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Linguistik: Forscher enttarnen Wörter der europäischen Ursprache


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Forscher enttarnen Wörter der europäischen Ursprache

Von Holger Dambeck, Spiegel-Online

Aktualisiert am 08.05.2013Lesedauer: 4 Min.
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Linguistik: Neue Erkenntnisse zur europäischen UrspracheVergrößern des Bildes
Häufig benutzte Wörter ändern sich kaum (Quelle: Thinkstock by Getty-Images-bilder)

Deutsch, Ungarisch, Türkisch - viele Sprachen Europas und Asiens haben gemeinsame Wurzeln. Mit einem mathematischen Modell haben Linguisten jetzt verschiedene Wörter identifiziert, die aus einer etwa 15.000 Jahre alten eurasischen Ursprache stammen dürften.

Sprache lebt. Sie verändert sich ständig, und deshalb fällt es Linguisten auch so schwer, 10.000 und mehr Jahre zurückzublicken. Die frühesten Schriftzeugnisse der Menschheit sind etwa 5000 Jahre alt. Was aber war in den Jahrtausenden davor? Gab es so etwas wie eine Ursprache, aus der sich im Laufe der Jahrtausende alle heute bekannten Sprachen entwickelt haben? Und was für eine Sprache war das überhaupt?

Mark Pagel von der University of Reading hat nun gemeinsam mit Kollegen den Versuch unternommen, Wörter aus der vermutlich bis zu 15.000 Jahre alten eurasischen Ursprache zu rekonstruieren. Sie benutzten dafür Vokabeln aus sieben großen Sprachfamilien, darunter Indogermanisch (dazu gehört Deutsch), Altaisch (Türkisch, Mongolisch) und Uralisch (Finnisch, Ungarisch).

Die Linguisten wählten 200 besonders häufige Wörter aus und verglichen ihre Entsprechungen in den sieben Sprachfamilien mit sogenannten Proto-Wörtern aus einer Datenbank des Projekts Tower of Babel. Diese Datenbank enthält von Linguisten rekonstruierte Urwörter der indoeuropäischen Sprache. Häufig existieren für einen Begriff darin mehrere verschiedene Urwort-Varianten. Unter den nun untersuchten Wörtern waren beispielsweise "ich", "nicht", "Mann", "alt" und "spucken".

"Wurm", "ich" und "du"

Eine ähnliche Schreibweise oder ein ähnlicher Klang reichte den Linguisten jedoch nicht aus als Hinweis auf einen gemeinsamen Ursprung in einer eurasischen Ursprache. Solche Ähnlichkeiten von Wörtern aus verschiedenen Sprachen können nämlich auch zufällig sein, wie frühere Studien gezeigt hatten.

Pagel und seine Kollegen nutzten vielmehr eine statistische Methode, um die Veränderungen von Wörtern im Laufe der Jahrtausende abzuschätzen und daraus abzuleiten, ob eine Verwandtschaft zwischen Wörtern bestehen könnte oder nicht. Aus früheren Untersuchungen wissen die Wissenschaftler, dass man berechnen kann, wie viele hundert oder tausend Jahre Wörter sich in einer Sprache nicht verändern. Das erlaubt auch Rückschlüsse darauf, wie alt aktuell gebräuchliche Wörter sind.

Bei 23 Begriffen stellten die Forscher fest, dass diese in mindestens vier der Sprachfamilien wohl auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen. Beispiele dafür sind "Wurm", "Asche", "Hand", "Feuer", "alt", "hören" und "schwarz". In sechs der sieben Sprachgruppen habe das Pronom "ich" eine gemeinsame Quelle, schreiben die Wissenschaftler im Fachblatt "Proceedings of the National Academy of Sciences". Das Wort "du" dürfte sogar in allen sieben Fällen auf demselben Urwort fußen.

Häufig benutzt - kaum verändert

Pagels und seine Kollegen erforschen bereits seit Jahren die Evolution von Wörtern mit aufwendigen Statistiken. Im Jahr 2007 konnten die Linguisten nachweisen, dass dabei vergleichbare Gesetze gelten wie in der Biologie: Je häufiger ein Wort im täglichen Sprachgebrauch verwendet wird, desto seltener verändert es sich im Laufe der Zeit. Für Gene gilt eine ganz ähnliche Regel: Besonders wichtige Bereiche in den Erbinformationen tendieren dazu, sich auch über einen längeren Zeitraum der Evolution nicht zu verändern. Weniger wichtige oder sehr spezielle Gene besitzen hingegen größere Freiheiten zum Wandel.

Ein in dieser Hinsicht besonders eindrucksvolles Phänomen sind die unregelmäßigen Verben im Englischen. Die zehn häufigsten Verben werden in der Vergangenheitsform sämtlich unregelmäßig gebeugt - zum Beispiel "to go" (gehen): "went", "gone". Linguisten haben festgestellt, dass es vor 1200 Jahren noch deutlich mehr unregelmäßige Verben im Englischen gab. Im Laufe der Jahrhunderte hatte sich jedoch bei immer mehr Verben die regelmäßige Endung "ed" durchgesetzt.

Erez Liebermann von der Harvard University hat sogar die Halbwertzeit unregelmäßiger Verben berechnet und Prognosen für die Zukunft gewagt. Während bei Wörtern wie "to be" oder "to have" wohl niemals regelmäßige Vergangenheitsformen entstehen dürften, könnten seltene Verben wie "to shrive", eine veraltete Bezeichnung für "beichten", schon in 300 Jahren regelmäßig gebeugt werden. Das Verb "to wed" (heiraten) wird nach Angaben des Forschers das nächste sein, das seinen unregelmäßigen Status verliert. Bislang lautet das Präteritum ebenfalls "wed", es könnte aber schon bald "wedded" heißen.

Bei der nun durchgeführten Fahndung nach Urwörtern spielten Häufigkeiten in der Sprache ebenfalls eine zentrale Rolle. Denn vielgenutzte Wörter haben sich selbst über Jahrhunderte kaum verändert und dürften deshalb am nächsten dran sein an der hypothetischen eurasischen Ursprache.

Die "hohe Nutzungsfrequenz" eines Wortes sei ein Indiz dafür, dass es sich um einen älteren, tief verwurzelten Begriff handle, schreiben Pagel und seine Kollegen. Bei der Analyse der 200 Wörter fanden sie eine Faustformel: Wörter, die im Alltag häufiger als einmal pro 1000 Wörtern benutzt werden, verändern sich langsam genug, so dass gute Chancen bestehen, dass sie in mindestens zwei Sprachfamilien auftauchen. Das entspricht etwa einer 16-maligen Verwendung des Wortes pro Tag.

"Unsere Ergebnisse zeigen, dass die menschliche Sprache ein beachtliches Beharrungsvermögen bei häufig benutzten Wörtern besitzt", schreiben die Wissenschaftler. Wenn die eurasische Ursprache 15.000 Jahre alt sei, könne man noch heute Spuren davon in unterschiedlichen Familien entdecken. Das statistische Verfahren könne auch bei anderen Sprachfamilien zur Suche gemeinsamer Ursprungswörter eingesetzt werden.

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