist ein großer politischer Erfolg für die Ukraine." Und eine Niederlage für Putin.

Dass diese erbitterten Kämpfe aktuell ausgerechnet im Süden toben, geschieht nicht ohne Grund. Die Region ist strategisch besonders wichtig und tatsächlich könnte sich in Cherson womöglich das Schicksal der Ukraine im Angesicht des russischen Angriffskrieges entscheiden.

Das hat folgende Gründe:

  • Russland braucht die Region für die Versorgung der Krim, zum Beispiel mit Strom und Süßwasser.
  • Cherson gilt als Tor zur westlichen Schwarzmeerküste. Zu Kriegsbeginn war es für die Ukraine besonders wichtig, den Vormarsch der russischen Armee im Süden zu stoppen, um unter anderem auch die wichtige Hafenstadt Odessa zu schützen. Sollte die Ukraine vom Schwarzen Meer abgeschnitten werden, wäre das Land mutmaßlich wirtschaftlich nur schwer überlebensfähig.
  • Strategisch ist die Kontrolle der Übergänge über den Fluss Dnipro von Bedeutung.
    Die Region ist bedeutend für die Landwirtschaft und damit für die Versorgung des Landes.
  • Für beide Seiten hat Cherson auch einen großen symbolischen Wert. Für Russland war es die erste größere ukrainische Stadt, die beim Angriff auf das Nachbarland eingenommen wurde. Dagegen protestierten viele Ukrainer in Cherson gegen die russischen Invasoren – die ukrainische Führung möchte zeigen, dass diese Menschen nicht aufgegeben werden.

Auch deshalb wird Putin nicht einfach aufgeben. Der russische Präsident hat im Notfall noch immer die Möglichkeit einer General- oder Teilmobilmachung – er könnte offiziell der Ukraine den Krieg erklären. Jedoch ist sein Kalkül wahrscheinlich ein anderes: "Putin ist aus einem Grund noch nicht an einem Waffenstillstand interessiert: Er schaut, ob die Gaskrise die Europäer schwächt oder wie die Zwischenwahlen die USA beeinträchtigen", sagt Gressel. "Am Ende weiß er, dass seine Armee, ohne große Unterstützung der Ukraine aus dem Westen, die höhere Feuerkraft hat. Das wäre zwar ein unschöner Sieg für Moskau, weil es sehr lange dauert, aber es wäre immerhin noch ein Sieg."

Verwendete Quellen
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