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Putin hat Angst vor dem Ende – hat er den Ukraine-Krieg schon verloren?


Krieg in der Ukraine
Putin hat Angst vor dem Ende

Von Patrick Diekmann

Aktualisiert am 08.08.2023Lesedauer: 6 Min.
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Wladimir Putin: Russland muss eine Niederlage erleiden, sagt Historiker Timothy Garton Ash.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Der Kremlchef muss die Endabrechnung seines Angriffskriegs in der Ukraine fürchten. (Quelle: Sergei Karpukhin/dpa)

Wladimir Putin hält an seinen Kriegszielen in der Ukraine fest, ernsthafte Gesprächsangebote kommen aus Moskau nicht. Es scheint, als wolle der Kremlchef den Krieg in die Länge ziehen. Dafür gibt es Gründe.

Es ist dieser eine Satz, den die Weltöffentlichkeit seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine schon oft gehört hat: "Wladimir Putin hat diesen Krieg bereits verloren", sagte Joe Biden zuletzt im Juli. Damit meinte der US-Präsident weniger die militärische Lage, in der sich Russland und die Ukraine derzeit blutige Grabenkämpfe liefern und sich die Frontlinien nur wenig verschieben. Vielmehr zielte Biden damit auf Putin persönlich, der einen so hohen Preis zahlen musste, dass er schon jetzt als Verlierer feststehe.

Aber hat Biden denn recht? Hat Putin schon verloren?

Für den Kreml sollte die Annexion der Ukraine ein erster Schritt beim Wiederaufbau eines russischen Imperiums sein. Putin wollte demonstrieren, dass Russland zusammen mit China für eine Führungsrolle in einer neuen, multipolaren internationalen Ordnung bereit sei.

Doch alles kam anders: Die ukrainische Armee und ihre Unterstützung aus dem Westen präsentierten sich widerstandsfähiger, als das in Moskau erwartet wurde. Russland dagegen ist geschwächt und klammert sich mit aller Kraft an die Gebiete in der Ostukraine, die bereits erobert wurden.

Putin hat sich also verrechnet. Schon jetzt ist der Preis für Russland und die politische Elite so hoch, dass Putin Angst vor der Endabrechnung haben muss: hohe Verluste an Menschenleben, westliche Sanktionen gegen die russische Wirtschaft und die internationale Isolation der Kreml-Clique.

Für den Westen und die Ukraine sind das nicht nur gute Nachrichten: Denn Putins eigene Fehlkalkulationen sind für den Kremlchef ein Grund, den Krieg in die Länge zu ziehen.

Aktuell kaum Chancen auf Frieden

Auch deshalb sind sich Sicherheitsexperten und westliche Diplomaten einig darüber, dass ein Frieden in der Ukraine noch nicht absehbar ist. "Frieden ist ein großes Wort, denn zunächst einmal müssten sich die Ukraine und Russland auf eine Waffenruhe verständigen und die Kämpfe einstellen", so der Sicherheitsexperte Christian Mölling im t-online-Interview Anfang August.

"Das Spiel mit möglichen Friedensverhandlungen ist eher Valium für die öffentliche Debatte, um sich nicht vorwerfen zu lassen, sich Initiativen zu verschließen. Glaubhaft ist das allerdings nicht", so Mölling.

Das zeigte sich zuletzt auch beim Friedensgipfel in Saudi-Arabien, wo ohne Russland der Friedensplan des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj diskutiert wurde. Zwar blieb das Treffen ohne sichtliche Ergebnisse, doch die Ukraine konnte mit Ländern wie China ihre Gespräche vertiefen. Grundlage der ukrainischen Friedensformel sind die Unversehrtheit der Ukraine, eine Waffenruhe an allen Fronten, die Aufnahme von Friedensgesprächen unter UN-Aufsicht sowie der Austausch von Gefangenen.

Darauf können sich im Prinzip die 40 teilnehmenden Staaten verständigen, Russland lehnt die Formel dagegen ab. Es gebe derzeit "keine Grundlagen für eine Einigung", sagte Putin-Sprecher Dimitri Peskow der "New York Times" am Sonntag: "Wir werden die Operation für die absehbare Zukunft fortsetzen".

Dass Peskow überhaupt einer US-Zeitung ein Statement gibt, kann als Zeichen dafür gewertet werden, dass die russische Führung international immer mehr unter Druck gerät. Putin weiß, dass selbst China sich für die Unversehrtheit des ukrainischen Staatsgebietes ausgesprochen hat. Und das wird für den Kreml zum Problem.

Fatale Rechnung für Russland

Denn Putins Krieg wird auch in Russland am Ende natürlich daran gemessen werden, was er dem Land eigentlich gebracht hat. Russland erscheint militärisch als zu schwach, um das ganze Land zu erobern. Selbst die Abtrennung der Ukraine vom Schwarzen Meer ist wahrscheinlich unmöglich. Im Gegenteil: die russischen Soldaten graben sich an den Frontlinien ein und hoffen, dass der ukrainischen Armee kein Durchbruch durch die Verteidigungslinien gelingt.

