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Ukraine-Krieg: Keine Bewegung von Putin "solange Krim nicht in Gefahr ist"


Experte zur Gegenoffensive
Mit Putin verhandeln? – "Sobald die Krim in Gefahr ist"

  • Daniel Mützel
Von Daniel Mützel

Aktualisiert am 30.08.2023Lesedauer: 5 Min.
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Ukrainer zerstören russisches S-400 Flugabwehrsystem auf der Halbinsel Krim.Vergrößern des Bildes
Explosion nach einem ukrainischen Angriff auf die Krim. (Quelle: Telegram-Kanal Ukrainisches Verteidigungsministerium/Social Media)

Der ukrainische Präsident hat überraschend eine politische Lösung der Krim-Frage ins Spiel gebracht. Dahinter steckt wohl die stockende ukrainische Gegenoffensive.

Die ukrainische Armee meldete Anfang der Woche einen kleinen Erfolg: Bei Robotyne, einem zu Ruinen zerbombten Dorf in der Südukraine, wurde die erste russische Verteidigungslinie durchbrochen. Der kleine Ort im Gebiet Saporischschja drohte nach Bachmut zum nächsten "Fleischwolf" des Ukraine-Kriegs zu werden – fast drei Monate kämpfte die Ukraine darum, mit teils hohen Verlusten.

Neben dem militärischen Durchbruch deutete sich auch ein politischer an – zumindest was seine politische Sprengkraft betraf: Erstmals seit Beginn der Gegenoffensive brachte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einem Interview eine politische, statt einer rein militärischen Lösung der Krim-Frage ins Spiel. Wörtlich sagte Selenskyj: "Wenn wir an den Verwaltungsgrenzen der Krim sind, denke ich, kann man die Entmilitarisierung Russlands auf dem Gebiet der Halbinsel politisch erzwingen."

Das lässt einiges an Interpretationsspielraum zu, doch deutet zugleich einen Kurswechsel der ukrainischen Führung an. Offiziell galt bisher die Devise, sämtliche von Russland besetzten Gebiete zu befreien und die Grenzen von 1991 wiederherzustellen. Auch wenn ukrainische Regierungsvertreter hinter vorgehaltener Hand beim Thema Krim durchaus Gesprächsbereitschaft zeigten – öffentlich hielt man an der Rückeroberung der Schwarzmeerhalbinsel fest.

Video | Krim: Ukraine zerstört russisches Luftverteidigungssystem
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Quelle: t-online

Kiew rennt die Zeit davon

Schon im Juli hatte Selenskyj in einem Interview mit ABC News nahegelegt, Putin werde erst verhandeln, wenn ukrainische Truppen vor den Toren der Krim stünden. Dass Selenskyj selbst Verhandlungen bevorzugt, sollte dieser Moment eintreten, ist neu – und könnte mit der derzeitigen Lage auf dem Schlachtfeld zu tun haben.

Denn die ukrainische Gegenoffensive, die Anfang Juni gestartet ist, läuft nicht, wie es Kiew und der Westen erhofft hatten. Nach drei Monaten schwersten Kämpfen sind die Ukrainer nur wenige Kilometer tief in russisch besetztes Gebiet vorgedrungen. Auch rennt den ukrainischen Kampfbrigaden die Zeit davon: Bis zum Beginn der Schlammperiode im Oktober sind es nur noch wenige Wochen, danach werden Offensivoperationen immer schwieriger.

Wohl nicht zufällig schlägt Selenskyj den neuen Ton in einem Interview mit dem ukrainischen Fernsehen an, das sich vor allem ans heimische Publikum richtet. Das Ziel dahinter könnte sein, die ukrainische Gesellschaft schon jetzt dafür zu sensibilisieren, dass man die Ziele der Offensive wohl wird herunterschrauben müssen. Anfang des Jahres hieß es aus Kiew noch, 2023 werde das "Jahr des Sieges". Der Optimismus ist mittlerweile verflogen, die russische Verteidigung wurde unterschätzt.

