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Ukraine-Krieg: Schafft die Armee den Durchbruch? – "Zwickmühle für Putin"


Krieg in der Ukraine
"Das wird teuer für Putin"

InterviewVon Patrick Diekmann

Aktualisiert am 01.08.2023Lesedauer: 7 Min.
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Bachmut: Russland und die Ukraine liefern sich noch immer erbitterte Kämpfe um die Stadt.Vergrößern des Bildes
Bachmut: Russland und die Ukraine liefern sich noch immer erbitterte Kämpfe um die Stadt. (Quelle: Getty Images)

Im Ukraine-Krieg gibt es vor allem an drei Frontabschnitten heftige Kämpfe. Gelingt der ukrainischen Armee bald der Durchbruch und was bedeutet das für Russland? Ein Überblick.

Es ist ein mühevoller Kraftakt, mit hohen Verlusten für die Ukraine. Die ukrainische Armee greift im Süden des Landes weiterhin die russischen Verteidigungslinien an. Diese halten bislang, aber die russische Verteidigung bröckelt und Kiew scheint drei Frontabschnitte ausgemacht zu haben, an denen die ukrainische Führung Chancen auf einen Durchbruch sieht. Zwei der drei Brennpunkte befinden sich an der Frontlinie in Saporischschja, der dritte in Bachmut.

Der Sicherheitsexperte Christian Mölling sieht deshalb den Ukraine-Krieg nun in eine neue Phase eintreten. Im Gespräch mit t-online spricht er über das aktuelle Kräftegleichgewicht an der Front und erklärt, warum Wladimir Putin und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj plötzlich über Frieden sprechen.

t-online: Herr Mölling. Die Ukraine kommt bei ihrer Gegenoffensive bisher nur langsam voran. Wie bewerten sie die aktuelle militärische Lage?

Christian Mölling: Der Krieg erlebt aktuell eine neue Phase. Einerseits versucht die Ukraine, an zwei Punkten im Süden durch die Verteidigungslinien zu brechen. Andererseits gibt es auch schwere ukrainische Angriffe auf Bachmut. Die Stadt hat vor allem für Wladimir Putin eine hohe symbolische Bedeutung, weil Russland bei ihrer Eroberung erhebliche Mengen an Truppen verheizt hat. Für Putin wäre der Verlust ein erheblicher Rückschlag, deswegen ist der Kampf dort so wichtig.

Wie erfolgreich sind die Angriffe der Ukraine?

Schwer zu sagen, denn wir wissen nicht, was die Pläne der Ukraine sind. Wir wissen auch nicht, wie lange die Russen in der Lage sind, ihre aktuellen Stellungen noch zu verteidigen oder ob Putins Truppen die Puste ausgeht.

Christian Mölling ist stellvertretender Direktor des Forschungsinstituts der Denkfabrik Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und Leiter des Zentrums für Sicherheit und Verteidigung. Er studierte Politik-, Wirtschafts- und Geschichtswissenschaften an den Universitäten Duisburg und Warwick und promovierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Aber was ist an dieser Phase neu? Immerhin erleben wir schon seit Monaten, dass die Ukraine russische Linien auf Schwachstellen testet.

Neu ist, dass die ukrainische Armee versucht, etwas tiefer vorzudringen und die russischen Linien tatsächlich zu durchbrechen. Sie scheint Punkte gefunden zu haben, an denen sie glaubt, es versuchen zu können. Aber die Ukrainer haben bewusst noch nicht all ihre Reserven in Gefecht geworfen. Wo und wann sie das tun, hängt vor allem davon ab, wie die Russen wiederum mit ihren Reserven umgehen. Es steht eines fest: Die ukrainische Armee muss kreativ sein, um voranzukommen. Denn sie hat keine Luftunterstützung, zu wenig Material und keine 100 Prozent gesicherte Unterstützung aus dem Westen.

Doch läuft Kiew dabei nicht die Zeit davon? Immerhin droht schon wieder eine Matschzeit im Herbst.

Nein, ich glaube nicht. Viele Frontabschnitte im Süden sind nicht so stark von der Matschzeit betroffen. Außerdem ergibt aus Sicht der Ukraine volles Risiko auch keinen Sinn. Sie macht sich zwar Sorgen über die westliche Unterstützung mit zunehmender Kriegslänge, aber der Krieg wird auch nach dieser Offensive weitergehen. Für sie ist es keine Alternative, einen schlechten Frieden mit Russland zu schließen, der ohnehin nicht lange bestehen bleiben würde. Das ist keine Option.

Wie sehen denn aktuell die Verluste auf beiden Seiten aus?

