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Ukraine-Krieg: Tagebuch von russischem Soldaten gibt erschütternden Einblick


Verzweifelte Briefe eines russischen Soldaten
"Habe Gedanken, jeden um mich herum zu erschießen"

Von t-online
Aktualisiert am 25.07.2023Lesedauer: 3 Min.
imago images 0299262439Vergrößern des BildesEin russischer Soldat im Juli 2022 in der Region Saporischschja (Symboldbild): Etliche Soldaten werden ohne große Militärerfahrung an die Front geschickt. (Quelle: IMAGO/Alexander Reka)
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Bei einem getöteten russischen Soldaten in der Ukraine soll ein Tagebuch gefunden worden sein: Die Aufzeichnungen geben einen erschütternden Eindruck der verzweifelten Lage an der Front.

Es sollen Berichte tiefer Verzweiflung sein, die einen seltenen Einblick in das Innere eines russischen Soldaten an der Front geben: Ukrainische Streitkräfte haben offenbar ein kleines Notizbuch bei einem toten russischen Soldaten gefunden. 33 Seiten Tagebucheinträge, geschrieben als Briefe, adressiert an seine Frau und seinen Sohn. "Ich will niemanden töten. Ich vermisse euch so sehr", zitiert daraus die britische "Sunday Times" den Soldaten aus Moskau.

Laut dem Bericht handelt es sich um den 31-jährigen Bauarbeiter Vitali Taktaschow, der Ende November 2022 ohne große militärische Erfahrungen eingezogen worden war. So erging es vielen Tausend Russen nach der Mobilmachung vergangenen September. Es ist davon auszugehen, dass Tausende im Schnellverfahren ausgebildete Russen in der Ukraine kämpfen, oft überfordert und mangelhaft ausgerüstet.

Für Taktaschow ging es dem Bericht zufolge aus Moskau in den Süden der Ukraine nach Tokmak, wo er zunächst in einem Bahnhof übernachtete. Von Tag eins seines Fronteinsatzes schilderte er seine Eindrücke in einem kleinen Heft, darunter die mangelhafte Ausrüstung, die er von der Armee erhielt: drei Paar warme Socken, Unterwäsche und T-Shirts, eine Ersatzuniform, zwei Sturmhauben und eine Mütze.

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"Drohnen fliegen, wir haben Artillerie gesehen"

Taktaschow und seine Kameraden seien der 58. Armeereserve zugeteilt worden und sollten zunächst südlich von Saporischschja Schützengräben ausheben, heißt es weiter bei der "Times".

Am 29. November schrieb er: "Ich vermisse euch so sehr und möchte über so viele Dinge sprechen. Wir halten uns in der Nähe einer Gruppe von Tschetschenen auf und hören in der Nacht Schüsse. Drohnen fliegen, wir haben Artillerie im Einsatz gesehen."

Es habe Gerüchte gegeben, dass sie zu Weihnachten nach Hause dürften, an diese Hoffnung klammerte sich Taktaschow offenbar. Stattdessen sei er zu Arbeiten in Schützengräben eingeteilt worden, in die Granaten einschlugen. So berichtet es die "Times".

"Alle Religionen sagen: 'Töte nicht'"

Für Taktaschow war sein Einsatz offenbar eine Tortur. Er notierte in seinem Tagebuch: "Ich möchte niemanden töten. Weil alle Religionen sagen: 'Töte nicht'. Ich hoffe, dass wir nicht töten und dass sie uns nicht töten." Später wurde er dem 70. Regiment zugeteilt und hob weiter Schützengräben aus, fällte Bäume für Beobachtungspunkte. Seine Stiefel und Jacke seien permanent nass, notierte er.

Taktaschow war der "Times" zufolge vor zweieinhalb Jahren Vater eines Sohnes geworden, hatte 2018 geheiratet. Bilder aus sozialen Medien zeigen ihn lächelnd mit seiner Familie, seine Frau Jekaterina nennt er in seinen Einträgen "Katja" oder "Katjonok", russisch für "Kätzchen". Seine Aufzeichnungen von der Front aber wurden zunehmend verzweifelter. Die Hoffnung, auf Urlaub gehen zu können, schwand, stattdessen sei er wohl an direkten Kämpfen bei Saporischschja beteiligt gewesen, schreibt die "Times". In welchen Gefechten genau, bleibt unklar.

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Taktaschow notierte, dass er mit dem Gedanken spiele, sich selbst zu verletzen, um abgezogen zu werden. "Ich habe Gedanken, jeden um mich herum oder mich selbst zu erschießen", schreibt er. Er halte nur durch, weil er an seine "Lieben" denke und "ungeduldig warte", sie wiederzusehen. Er überlegte demnach, einen umstürzenden Baum auf sein Bein fallen zu lassen, damit er "drei bis sechs Monate" auf eine Krankenstation komme. Niemand könne ihm nachweisen, dass das absichtlich passiert sei.

Am 6. Januar hörte Taktaschow plötzlich auf zu schreiben. Der Bericht mutmaßt, dass sich die Telefonverbindung verbessert haben könnte und Taktaschow seine Familie öfter anrief und Kurznachrichten schickte. Allerdings haben einfache Soldaten an der Front Experten zufolge in der Regel kein eigenes Handy. Das dient auch der Sicherheit: Mobiltelefone sind leicht zu orten. Taktaschow könnte auch schlicht die Lust verloren haben zu schreiben, weil er seine Situation als aussichtslos empfand. Womöglich sind weitere Aufzeichnungen verloren gegangen.

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Sein letztes Lebenszeichen ist ein Telefonat

Der lose Kontakt mit seiner Familie hält bis zum 22. Juni, da habe sie noch mit ihrem Mann telefoniert, sagte Jekaterina Taktaschowa der "Sunday Times". Es sollte sein letztes Lebenszeichen sein.

Im Juli fanden ihn schließlich ukrainische Soldaten, die in der Region Saporischschja vorrückten. Taktaschow war beim russischen Rückzug von seiner Einheit zurückgelassen worden. In der Vordertasche seiner Uniform hätten Ukrainer das kleine Buch gefunden, berichtet die "Times". Sie hätten ihn schließlich begraben – der Hitze wegen.

Eine offizielle Mitteilung erhielt die Familie laut dem Bericht nicht. Nach Auskunft von Taktaschows Frau Jekaterina gegenüber der "Times" wird ihr Mann in russischen Armeedatenbanken noch immer als "lebend" geführt.

Verwendete Quellen
  • thetimes.co.uk: "‘I don’t want to kill anyone’: diary of dead Russian soldier reveals life on front line" (englisch)
  • Twitter: @thetimes (englisch)
  • VKontakte: Jekaterina Taktaschowa
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