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Kremlkritiker: "Es ist möglich, dass Putin Nuklearwaffen einsetzt"


Nawalny-Vertrauter Wolkow
"Dann sind wir verloren"

  • David Schafbuch
InterviewVon David Schafbuch

Aktualisiert am 23.10.2022Lesedauer: 7 Min.
Interview
Unsere Interview-Regel

Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

Zum journalistischen Leitbild von t-online.
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Wladimir Putin bei Truppenbesuch: "Putin ist ein kranker Mann", meint Leonid Wolkow. (Quelle: Mikhail Klimentyev/Kremlin Pool/imago images)

Leonid Wolkow gilt als einer der engsten Vertrauten von Alexej Nawalny. Wie blickt er auf seine Heimat und den Ukraine-Krieg?

Leonid Wolkow wirkt kurz angebunden: Eine ganze Stunde könne er sich für ein Interview nicht nehmen. Er werde auf Englisch antworten. Auf Deutsch müsse er zu lange überlegen, erklärt der Vertraute von Alexej Nawalny, der nach der Festnahme des bekannten Oppositionellen dessen Antikorruptionsstiftung leitet. Am Ende beantwortet er alle Fragen in der Hälfte der Zeit, wechselt in den Sätzen zwischen Deutsch und Englisch hin und her, während seine Blicke beiläufig immer wieder auf sein Handy fallen, auf dem permanent neue Nachrichten einprasseln.

Anders als Nawalny entschied sich der 41-Jährige, seine russische Heimat vor drei Jahren zu verlassen. Mittlerweile ist Wolkow selbst einer der bekanntesten russischen Kremlkritiker weltweit.

Video | Putin besucht mobilisierte Soldaten – und greift zur Waffe
Quelle: Glomex

Über seine Arbeit und den russischen Machtapparat hat er kürzlich ein Buch veröffentlicht. t-online hat ihn am Rande der Frankfurter Buchmesse getroffen. Im Gespräch erläutert Wolkow, wie er selbst mit den Gefahren als Oppositioneller umgeht, wie er die atomare Bedrohung Russlands einschätzt – und wie Wladimir Putin die Macht in Russland verlieren könnte.

t-online: Herr Wolkow, Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass Sie zum Zeitpunkt der Invasion Russlands in die Ukraine einen Vortrag in Los Angeles gehalten haben. Genau in dem Moment, als Sie das Podium betraten, verkündete Putin den Einmarsch. Wie ging es Ihnen an diesem Abend?

Leonid Wolkow: Es war ein echter Albtraum. Alle im Saal waren schockiert. Anstatt meines Vortrags wurde es eine kollektive Therapiestunde. Es fühlte sich an, als ob viele Dinge, die wir bisher über Putin wussten, sich als falsch herausstellten.

Wie meinen Sie das?

Es war ein Moment der Selbstreflexion: Was haben wir nicht verstanden? Aber irgendwann habe ich begriffen: Putin lag falsch, nicht ich. Unsere Einschätzung war richtig: Er wird militärisch in der Ukraine nicht erfolgreich sein, weil der Westen und die Ukraine zu stark sind. Außerdem ist der Angriff ein Desaster für die russische Wirtschaft. Wir dachten nur, dass Putin deshalb nicht einmarschieren wird. Er dachte dagegen, dass er erfolgreich einen Blitzkrieg führen kann.

Viele Experten gingen im Vorfeld davon aus, dass die Ukraine sehr schnell von Russland eingenommen wird. Jetzt heißt es oft, dass Putin keine Atomwaffen einsetzen wird. Könnten wir uns wieder irren?

Es ist möglich, dass Putin Nuklearwaffen einsetzt. Aber wir dürfen nicht zulassen, dass die Nuklearfrage der zentrale Aspekt unserer Diskussion wird. Dann sind wir verloren. Wenn es nur noch heißt "Gib mir Kiew, Warschau oder Berlin oder ich zünde die Bombe", dann kommen wir nicht mehr weiter.

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(Quelle: Malte Ossowski/Sven Simon/imago images)

Zur Person

Leonid Wolkow ist einer der bekanntesten russischen Oppositionellen. Er leitete 2018 den Präsidentschaftswahlkampf von Alexej Nawalny. Nach dessen Festnahme übernahm er die Leitung von Nawalnys Antikorruptionsstiftung. Kürzlich hat er das Buch "Putinland" über seine Arbeit und seine Heimat veröffentlicht. Wolkow lebt seit 2019 in der litauischen Hauptstadt Vilnius.

