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Ukraine-Krieg: Welches Ziel verfolgt Putin mit dem Luftangriff?


Massivster Luftangriff seit Kriegsbeginn
"Putins Motiv ist klar"


Aktualisiert am 30.12.2023Lesedauer: 4 Min.
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Heftige Explosion: Hier trifft eine russische Rakete ein Wohnhaus in Kiew. (Quelle: t-online)

Mehr als 100 russische Raketen fliegen am Freitagmorgen auf Ziele in der Ukraine – der bisher massivste Luftangriff. Warum greift Russland gerade jetzt so tief in sein Arsenal?

In der Nacht auf Freitag ertönt landesweit Luftalarm. Aus mehreren Richtungen attackiert Russland die Ukraine mit Drohnen, Marschflugkörpern und Raketen. Fast alle ukrainischen Regionen sind betroffen. Selbst auf die Stadt Lwiw an der Grenze zu Polen gehen Kamikazedrohnen nieder. Dann folgt die zweite Angriffswelle.

Am Morgen wird erneut Luftalarm ausgelöst. Die Ukrainer sollen sich in Luftschutzbunker begeben. Explosionen sind in den Millionenstädten Kiew und Dnipro zu hören. Es gibt mindestens 26 Tote und mehr als 130 Verletzte. Allein in Dnipro kommen fünf Zivilisten ums Leben.

Der massivste Luftangriff Russlands seit Beginn der Invasion

"Derart viele rote feindliche Ziele haben wir seit Langem nicht mehr auf unseren Monitoren gehabt", sagt Luftwaffensprecher Jurij Ihnat im ukrainischen Nachrichtenfernsehen. Was das bedeutet, macht am Vormittag Präsident Wolodymyr Selenskyj deutlich: "Etwa 110 Raketen wurden gestartet, der größte Teil davon abgeschossen", schreibt er in seinem Telegram-Kanal. Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj spricht gar von 122 Raketen. Eine Entbindungsstation, Bildungseinrichtungen, ein Einkaufszentrum und viele private Wohnhäuser seien getroffen worden.

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Für den Sicherheitsexperten Carlo Masala ist eins klar: Es sei "der schwerste Angriff auf zivile Infrastruktur seit Beginn des Angriffskrieges" gewesen, schreibt der Professor für Internationale Politik auf der Plattform X (vormals Twitter). Tatsächlich hatte die Ukraine nie zuvor so viele abgefeuerte russische Raketen an einem Tag gemeldet. Warum greift Russland ausgerechnet jetzt derart tief in sein Arsenal? Und was will Putin mit den Angriffen auf zivile Infrastruktur erreichen?

"Die Russen haben dafür Raketen aufgespart"

"Dieser massive Angriff auf die Ukraine war erwartbar", sagt der Militärexperte Nico Lange im Gespräch mit t-online. "Die Russen haben das lange geplant und dafür Raketen aufgespart." Der ehemalige Leiter des Leitungsstabes im Bundesverteidigungsministerium glaubt, dass das erst der Anfang der großangelegten russischen Luftangriffe in der kalten Jahreszeit sein könnte. "Ich erwarte noch zwei bis drei solcher Angriffswellen auf die Ukraine in diesem Winter."

Sicherheitsexperte Nico Lange
Sicherheitsexperte Nico Lange (Quelle: Michael Kuhlmann)

Zur Person

Nico Lange (48) ist Politikwissenschaftler und Publizist. Von 2006 bis 2012 leitete er das Auslandsbüro der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in der Ukraine. Von 2019 bis 2022 führte Lange den Leitungsstab im Bundesverteidigungsministerium. Aktuell ist er Senior Fellow der Zeitenwende-Initiative bei der Münchener Sicherheitskonferenz.

So sieht es auch Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer: Das Ausmaß der Luftangriffe am Freitag sei "bisher beispiellos" gewesen. Doch Russland werde weitere solcher kombinierten Attacken durchführen: "Die russischen Luftangriffe waren wohl nur der Auftakt zu einer größeren Kampagne in diesem Winter." Russland habe es geschafft, seine Rüstungsindustrie kräftig anzukurbeln. "Mittlerweile produziert man dort gut 150 Marschflugkörper pro Monat. Dazu kommen Spezial-Waffensysteme wie die 'Kinschal'-Hyperschallraketen und die Eigenproduktion iranischer Shahed-Drohnen", erklärt Reisner t-online.

Laut Reisner hat Russland an diesem Freitag gezeigt, was es leisten könne. Er geht sogar noch einen Schritt weiter als Lange: "Angesichts der Produktionskapazitäten und unter Berücksichtigung der Zeit zur Zielaufklärung und Schadensauswertung sind solche Angriffe alle zehn bis 14 Tage möglich." So könnte es bis Ende März bis zu zehn solcher massiven Luftangriffe geben.

Russland lernt aus früheren Fehlern

Lange sagt, dass Russland vom vergangenen Winter gelernt habe. Auch damals hatte es großangelegte Luftangriffe gegeben, die vor allem auf die kritische Infrastruktur abgezielt hatten. Aus russischer Perspektive seien die Angriffe jedoch zu früh gekommen: "Das russische Raketenarsenal hat sich dann schnell geleert."