Das ist total schwer einzuschätzen. Auf beiden Seiten gibt es natürlich sehr viel Propaganda und mit Blick aus dem Westen halte ich das alles für Kaffeesatzleserei. Man kann aber etwas darüber sagen, wie die strukturelle Ausstattung der größeren Verbände mit Menschen und Material aussieht – und die ist auf der russischen Seite schlecht. Außerdem ist es wichtig, dass die Ukraine tatsächlich mit ihrer Strategie immer größere Erfolge hat. Ein Zeichen dafür ist auch, dass Putin immer wieder führende Köpfe der Armee entlässt und damit zeigt, dass er einfach unzufrieden ist und sich nicht anders zu helfen weiß, als die Spitzen auszutauschen.

Was sind denn aktuell die militärischen Erfolge der Ukraine?

Sie müssen bedenken: Der Westen hat lange mit Waffenlieferungen gezögert und diese Zeit hat Russland genutzt, um ein kompaktes Verteidigungssystem aufzubauen. Schützengräben, Minenfelder, Artillerie und Kampfhubschrauber. Für die Ukraine ist es zunächst einmal ein großer Kraftakt, diese Linien zu überwinden. Das ist mit einem hohen Risiko und mit hohen eigenen Verlusten verbunden.

Deswegen der langsame Fortschritt?

Genau. Also kommt man nur Meter um Meter voran. Deshalb hat man angefangen, Lücken in diese Verteidigungsformation zu schlagen: In den letzten Wochen hat die Ukraine viel Artillerie Russlands zerstört, Angriffe auf die Krim erhöht und so Nachschub an Waffen und Material zerstört – hinzukommt der psychologische Effekt: Die Ukraine kann nun alle Ziele in den besetzen Gebieten erreichen. Ein anderer psychologischer Effekt kommt mit der Streumunition. All das zersetzt die Moral der russischen Armee weiter. Es ist aber halt nicht Hollywood.

Ist es dann trotzdem sinnvoll für Kiew, immer mehr Menschen und Material in den Kampf um Bachmut zu schicken? Die Stadt ist größtenteils zerstört.

Ja.

Das müssen sie erklären.

Die Ukraine hat die Anhöhen um die Stadt besetzt und kann die Russen mit Artillerie beschießen. Russland dagegen ist offenbar nicht in der Lage, einen Befreiungsschlag durchzuführen, die russischen Truppen in der Region sind abgekämpft. Es ist wahrscheinlich, dass die Russen in Bachmut weiterhin mehr Truppen verlieren als die Ukrainer. Das ist eine böse Zwickmühle für Putin, weil er es sich aus politischen Gründen nicht leisten will, die Stadt zu verlieren. Immerhin hat Russland viele Monate für ihre Einnahme gekämpft.

Hat die russische Propaganda nicht angekündigt, dass 100.000 Soldaten eine Gegenoffensive starten würden?

Damit hat Russland erneut versucht, Angst und Panik im Westen zu verbreiten. Wenn man genauer hingesehen hat, wurde eigentlich klar: Die russischen Verbände dort haben gar nicht die Kampfkraft, um eine strategische Operation durchzuführen, weil ihnen einfach das Material und die Menschen fehlen. Putins Truppen in der Ostukraine können vielleicht ukrainische Verbände an Frontabschnitten binden. Aber mehr nicht.

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Trotzdem schien die Sorgen in westlichen Medien groß.

Auch in Deutschland scheinen viele Menschen der Ukraine noch zu wenig zuzutrauen. Das ist für mich unverständlich. Sie hat nun die Fähigkeit, russische Logistik weit hinter den Frontlinien anzugreifen. Das ist ein großer Schritt, aber es wird noch etwas dauern, bis diese Angriffe Wirkung zeigen. Aber es dauert, weil der Westen Russland Zeit gegeben hat, um sich einzugraben. Die Ukraine hat von Anfang an die Dinge aufgeschrieben, die sie braucht. Wir wissen jetzt: Diese Liste war keine Unverschämtheit, sondern es war eine militärische Notwendigkeit.

Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace hat auf dem Nato-Gipfel in Vilnius erklärt, dass die Nato für die Ukraine nicht Amazon für Waffenlieferung sei.

Er war vielleicht enttäuscht, dass er nicht Nato-Generalsekretär wurde.

Aber was bräuchte die Ukraine nun am dringendsten auf dem Schlachtfeld?

Sie bräuchte nun mehr weitreichende Raketen und mehr Flugabwehr. Aber bei den Raketen hat wiederum auch die Bundesregierung Vorbehalte. Das ist vielleicht der Unterschied zu großen Online-Versandhäusern: Wenn man dort bestellt, bekommt man die volle Lieferung und nicht nur ein Drittel.

Warum lehnt Deutschland weiterhin die Lieferung von Taurus-Raketen ab?