Wie ließe sich besser mit ihm umgehen?

Die Position des Westens muss lauten: Wir tun, was wir tun müssen. Putin ist ein kranker Mann – und es gibt keinen Weg, wie wir ihn beeinflussen können. Er wird den verdammten Knopf irgendwann drücken, oder eben nicht.

Wirklich beruhigend klingt das nicht. Viele deutsche Politiker haben schon betont, man müsse die Gefahr eines russischen Atomschlags ernst nehmen.

Ich kann nur folgenden Rat geben: Unterstützt weiter die Ukraine. Sendet so viele Waffen, wie ihr könnt. Denn die einzige Lösung ist es, Putin militärisch zu besiegen.

Und macht die Bundesregierung da genug?

Die Lieferung von schweren Waffen dauert zu lange. Es wird wohl auch nicht immer alles eingehalten, was versprochen wurde. Trotzdem tut Deutschland eine ganze Menge: Die wirtschaftliche und humanitäre Hilfe sollte man nicht vergessen.

Aber?

Es gibt in Deutschland immer noch Leute, die glauben, man könne mit Putin verhandeln, um für einen Waffenstillstand zu sorgen. Doch das bringt nichts. Er wird dann nur noch brutaler gegen sein eigenes Volk vorgehen, die russische Wirtschaft militarisieren und irgendwann Rache nehmen. Am Ende würde nur noch mehr Blut vergossen. Russland muss verlieren und alle seine Truppen aus der Ukraine zurückziehen. Es gibt keine andere Möglichkeit.

Hätte es zur jetzigen Situation überhaupt kommen müssen? Deutschland hat sich 2008 gegen den Aufnahmeprozess der Ukraine in die Nato gewehrt. Nach der Annexion der Krim 2014 wurde die Pipeline Nord Stream 2 gebaut. Aus heutiger Sicht wurde Putin dadurch wohl ermutigt, militärisch zu eskalieren.

Deutschland hat viele Fehler gemacht. Putin wurde viel zu lange im Kreis der Mächtigen geachtet. Bis zur Annexion der Krim war Russland G8-Mitglied und gehört noch immer den G20 an. In Deutschland wurde die Abhängigkeit von russischer Energie immer größer. Der Ausstieg aus der Atomenergie war ein riesiger Fehler. Ich lebe in Litauen. Das Land ist sehr klein, aber besitzt schon lange ein LNG-Terminal. Wieso hat Deutschland keines? Angela Merkel hat schon 2014 gesagt, dass Putin den Bezug zur Realität verliert. Aber der Westen hat darauf nicht reagiert.

Nicht nur Litauen diskutiert gerade hitzig, wie man mit Menschen umgehen soll, die wegen der Mobilisierung aus Russland fliehen. Wie nehmen Sie das wahr?

Russen, die ihre Einberufung vermeiden wollen, tun das Richtige. Denn sie wollen keine Ukrainer töten und vergrößern die logistischen Probleme in der russischen Armee. Die Position der baltischen Staaten ist aber auch verständlich, da sie nicht besonders groß sind. Auf Europa als Ganzes trifft das aber nicht zu.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass es völlig unmöglich war, Alexej Nawalny von einer Rückkehr nach Russland abzuhalten, nachdem er vergiftet wurde. Wo wären Sie heute, wenn Sie Ihr Heimatland nicht verlassen hätten?

Ich wäre wahrscheinlich im Gefängnis. Bis gestern wurden neun Strafanzeigen gegen mich gestellt, gerade kam eine zehnte dazu. Es ging um Terrorismus oder Extremismus, irgend sowas. Alexej sagte mal zu mir: Wenn ich ins Gefängnis gehe, wird das zumindest jemand bemerken, und er werde ein Symbol für den Widerstand. Sollte aber einer der Kollegen festgenommen werden, bringe das unserer politischen Bewegung nichts Gutes, unsere Arbeit würde aber sehr darunter leiden. Außerdem stand ich nicht so sehr in der Öffentlichkeit. Also entschieden Alexej und ich, dass es besser ist, wenn ich Russland verlasse.

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Ist es Ihnen und seinen Anwälten überhaupt noch möglich, mit ihm in Kontakt zu treten?