Im Moment kann Russland die eroberten Gebiete größtenteils halten. Doch perspektivisch ist die Lage für Putin fatal, er steht vor einem Scherbenhaufen. Würde der Krieg gemäß den aktuellen Frontlinien eingefroren werden, stünde auf russischer Perspektive Folgendes auf dem Papier:

  • Russland hätte weniger als 20 Prozent der Ukraine erobert. Auf dem Papier klingt das viel, aber nicht einmal die komplette Eroberung der ukrainischen Oblasten Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson ist gelungen – und das waren zuletzt Putins Kriegsziele.
  • Moskau wollte die Ukraine "entmilitarisieren", was wahrscheinlich scheitern wird. Stattdessen wird das Land vom Westen hochgerüstet und rückt näher in Richtung Nato. Für Putin ist das eine Katastrophe.
  • Der Kremldespot wollte die Ukraine auch "entnazifizieren", womit die russische Propaganda mutmaßlich einen Regimewechsel vorbereitete. Das ging schief, Selenskyj sitzt aktuell fester im Sattel als vor Kriegsbeginn.
  • Abgesehen von den hohen Verlusten für die russische Wirtschaft durch westliche Sanktionen und die Entkopplung Russlands von internationalen Märkten müsste der Kreml auch die besetzten Gebiete wiederaufbauen. Das erfordert laut der Weltbank Hunderte Milliarden an Investitionen. Eine hohe Rechnung für Russland.
  • Außerdem hätte es Putin in den besetzten Gebieten mit einer ukrainischen Bevölkerung zu tun, die nicht unter russischer Herrschaft leben möchte. Es würde große Kraftanstrengungen, mutmaßlich Deportationen und Umsiedlungen erfordern, um Partisanen-Bewegungen zu unterdrücken. Ein offizieller Waffenstillstand würde also nicht automatisch zu einem Frieden führen.
  • Selbst die russischsprachigen Gebiete im Donbass sind aufgrund dieses ruinösen Krieges gebeutelt, deindustrialisiert und entvölkert.

Für Putin ist das in Summe ein großes Dilemma, er hat im Prinzip keine guten Optionen. Seine Armee hat in diesem Krieg große Verluste erlitten, viele russische Soldaten sind gefallen, viel Kriegsgerät ist zerstört und muss erneuert werden. Das erhöht den Erfolgsdruck auf die russische Führung.

Aber die Investitionen in diesen Angriffskrieg waren auf russischer Seite so hoch, dass in Moskau nicht nur eine Kosten-Nutzen-Rechnung darüber entscheidet, ob er weitergeführt wird. Nach den zahlreichen russischen Misserfolgen geht es nun auch um Putins Macht.

Putin muss auf Trump und auf Schwäche des Westens hoffen

Die Kriegsdynamiken sind zur ernsthaften Gefahr für das russische Regime geworden. Das sind die Begleiterscheinungen eines derartigen Konflikts: Niederlagen lassen Zweifel an der Weisheit und der Kompetenz der Führung aufkommen. Ein Scheitern im Krieg kann zum Sturz einer Regierung führen. Das ist oft der Grund, warum Regierungen weiterhin Kriege führen: Ein Eingeständnis einer Niederlage könnte es schwieriger machen, an der Macht zu bleiben.

Und das scheint auch auf Putin zuzutreffen. "Er hat der russischen Bevölkerung und auch den russischen Eliten viele Opfer abverlangt. Es starben nicht nur viele russische Soldaten, sondern die Eliten kostete der Angriffskrieg auch viel Geld und Ressourcen", meint Mölling. "Wenn das Spiel nun vorbei ist, werden die Punkte gezählt, es kommt zur Endabrechnung. Und das wird teuer für Putin."

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Um der Endabrechnung zu entkommen, muss Putin also weiterkämpfen lassen. Russlands Präsident hofft wahrscheinlich, dass die militärische Unterstützung des Westens für die Ukraine irgendwann nachlassen wird – und er muss nach der US-Wahl 2024 auf einen neuen US-Präsidenten hoffen, der kein Interesse mehr an der Ukraine hat.

Dann könnte Russland seine rüstungsindustrielle Überlegenheit gegenüber der Ukraine ausspielen und diesen Krieg vielleicht noch gewinnen.

Eine Alternative zu Putin?

Aktuell geht das nicht: Würde der russische Präsident auf der Grundlage der aktuellen Frontverläufe einen Waffenstillstand akzeptieren, würde dies die Bedrohung für die Krim verringern und die russische Besetzung eines immer noch beträchtlichen Teils des ukrainischen Territoriums ermöglichen. Es würde jedoch bestätigen, dass keines von Putins Zielen erreicht wurde. Zwar könnten die russischen Staatsmedien das trotzdem als Sieg propagieren, aber es könnte den Frust unter russischen Eliten verschärfen.

"Putin macht das mit Propaganda und mit seinem Gewaltapparat", erklärt Mölling t-online. "Aber seine Entourage wird ihre hohen Verluste nur in Kauf nehmen, solange es keine bessere Alternative zu Putin gibt."

Der Kremlchef muss fürchten, dass die Abrechnung seines Krieges in Russland vor dem Ende des eigentlichen Konfliktes erfolgt. Schon jetzt baut er vor, um die Verantwortung von sich zu weisen: Es werden immer wieder russische Generäle entlassen, und die russische Propaganda zeichnet ein ideologisches Bild eines Kampfes gegen die Nato. Doch diese Versuche, das Scheitern zu erklären, wirken eher hilflos.

Das Fazit macht der Ukraine Hoffnung: Alle Trends – militärisch, wirtschaftlich, diplomatisch – weisen für Putin in die falsche Richtung, und der Kreml hat anscheinend keinen überzeugenden Plan, wie die Situation gerettet werden könnte. Die Rechnung für Putin wird kommen, die Frage ist nur, zu welchem Zeitpunkt.

Verwendete Quellen
  • foreignaffairs.com: Putin’s Last Stand (engl.)
  • nytimes.com: Putin’s Forever War (engl.)
  • foreignaffairs.com: Putin Is Running Out of Options in Ukraine (engl.)
  • fr.de: Eine Art "Friedensplan" - und Poltern aus Putins Russland: Was vom Treffen in Saudi-Arabien bleibt
  • Eigene Recherche
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