Das weiß ich nicht, es ist die alte Hasenfüßigkeit. Die Briten und Franzosen haben schon längst Raketen mit größerer Reichweite geliefert. Deutschland schafft also keine neue Qualität und der Einsatz hat gezeigt, dass die Raketen für die Ukraine wirklich eine hilfreiche Sache sind. Die Ukraine wird die Unterstützung Deutschlands nicht aufs Spiel setzen, indem sie gegen Absprachen verstößt, die Waffen nicht gegen russisches Territorium einzusetzen.

Verfügt die Bundeswehr nicht über ausreichend Raketen?

Deutschland hat mehrere 100 Taurus-Flugkörper in Lagern, die wir so wohl nicht mehr einsetzen werden. Die Integration des Waffensystems wäre für die Ukraine kein Problem. Von daher zeigt sich erneut eines: Die deutschen Entscheidungsträger sind immer noch skeptisch, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen kann und misstrauen der Führung offensichtlich grundsätzlich. Und es gibt auch kaum öffentlichen Druck auf die Bundesregierung in der Frage.

Blicken wir auch noch mal auf Russland: Glauben Sie, dass der Kreml nur noch plant, die eroberten Gebiete in der Ukraine irgendwie zu halten?

Für eine weitere Offensive hat Russland nicht die Kapazitäten und der Kreml schreckt vor einer weiteren größeren Mobilisierungswelle zurück. Für Putin ist es ein Würfelspiel. Er will den Krieg am Leben halten und zögert seinen nächsten Wurf hinaus. Denn solange er das tut, ist das Spiel nicht entschieden.

Warum möchte Putin, dass der Krieg weitergeht?

Er hat der russischen Bevölkerung und auch den russischen Eliten viele Opfer abverlangt. Es starben nicht nur viele russische Soldaten, sondern die Eliten kostete der Angriffskrieg auch viel Geld und Ressourcen. Wenn das Spiel nun vorbei ist, werden die Punkte gezählt, es kommt zur Endabrechnung. Und das wird teuer für Putin.

Doch schon jetzt scheint klar, dass Putin diesen Krieg zu einem Sieg Russlands verklärt.

Natürlich. Putin macht das mit Propaganda und mit seinem Gewaltapparat. Aber seine Entourage wird ihre hohen Verluste nur in Kauf nehmen, solange es keine bessere Alternative zu Putin gibt. So könnte der Kreml-Chef weiter an der Macht bleiben.

Zuletzt haben sich die Ukraine und Russland auch zu möglichen Friedensgesprächen geäußert. Putin würde sie nicht ablehnen und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj möchte in Saudi-Arabien verhandeln, aber ohne Russland. Gibt es plötzlich Hoffnung auf Frieden?

Frieden ist ein großes Wort, denn zunächst einmal müssten sich die Ukraine und Russland auf eine Waffenruhe verständigen und die Kämpfe einstellen. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Das Spiel mit möglichen Friedensverhandlungen ist eher Valium für die öffentliche Debatte, um sich nicht vorwerfen zu lassen, sich Initiativen zu verschließen. Glaubhaft ist das allerdings nicht.

Warum?

Die Ukraine ist nicht in der Situation, dass sie das von Russland besetzte Staatsgebiet aufgeben muss, und Russland wiederum nennt das als Vorbedingung für Gespräche. Das passt nicht zusammen und Putin bietet nichts anderes an. Aber Russland kann offiziell keine Friedensinitiative aus China einfach ignorieren und Moskau muss sich zumindest offen dafür zeigen.

Wie ist es denn um die russische Rüstungsproduktion bestellt? Der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu reiste überraschend nach Nordkorea. Ist es ein Warnsignal für Russland, wenn Putin nun auf Kim Jong Un angewiesen ist?

Das Beispiel Nordkorea zeigt zumindest, dass Russland zumindest kurzfristig auf militärische Hilfen in diesem Krieg angewiesen ist. Ob die russische Rüstungsindustrie aber mittelfristig ihre Produktion steigern kann, ist unklar.

Aber das ist doch peinlich für Putin?

Putins Krieg hat Russland in eine ungünstige Situation gebracht. Es ist endgültig zum Juniorpartner von China geworden und noch im vergangenen Jahr hätten es die Nordkoreaner nicht gedacht, dass die Russen zum Waffeneinkauf vorbeikommen.

Für China scheint das recht praktisch zu sein. Immerhin hat Peking die Kontrolle über Nordkorea und kann Putin unterstützen, ohne direkt in den Krieg mit Waffenlieferung einzugreifen.

Richtig. Nordkorea wird genutzt, wie es in der Vergangenheit oft genutzt wurde. Als Schmuggelhafen.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Mölling.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Christian Mölling
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