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Ukraine-Krieg: Was die Russen über Putin denken – und warum


Wie Russen über Putin denken
"Diese Vorstellung jagt den Menschen Angst ein"

Von dpa
Aktualisiert am 24.10.2023Lesedauer: 4 Min.
So sehen die Russen ihren Präsidenten am liebsten: Putin als einflussreicher Führer einer Großmacht auf Staatsbesuch in China.Vergrößern des BildesSo sehen die Russen ihren Präsidenten am liebsten: Putin als einflussreicher Führer einer Großmacht auf Staatsbesuch in China. (Quelle: Sergey Guneev, Sputnik, Kremlin Pool Photo via AP)
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Wie die Russen zum Krieg gegen die Ukraine und zu ihrem autokratischen Präsidenten stehen, wissen wir von mutigen Forschern. Deren Erkenntnisse dürften überraschen.

Russlands Krieg gegen die Ukraine ist nicht nur Wladimir Putins Krieg. Diese Erkenntnis ist zu einem bedeutenden Teil der Arbeit von Lew Gudkow zu verdanken, dem wissenschaftlichen Leiter von Russlands einzigem unabhängigem Meinungsforschungsinstitut Lewada.

Seit Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 klappern Gudkows rund 1.000 Mitarbeiter die Haushalte des Riesenlandes ab und stellen den Menschen unter anderem die Frage: "Unterstützen Sie persönlich die Handlungen der russischen Streitkräfte in der Ukraine oder nicht?"

Das Ergebnis hat es in sich: Auch nach rund 20 Monaten brutaler Kämpfe und hoher Verluste in den eigenen Reihen antworten demnach noch 73 Prozent der Russen mit "Ja".

Die Hintergründe dieser Antwort sind durchaus komplex: So dürften viele Menschen im Hinterkopf haben, dass eine offene Ablehnung der "militärischen Spezialoperation", wie der Krieg in Russland offiziell genannt wird, strafbar sein kann. Außerdem empfinden es viele Russen als patriotische Pflicht, ihre Soldaten zu unterstützen.

Lewada genießt international Anerkennung

Es ist ein sonniger Tag im Zentrum von Moskau. Draußen flanieren Passanten über die mit Blumenbögen dekorierte Nikolskaja-Straße, drinnen sitzt Gudkow in Hemd und Jackett in seinem Büro. Es gibt mehrere Arbeitstische, eine Bücherwand und Bilder von Segelschiffen. Gudkow spricht langsam und bedächtig. Zwischendurch steht er auf und holt einen Ausdruck der jüngsten Umfrageergebnisse. "Nicht, dass ich etwas Falsches sage", meint er. Mit seinen 76 Jahren könnte Gudkow längst Rentner sein – doch Lewada ist sein Lebenswerk.

Im Jahr 2003 hat Gudkow das Zentrum gemeinsam mit dem mittlerweile verstorbenen Soziologen Juri Lewada gegründet. Beide kehrten damals dem staatlichen russischen Meinungsforschungsinstitut Wziom den Rücken, aus Protest gegen eine zunehmende Steuerung der Arbeit durch den Kreml. Heute, genau 20 Jahre später, ist Wziom bei unabhängigen Experten längst verschrien. Lewada hingegen genießt auch international große Anerkennung.

Zwar gibt es durchaus kritische Stimmen. In einem Land wie Russland, wo etwa für die "Diskreditierung" der eigenen Armee drakonische Haftstrafen drohen, sei unabhängige Meinungsforschungsarbeit fast unmöglich, sagen einige. Viele Russen hätten Angst, ehrlich zu antworten, gab der Soziologe Grigori Judin, einer der schärfsten Kritiker von Lewada, in einem Interview mit dem Portal "The Insider" zu bedenken. Hinzu kämen viele Menschen, die sich innerlich so sehr von politischen Geschehnissen distanziert hätten, dass sie überhaupt keine Meinung mehr hätten. All das verfälsche Statistiken.

Unterstützung für Russlands Krieg gegen die Ukraine

Trotzdem wird die Arbeit des Lewada-Zentrums von vielen geschätzt. Denn sie gibt zumindest Einblicke in die Stimmung einer Gesellschaft, die angesichts mangelnder Meinungsfreiheit und massiver Repressionen immer mehr zu einer Art Blackbox zu werden scheint.