Nun aber kämen die Angriffe etwas später, dafür aber direkt vor den kältesten Monaten. "So konnte Russland seine Depots aufstocken", erklärt Lange. "Und was noch viel wichtiger ist: Russland hat in den vergangenen Wochen Daten zur ukrainischen Luftverteidigung gesammelt."

Russland hat es auf die ukrainische Flugabwehr abgesehen

Die ukrainische Luftverteidigung wurde in den vergangenen Monaten mithilfe der westlichen Verbündeten massiv verbessert, sowohl in ihrer Anzahl als auch in ihrer Qualität. Deutschland stellte etwa weitere Iris-T- und Patriot-Systeme. Die Russen müssten deshalb die Taktik ihrer Luftangriffe anpassen, sagt Lange: Zunächst werden dafür Drohnen vorgeschickt. "Diese übersättigen die ukrainische Luftverteidigung und lokalisieren deren Stellungen." Danach würden dann Raketen und Marschflugkörper abgefeuert, um die Flugabwehrsysteme direkt anzugreifen. Ein solcher Angriff hätte an diesem Freitag beinahe ein deutsches Iris-T-System getroffen, wie Videos in sozialen Netzwerken zeigen. "Die Russen werden das weiter so machen", vermutet Lange.

Die bisher vom Westen gelieferten Systeme seien schlicht zu wenig, sagt Oberst Markus Reisner. Damit steht die Ukraine vor einem Dilemma: Schützt man die Soldaten an der Front oder die Zivilbevölkerung in den urbanen Zentren? "Beides geht momentan nicht", so Reisner.

Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer.
Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer. (Quelle: Österreichisches Bundesheer)

Zur Person

Markus Reisner (45) ist Oberst des österreichischen Bundesheeres. Der Militärexperte hat besonders durch seine Analysen der Frontlage im Ukraine-Krieg internationale Bekanntheit erlangt. Zudem forscht Reisner zur Militärgeschichte.

Welche Ziele verfolgt Putin mit diesen Angriffen?

Für viele war das Motiv für den massiven Angriff am Freitag schnell eindeutig: Putin habe sich für die Zerstörung eines wichtigen Landungsschiffs auf der Krim rächen wollen, mutmaßten Beobachter. Militärexperte Lange glaubt jedoch nicht an eine spontane Reaktion der Russen darauf: Dafür seien die Planungszeiträume für solche Attacken schlicht zu lang. "Wir sprechen dabei von sieben bis 14 Tagen", sagt er. "Putins Motiv ist klar: Er braucht die Bilder der Stärke für das heimische Fernsehen", erklärt Lange. "Denn militärisch erreicht Putin derzeit nicht viel."

Video | Ukraine greift russisches Kriegsschiff an – riesige Explosion
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Quelle: t-online

Außerdem wolle der Kremlchef Terror unter der ukrainischen Bevölkerung verbreiten, sagt Lange. Deshalb zielten die Angriffe auf die Infrastruktur ab und nicht etwa auf militärische Ziele. Der Sicherheitsexperte fordert deshalb ein Umdenken bei den Unterstützern Kiews: Man müsse sich fragen, ob man der Ukraine weiterhin untersagen sollte, jene Militärbasen in Russland anzugreifen, von denen solche Luftangriffe gestartet werden. "Militärisch ist das nicht sinnvoll und kaum zu erklären", kritisiert Lange.

Die Zerstörung der ukrainischen Infrastruktur soll laut Markus Reisner zwei Ziele erreichen: Das Leben der Zivilbevölkerung soll deutlich erschwert, andererseits aber auch die Produktion von Rüstungsgütern in der Ukraine behindert werden. Außerdem wolle Putin Siege im "Informationsraum" erringen, sagt Reisner. Negativmeldungen über Angriffe in der südrussischen Region Belgorod sowie die Zerstörung des Landungsschiffs sollen überdeckt werden.

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Die ukrainische Flugabwehr ist noch zu lückenhaft

Um die Schäden durch künftige Luftangriffe zu begrenzen, sieht Reisner nur einen Ausweg: "Die Ukraine muss strategisch vor allem in der Lage sein, die Tiefe ihres großen Landes zu schützen." Bisher ist die ukrainische Flugabwehr noch zu lückenhaft. Sowohl der Strombedarf der Zivilbevölkerung als auch die Rüstungsinfrastruktur in den urbanen Zentren müssten nachhaltig verteidigt werden, so Reisner. Der operativ-taktische Einsatz entlang der Frontlinie habe untergeordnete Priorität.

Außerdem sieht Reisner die europäische Industrie in der Pflicht. Angesichts schon jetzt viel zu geringer Lagerbestände etwa an Munition für die Flugabwehrsysteme müsse deutlich schneller produziert werden. "Sonst könnte das der Ukraine mittelfristig weiter schaden", so der Militärexperte.

Verwendete Quellen
  • Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
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