Hohe Verluste der ukrainischen Armee

Warum Selenskyji den Kurswechsel gerade jetzt vollzieht, deutet er selbst an: "Ich glaube, es wäre besser", vor allem für "diejenigen, die das [die militärische Eroberung] durchsetzen würden". Der ukrainische Präsident spielt damit offenbar auf die zu erwartenden hohen Verluste an, die ukrainische Truppen bei einem Großangriff auf die Krim erleiden müssten.

Schon jetzt hat die Ukraine enorme Verluste zu beklagen: Laut "New York Times" wurden seit Beginn der Invasion rund 70.000 ukrainische Soldaten getötet und bis zu 120.000 verwundet (im Vergleich zu 120.000 toten und bis zu 180.000 verwundeten Soldaten auf russischer Seite). Wie viel davon auf die Sommeroffensive fallen, ist unklar. Die ukrainische Regierung mauert mit ihren Gefallenenzahlen. Doch Berichte von Frontsoldaten, die hin und wieder Medien erreichen, lassen vermuten, dass der Blutzoll hoch ist.

Eine militärische Kampagne zur Eroberung der Krim würde die bisherigen Verluste vermutlich in den Schatten stellen. Denn die Halbinsel sei schon wegen ihrer Geografie schwer einzunehmen, wie Kersten Lahl, Generalleutnant a.D. und ehemaliger Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) t-online sagt: "Es gibt nur zwei schmale Landengen, die das ukrainische Festland mit der Krim verbinden. Für die Russen sind diese Engstellen leicht zu verteidigen, ein ukrainischer Frontalangriff wäre also enorm schwierig."

Lahl erinnert daran, dass die ukrainische Armee, wie auch die russische, schon jetzt mit Personalproblemen zu kämpfen habe. Eine Alternative zu einem Angriff mit Bodentruppen wäre eine amphibische Operation, also ein Angriff vom Schwarzen Meer aus, so der pensionierte General. Doch das ukrainische Militär verfüge kaum über solche Fähigkeiten.

Zudem hätte die russische Flotte, solange die Krim mit dem Hafen Sewastopol in Ihrer Hand ist, die "Herrschaft über das Schwarze Meer": Sie kontrolliere insbesondere alle Gewässer rund um die Halbinsel, so Lahl, was eine größere amphibische Operation seitens der Ukraine weitgehend ausschließe.

Russen haben die Krim zur Festung ausgebaut

Zudem haben die Russen auch auf der Schwarzmeerhalbinsel ihre Verteidigung verstärkt. Der Kreml hatte viel Zeit: Seit über neun Jahren halten russische Invasionstruppen die Halbinsel nun schon besetzt. Damals noch als "grüne Männchen" (wie die Kreml-Soldaten mit ihren grünen Uniformen ohne Hoheitsabzeichen seinerzeit genannt wurden), heute als ausgefeiltes militärisches Besatzungsregime, das die Halbinsel zur Festung ausgebaut hat.

Insgesamt 223 militärische Anlagen soll Russland mittlerweile auf der Krim geschaffen haben, wie ukrainische Journalisten herausgefunden haben. Darunter sind Kasernen, Flugplätze, Munitionsdepots, Luftverteidigungssysteme, Trainingsgelände.

Hinzu kommt ein komplexes Netz an Verteidigungslinien, das die Russen nach und nach errichteten, während die Militärs in Kiew und Washington die ukrainische Offensive planten. Bei dem Dorf Medwedikwa im Norden der Krim, wo die Zufahrtsstraße M18 zum ukrainischen Festland führt, zeigen Satellitenfotos vom Frühjahr die Dichte der russischen Abwehranlagen:

Weit verzweigte, mit Holz verstärkte Schützengräben zu beiden Seiten der Zufahrtsstraße, Betonpyramiden ("Drachenzähne") und Antipanzergräben gegen anrückende Panzer, dahinter ein militärischer Fuhrpark mit Dutzenden Haubitzen und Kampfpanzern, die im Verteidigungsfall an die Front gezogen werden können.