Über die vergangenen Monate hinweg haben Gudkow und seine Kollegen verschiedene Erkenntnisse gewonnen. Zum Beispiel, dass viele Russen eigentlich gar keinen Krieg wollen, ihn aber für unausweichlich halten. So geben in der Regel mehr als 70 Prozent der Befragten an, Russlands Vorgehen in der Ukraine zu unterstützen. Zugleich sprechen sich in ein und derselben Umfrage rund 50 Prozent für sofortige Friedensverhandlungen aus. Außerdem erklären viele Menschen, mit Blick auf den Krieg Verzweiflung, Angst und Depression zu verspüren.

"Das heißt, die Struktur des Doppeldenkens wird hier reproduziert", sagt Gudkow. "Es sind verschiedene Ebenen. Das eine ist das, was der Mensch selbst erlebt. Das andere ist die kollektive Wahrnehmung." Letztere, erklärt der Wissenschaftler, sei in Putins Russland stark geprägt von imperialistischem Gedankengut und staatlicher Propaganda.

Vorstellung von Russland als großem und mächtigem Staat

Die Propaganda-Narrative wiederum seien vielen Russen noch aus Sowjetzeiten vertraut, sagt Gudkow. So sei im Fernsehen etwa stets die Rede davon, dass Russland bedroht sei oder dass der Feind im Westen sitze. "Die Leute saugen das seit dem Schulalter auf. Das bedarf keinerlei Beweise." Wer sich gegen diese angeblichen Wahrheiten stelle, fühle sich schnell als Außenseiter. "Die Vorstellung, aus der Gemeinschaft ausgestoßen zu werden, jagt den Menschen Angst ein." Letztlich, das ist Gudkows Fazit, unterstützen viele Russen den Krieg gegen die Ukraine vor allem aus Angst vor dem Verlust einer kollektiven Identität.

Eine weitere zentrale These des Soziologen lautet, dass die Macht von Kremlchef Putin wohl nur ins Wanken geriete, wenn die russischen Truppen in der Ukraine eine irreparable Niederlage erlitten. Als er seine Landsleute nämlich Ende der 1990er-Jahre – kurz vor dem Rücktritt von Russlands erstem Präsidenten Boris Jelzin – fragte, was sie von ihrem nächsten Staatschef erwarteten, seien die Antworten klar gewesen, erinnert sich Gudkow: Gefordert wurde damals ein Ausweg aus der Wirtschaftskrise – und dass Russland wieder eine wichtige Rolle spielen solle in der Welt.

"Diese Vorstellung, dass Russland ein großer Staat ist, funktioniert wie eine Art Kompensation für das Gefühl, dass das Land arm, rückständig, unterentwickelt und bankrott ist", sagt Gudkow. "Putins Autorität fußt in erster Linie darauf, dass er eine mächtige Militärmaschinerie geschaffen hat."

"Mehrheit hat die Frage nicht mal verstanden"

Gudkow wirkt abgeklärt, bisweilen fast schon etwas resigniert. Manchmal lacht er beim Erzählen kurz auf, wird dann aber sofort wieder ernst. "Die Situation ist sehr schwierig, und sie wird sich noch verschlechtern, denn es ist ja ganz klar, dass die repressive Politik zunimmt", sagt er mit Blick auf die Arbeit seines Zentrums.

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Die russische Justiz brandmarkte das Institut 2016 als "ausländischer Agent", wegen dieser Stigmatisierung muss es mittlerweile um Aufträge kämpfen. Zudem beobachte er natürlich sehr genau, dass um ihn herum immer mehr kritische Köpfe festgenommen würden, sagt Gudkow. Angst habe er trotzdem nicht.

Ob es seit Kriegsbeginn irgendwelche Umfrageergebnisse gegeben habe, die ihn schockiert hätten? Kaum, erwidert Gudkow. Mit einer Ausnahme: die Antworten der Russen auf die Frage, ob sie eine persönliche Verantwortung für die Angriffe auf die Ukraine verspürten. "Nur zehn Prozent haben mit "Ja" geantwortet", sagt er. "Die absolute Mehrheit hat die Frage nicht mal verstanden."

Verwendete Quellen
  • Nachrichtenagentur dpa
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