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Militärexperte zu möglichem Kriegsende: Putins Regime sitzt in der Falle


Russlands Dauerpräsident
Jetzt sitzt sein Regime in der Falle

MeinungVon Wladimir Kaminer

Aktualisiert am 16.01.2023Lesedauer: 4 Min.
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Wladimir Putin: Ohne den Krieg kann Russlands Despot nicht mehr sein, meint Wladimir Kaminer. (Quelle: IMAGO/Mikhail Klimentyev/Kremlin Pool)

Der Westen ist kriegsmüde, sehnt sich ein Ende der russischen Aggression herbei. Wladimir Putin sieht das ganz anders, meint Wladimir Kaminer.

Dieses Jahr begann mit einem Expertenwettbewerb zum Ausgang des Krieges gegen die Ukraine. Die westlichen Beobachter sind von ihm genervt und skeptisch hinsichtlich einer schnellen Abwicklung: Wird der Krieg noch dieses Jahr enden oder erst im nächsten?

Fragen über Fragen: Wann ist mit dem schnellstmöglichen Waffenstillstand in der Ukraine zu rechnen? Sollten den Russen nicht schon längst die Raketen ausgegangen sein? Wo aber nur nehmen sie die neuen her? Die meisten Experten sehen dabei eine Munitionsknappheit bei den Angreifern durchaus bestätigt. Wenn jetzt auch noch die Nato-Staaten ihre Waffenlieferungen an die Ukrainer unterlassen würden, wären beide Seiten an den Verhandlungstisch gezwungen. Sagen zumindest westliche Beobachter.

(Quelle: Frank May)

Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Kürzlich erschien sein neues Buch "Wie sage ich es meiner Mutter. Die neue Welt erklärt: von Gendersternchen bis Bio-Siegel".

Die Welt sei müde von diesem Krieg geworden, je schneller sich beide slawischen Völker wieder vertragen, desto besser für uns. Egal, unter welcher Staatlichkeit diese gottverlassene Gegend im Osten auch firmiert, so denken die hiesigen Friedensbeschwörer. Vom Schlachtfeld sind jedenfalls keine großen Neuigkeiten zu erwarten.

Nach fast einem Jahr Krieg haben beide Seiten einen Status quo erreicht: Die Ukrainer brauchen das Zehnfache an Waffen und Munition, um voranzukommen, die Russen das Zehnfache an Mobilisierten, eine Millionenarmee, die Schließung der Grenzen und eine Umstellung der Wirtschaft auf militärische Produktion. Beides wird dieses Jahr nicht möglich sein.

Putin sieht die "Vorteile"

Bereits die erste Mobilisierungswelle in Russland verlief chaotisch und hatte beinahe in der Bevölkerung Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit der Führung aufkommen lassen. Danach musste der Präsident jeden Tag im Fernsehen das Gegenteil beweisen – Auto fahren, Kerzen anzünden und Kinder tätscheln. Alles, um die Menschen zu beruhigen.

Aus der Sicht des Kremls könnte der Krieg eigentlich ewig so weitergehen, die hunderttausend Toten scheinen angesichts des möglichen Machtverlustes ein geringes Übel zu sein. Und ein paar Raketen und Panzer kann die russische Wirtschaft immer noch zusammenschrauben. Für das Kreml-Regime ist der Krieg als Dauerzustand die einzige Chance zu überleben.

Denn er erlaubt es, jede kritische Stimme sofort zum Verstummen zu bringen. Und beantwortet automatisch die Frage nach der geplanten Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr. Denn man wechselt die Pferde selbstverständlich nicht mitten in der Schlacht. Solange in der Ukraine weiter geschossen wird, kann sich das Regime in Sicherheit wiegen. Das Problem dabei sind nicht einmal die westlichen Waffenlieferungen, sondern es ist das eigene Volk.

Denn das Volk ist mit einem Dauerkrieg nicht einverstanden. Die Stimmen, die einen schnellen Sieg fordern, werden lauter. Jahrzehntelang wurde von den großen Bildschirmen in Russland erzählt, die russische Armee sei die stärkste der Welt – und verfüge über einzigartige Waffen, die dem Westen und besonders den Amerikanern Angst einjagen würden. Die Menschen verstehen nicht, warum diese großartige Armee ein ganzes Jahr lang irgendein Dorf im Osten der Ukraine nicht einnehmen kann.

Fragen über Fragen

Wo sind die modernen Waffen, die man jedes Jahr auf dem Roten Platz während der Parade bestaunte? Wurde etwa schon wieder alles geklaut? Das Regime in Moskau sitzt in der Falle, es kann die Erwartungen der Bevölkerung nicht erfüllen. Im russischen Generalstab wissen die Verantwortlichen Bescheid: Die Waffen vom Roten Platz waren nur Attrappen und der Einsatz der Massenvernichtungswaffen kann den erwünschten Sieg auch nicht bringen.

Die westlichen Friedensstifter machen den Fehler, die Schlagkraft der ukrainischen Armee zu unterschätzen. Die in bestimmten Kreisen verbreitete Meinung, dass es um die Ukraine schnell geschehen wäre, sollte die Solidarität mit dem Land in den USA kippen, entspricht nicht der Realität. Natürlich haben die westlichen Waffenlieferungen viel dazu beigetragen, die Wehrhaftigkeit der ukrainischen Armee zu steigern, doch auch im Lande ist letztes Jahr sehr viel passiert.

Eine beispiellose Investition in Militärausgaben und die Bereitschaft der Bevölkerung, für ihr Land das Leben zu riskieren, haben der Ukraine die eigentlich stärkste Armee Europas beschert: hoch motiviert, kampferprobt und im Umgang mit den Produkten fast aller Waffenexporteure der Welt vertraut. Diese Armee hat bereits Blut geleckt, Siege über die Russen errungen, sie kennt die feindliche Strategie und Taktik und kann sich weiterhin erfolgreich wehren.

Außerdem hat die Ukraine bedingungslose Unterstützer, nämlich ihre Nachbarländer, die in Russland eine Gefahr für ihre eigene Existenz sehen – und alles in ihrer Macht Stehende tun, um die Ukrainer in ihrem Kampf zu stützen. Polen, Lettland, Litauen, Estland und Finnland haben durchaus die Option, zu einer eigenständigen Achse des Widerstandes zu werden. Wohlbemerkt nicht als Mitglieder der Nato, sondern als ein unabhängiges Militärbündnis: durch die Aggression Russlands ins Leben gerufen.

Russlands Auseinanderbrechen könnte fatal sein

All diese Länder waren einst Teile des Großrussischen Reiches, ihr Kalkül bei der Unterstützung der Ukraine liegt auf der Hand: Solange der Russe in der Ukraine kämpft, hat er keine Kraft, sich anderswo einzumischen. Auch für Europa gilt: Je länger der Krieg dauert, desto schwächer wird der gefährliche Nachbar. Er darf nur bloß nicht gewinnen, ein solcher Sieg würde die Welt gänzlich ins Chaos stürzen.

Aber ganz untergehen solle das Regime auch wieder nicht. Bei der Anzahl der Privatarmeen, die infolge des Krieges entstanden sind, und der regionalen Konflikte im Inland könnte ein möglicher Zerfall Russlands noch größere Probleme und noch höhere Kosten für die Europäer verursachen als bislang. Der Krieg klebt an Putins Regime, er macht ihn verwundbar und zieht ihm langsam aber sicher die Lebenskraft aus den Adern.

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