Krim als Schlüssel

Dass die ukrainische Führung nun eine politische Lösung der Krim-Frage ins Spiel bringt, heißt aber nicht, dass Selenskyj die Krim aufgibt. Das ukrainische Ziel bleibt ein russischer Truppenabzug von der Halbinsel. Denn die Schwarzmeerhalbinsel gilt als essenziell für das langfristige Überleben des ukrainischen Staates: Solange Russland die Krim als militärischen Stützpunkt nutzt, lebt die Ukraine in ständiger Bedrohung.

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So nutzte Russland die Krim als Aufmarschgebiet für seinen Vorstoß auf die Südukraine: Ende Februar 2022 rollten russische Panzerverbände von der Krim auf Cherson vor, fast ungehindert, da die Ukraine ihre Verteidigung auf den Donbass und im Norden konzentrierte. Solch ein Szenario will die Ukraine künftig verhindern, daher die Forderung nach einer "Entmilitarisierung Russlands" auf der Krim.

Die ukrainische Strategie scheint daher zu sein, die Versorgungslinien zur Krim mit Präzisionsschlägen gegen Brücken und Eisenbahnlinien zu stören – um es für die Russen immer schwieriger zu machen, die Krim mit Nachschub zu versorgen. Das passiert schon seit Monaten: Immer wieder brennen russische Krim-Brücke und fliegen Munitionsdepots in die Luft.

Gefährliche Isolation

Aber reicht das? Ex-Bundeswehrgeneral Kersten Lahl glaubt, dass ein entscheidender Kipppunkt bald erreicht sein wird. "Ich rechne damit, dass die ukrainischen Truppen früher oder später zur administrativen Grenze der Krim vorstoßen." Damit drohe der Halbinsel aus russischer Sicht eine gefährliche Isolation – abgeschnitten von eigenen Logistikketten und unter ständiger Bedrohung durch ukrainische Raketenartillerie. Ob dies auf Dauer militärisch durchzuhalten sei, bleibe völlig offen.

Doch dann beginne erst der politische Drahtseilakt: Die Krim sei ein "politisch heikles Thema", so Lahl. Einerseits sei in deutschen Sicherheitskreisen der Gedanke verankert, dass die Krim für Putin eine rote Linie darstellen könne. Heißt: Sollte Putin fürchten, dass er die Krim verliere, steige auch ein "unbestimmtes Risiko einer nuklearen Eskalation". Andererseits sei die Befreiung aller ukrainischen Gebiete nach wie vor das völlig legitime Ziel der Ukraine, das man nicht in Zweifel ziehen dürfe.

Eine Gratwanderung. Umso mutiger sei es von Selenskyj, die Krim-Frage nun "als Verhandlungschip in die Runde zu werfen", sagt Lahl. Dadurch rücke er offenbar von seinen Maximalforderungen ab und ermögliche eine Debatte um den künftigen Status der Halbinsel. Zwingende Voraussetzung für Verhandlungen mit Russland bleibe aber derzeit der Erfolg der Ukrainer auf dem Gefechtsfeld, so Lahl.

"Solange die Krim nicht ernsthaft in Gefahr ist, fürchte ich, wird Putin sich nicht bewegen."

Verwendete Quellen
  • newsweek.com: "Crimea's Russian Military Facilities Exposed by Ukraine with Detailed Map" (englisch)
  • radiosvoboda.org: Russian Military Facilities on Crimea, Interactive Map (englisch)
  • nytimes.com "Troop Deaths and Injuries in Ukraine War Near 500,000, U.S. Officials Say" (englisch, kostenpflichtig)
  • ukrinform.net: "President Zelensky: Russia’s demilitarization in Crimea may be pushed through politically" (englisch)
  • abcnews.go.com: "Ukraine taking heavy casualties 10 weeks into its counteroffensive" (englisch)
  • absnews.go.com: "Zelenskyy to ABC: How Russia-Ukraine war could end, thoughts on US politics and Putin's weakness" (englisch)
  • washingtonpost.com: "a web of trenches shows Russia fears losing Crimea" (englisch, kostenpflichtig)
  • youtube.com: "ЗЕЛЕНСЬКИЙ. ІНТЕРВ'Ю" (ukrainisch)
  • bbc.com: "'Dying by the dozens every day' - Ukraine losses climb" (englisch)
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