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Ukraine-Krieg | "Munition geht zur Neige": Protokolle des russischen Rückzugs


Protokolle des russischen Rückzugs
"Die Munition geht zur Neige"

Von t-online, wan

Aktualisiert am 28.10.2022Lesedauer: 4 Min.
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Putin in Bredouille: Wann und warum Russland ein Friedensangebot machen könnte, erklärt Carlo Masala im Video. (Quelle: t-online)
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In einem Bunker zurückgelassene Dokumente geben Aufschluss über die hastige Flucht russischer Truppen. Sie zeigen die Probleme der Einheiten vor Ort.

Der Rückzug russischer Truppen aus der ukrainischen Stadt Balakliia war offenbar in so großer Eile, dass ihre Führungsoffiziere kaum Zeit zum Packen offizieller Dokumente hatten. Ein Team der Nachrichtenagentur Reuters hat sich die zurückgelassenen Papiere angeschaut. Sie zeigen persönliche Aufzeichnungen ebenso wie detaillierte Angaben, wo sich russische Geheimdienstmitarbeiter befinden – sogar mit Koordinatenangaben. Befehle der Kommandoführung sind ebenso notiert worden wie Beschreibungen der Kämpfe.

Gefunden wurden die Papiere in einem Bunker, der als Hauptquartier in der kleinen Stadt im Osten der Ukraine fungierte. Er war unter einer ehemaligen Werkstatt eingerichtet worden. "Kommandogruppe" stand an der Stahltür, doch dahinter fanden die Reuters-Reporter eher Chaos. Dokumente lagen auf dem Boden verstreut, einige teilweise verbrannt, viele aber noch intakt. Es sollen nach Reuters-Angaben Tausende Unterlagen sein, die zurückgelassen wurden. Einen Teil haben die Rechercheure durchgesehen und einen Einblick in die Führung von Putins Kampftruppen erhalten.

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So gab es schon Wochen vor dem Rückzug offenbar Probleme mit Informationsbeschaffung und elektronischer Kriegsführung. Die kommerziellen Drohnen waren einigen Soldaten fremd. Störsender, die die ukrainische Kommunikation unterbrechen sollten, fielen wohl immer wieder aus. Die Papiere und Tagebücher zeigen Berichte, nach denen die Truppen immer weiter schrumpften: durch Tod, Deserteure und Stress. Zwei Einheiten sollen nur noch 20 Prozent ihrer Kapazität gehabt haben.

In den Dokumenten und persönlichen Notizen wurde penibel aufgeschrieben, wie sich die Lage für die russischen Truppen veränderte. Noch am Morgen des 19. Juli hatte es wohl eine normale Führungsbesprechung gegeben. Am Nachmittag griffen dann ukrainische Soldaten das Dorf Hrakove an, mit Panzern und Artillerie, im Zuständigkeitsbereich von Balakliia. Per Funk meldete laut Unterlagen die Front, dass sie den Rückzug antrete. Im Notizbuch im Bunker wurde der Satz gefunden: "Die Munition geht zur Neige." Zwar kam Unterstützung von anderen Truppenteilen, allerdings waren die Verluste hoch – 39 Mann seien verwundet worden, 9 tot.

Wenige Tage später spitzte sich die Situation dann zu. Die eigenen Drohnen, in normalen Elektronikläden zu kaufen, hatten Softwareprobleme. Die der Ukrainer funktionierten hingegen. Und dann kamen am 24. Juli die amerikanischen Himars-Raketen in Stellung.

Ein russischer Kommandeur beschrieb den Reuters-Reportern, wie effektiv die Schläge der Ukraine mit Himars-Raketen gewesen seien. Sie hätten sehr präzise Kommandoposten getroffen. "Es ist wie Roulette", sagte der Mann mit dem Kampfnamen "Plakat Junior 888", "du hast Glück oder nicht. Die Einschläge können überall kommen." Zwar wehrten sich die russischen Truppen, aber nicht mit großem Erfolg. Den August über gab es immer wieder Kämpfe, die aber vor allem die russischen Truppen und ihr Material auszehrten.

Am 6. September begann eine ukrainische Gegenoffensive, zunächst mit Artillerie. Dann umzingelten Kiews Truppen das Dorf, die russischen Einheiten mussten fliehen. Das Kommandozentrum wurde beschossen und ging in Flammen auf. Nur der Bunker hielt stand, war aber zu diesem Zeitpunkt wohl schon verlassen.

Berichte über Folterungen

Den entdeckten Bunker soll ein Colonel namens Ivan Popov geleitet haben. Er gehört zum 11. Armee-Korps, das wiederum Teil der Baltik-Flotte ist. Nach russischen Medienberichten soll Popov in Tschetschenien und Georgien gedient haben. Versuche von Reuters, ihn zu befragen, scheiterten.

Einige der Berichte zeigen offenbar auch, dass es zu Folterungen gekommen war. Es wird ein leitender Offizier genannt, der für die Zivilbevölkerung zuständig gewesen sein soll. Ihm unterstand auch ein Verhörzentrum, in dem Zivilisten geschlagen und mit Elektroschocks gefoltert worden sein sollen.

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Keine Antwort aus Moskau

Reuters überprüfte die Echtheit der Dokumente, indem es fünf verlassene militärische Außenposten im Nordosten der Ukraine besuchte, deren Koordinaten gespeichert waren. Anwohner bestätigten jeweils, dass dort russische Truppen stationiert gewesen seien. Die Reporter interviewten auch fünf Soldaten, die in der Balakliia-Truppe dienten, und überprüften Details in den Dokumenten mit einem Buch, das von einem der russischen Soldaten geführt wurde. Seitens Russland gab es keinen Kommentar zu den Enthüllungen, auch nicht von den in Balakliia stationierten Kommandeuren.

Der Kommandoraum war nach Aufgaben aufgeteilt: Es gab Tische für Kampfhandlungen, elektronische Kriegsführung, Drohnen und Informationsbeschaffung. Täglich soll es hier Treffen der jeweiligen Leiter gegeben haben, so die Aufzeichnungen.

Eine Tabelle im Balakliia-Bunker zeigte, dass ein typischer russischer Sergeant 202.084 Rubel (3.200 US-Dollar) Gehalt im Monat plus Prämien erhielt, während ein Sergeant der Separatistentruppe nur 91.200 Rubel (1.400 US-Dollar) erhielt. Der Chef einer Flammenwerfer-Kompanie in Lugansk hält in einem Dokument fest, dass acht seiner Untergebenen vorbestraft waren – darunter ein Mann wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung.

Kurz bevor der Kommandoposten abgegeben wurde, waren einer gefundenen Tabelle zufolge nur 71 Prozent der Soldaten noch einsatzbereit. Einige Einheiten seien noch schlechter besetzt gewesen, statt 240 Soldaten habe das zweite Angriffsbataillon nur noch 49 Kräfte gehabt.

Der Kommandochef Popov sei verletzt worden und habe einen Monat im Krankenhaus verbracht, sagte seine Frau gegenüber Reuters. Sie sagte, er sei inzwischen in den Rang eines Generals befördert worden und stehe kurz vor einer neuen Aufgabe. Wo, verriet sie nicht. Ein Soldat schrieb in sein Tagebuch, wie er sich die Zukunft vorstelle: "Ich bin am 10. August 2022 nach Hause gegangen, ich bin schon zu Hause bei meiner Familie", schrieb er. "Ich habe eine schöne Zeit in Chabarowsk mit meiner Familie, meiner Frau und meinen Mädchen."

Verwendete Quellen
  • reuters.com: "Abandoned Russian base holds secrets of retreat in Ukraine"
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