Seit Mitte August ist es den Anwälten nahezu unmöglich, mit ihm zu sprechen. Sie können auch mit ihm keine Dokumente mehr austauschen. Unsere Strategie ist deshalb jetzt, dass er möglichst häufig vor Gericht erscheint, damit wir sehen, in welcher Verfassung er ist. Alexej nutzt auch seine Redezeit dort, um seine Botschaften zu verbreiten.

Sie schreiben, dass Putin immer neue Wege sucht, um den Westen in diesem Krieg zu erpressen: Zuerst ging es um Getreide, dann um Gas, jetzt um Atomwaffen. Wäre es möglich, dass Nawalny auch irgendwann als ein Druckmittel missbraucht wird?

Irgendwann könnte es so kommen. Aber die Position von Alexej ist bekannt. Er will nicht, dass der Westen durch ihn erpresst wird – egal wie schlecht er behandelt wird.

Mittlerweile dürften die russischen Sicherheitsbehörden auch Sie im Visier haben.

Ich kann mich natürlich nicht sicher fühlen, ich stehe jetzt der größten russischen Vereinigung gegen Putin vor. Wir sind mächtig und das weiß auch der Kreml. Aber ich kann nicht aufhören, mein Leben zu leben. Wenn ich immer daran denken würde, dass jede Kaffeetasse, die ich anfasse, vergiftet sein könnte, wäre ich für meinen Job nicht mehr geeignet. Zum Glück ist Vilnius eine recht kleine Stadt, wodurch es nicht so leicht ist, verfolgt zu werden. Wir stehen dort auch in engem Kontakt mit der litauischen Regierung.

Und wie nehmen Sie im Moment die Stimmung in Russland wahr?

Es ist etwas traurig, aber erst seit der Mobilmachung hat sie sich deutlich verändert, nicht im Februar.

Die Mobilmachung war also der größere Schock?

Wen interessiert schon eine "Spezialoperation", die "militärische Sondereinheiten" durchführen? Putin hat jetzt den Krieg in jedes Haus gebracht – und es werden Fragen gestellt. Natürlich denken hier viele Leute: "Wieso versteht ihr verdammten Idioten erst jetzt, was vorgeht? Putin hat jahrelang Wahlen verschoben, euer Geld gestohlen und damit Paläste gebaut! Ihr habt es verdient, an der Front zu sterben!" Aber das ist der falsche Ansatz.

Wie begegnen Sie diesen Menschen?

Mit Geduld. Es ist unsere Verantwortung, für sie jetzt da zu sein und ihre Fragen zu beantworten. Die Zahlen unserer Zuschauer und Abonnenten gehen gerade durch die Decke. Das ist eine einmalige Gelegenheit.

Könnte das ein Zeichen sein, dass der Krieg bald endet?

Meine Hoffnung ist, dass es in einem Jahr vorbei sein wird. Das bedeutet noch sehr viel Leid. Aber die russische Armee ist sehr erschöpft. Die Moral ist niedrig. Putin zwingt seine Generäle dazu, das Unmögliche möglich zu machen. Irgendwann wird die Stimmung kippen.

Putin wird also aus seinem inneren Zirkel gestürzt.

Ich halte das für das wahrscheinlichste Szenario.

Derjenige, der dann an die Macht kommt, würde dem Westen einen Rückzug aus der Ukraine anbieten, um seine eigene Position nicht zu gefährden, heißt es in Ihrem Buch. Dann wäre aus Ihrer Sicht auch der Weg frei für ein demokratisches Russland. Aber davor könnte es doch zu einem sehr intensiven Machtkampf kommen, der im schlimmsten Fall auch sehr blutig werden könnte.

Es ist nur eine Prognose. Aber man sollte beachten: Es gibt keinen natürlichen Nachfolger von Putin. Denn er schaut sehr genau darauf, dass niemand neben ihm zu mächtig wird. Wer auch immer der Schlauste unter seinen Gefolgsleuten ist: Er wird dem Westen einen Deal anbieten. Aber das bedeutet nicht, dass derjenige sich lange an der Macht halten wird. Auch Putin wurde durch Wahlen legitimiert, selbst wenn er sie manipuliert hat. Wer auch immer sich an die Spitze setzen will, wird Wahlen ausrufen. Wir sind darauf vorbereitet – Putins Gefolgsleute sind das nicht.

Herr Wolkow, vielen Dank für dieses Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Leonid Wolkow
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