t-online - Nachrichten für Deutschland
t-online - Nachrichten für Deutschland
Such IconE-Mail IconMenü Icon



HomePanoramaWissen

Suizidforschung: Der vernachlässigte Tod


Suizidforschung
Der vernachlässigte Tod

Ulrich Weih

Aktualisiert am 15.08.2014Lesedauer: 3 Min.
Nachrichten
Wir sind t-online

Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.

Zum journalistischen Leitbild von t-online.
Eine erschreckend hohe Zahl von Menschen begeht jährlich Suizid - die Ursachen und psychischen Mechanismen sind bislang nur wenig erforschtVergrößern des Bildes
Eine erschreckend hohe Zahl von Menschen begeht jährlich Suizid - die Ursachen und psychischen Mechanismen sind bislang nur wenig erforscht (Quelle: Thinkstock by Getty-Images-bilder)

Jedes Jahr sterben weltweit fast eine Million Menschen durch Selbstmord. Das sind mehr als alle Raubmordopfer und Kriegstoten zusammengerechnet. Dazu kommen etwa zehn bis 20 Millionen gescheiterte Suizidversuche, berichtet die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Damit gehört die Selbsttötung zu den drei häufigsten Todesursachen bei den 15- bis 44-Jährigen. Angesichts dieser erschreckend hohen Zahl an Toten mutet die spärliche Unterstützung der Suizidforschung unverständlich an.

Denn trotz der hohen Selbstmordrate und der damit verbundenen gesellschaftlichen Auswirkungen fehlt es immer noch weitgehend am wissenschaftlichen Verständnis für die Ursachen eines Suizids. Dazu bräuchte es eine deutlich bessere Suizidforschung und Prävention, fordern die beiden niederländischen Psychiater Andrè Aleman und Damiaan Denys im Magazin "Nature".

Psychiatrie zu lange untätig

Bekannt ist bislang lediglich, dass bei neun von zehn Selbsttötungen die klinisch-psychiatrische Vorgeschichte des Menschen eine entscheidende Rolle gespielt hat. Mentale Dysfunktionen, besonders Depressionen und Alkoholabhängigkeit, gelten als auslösende Faktoren für einen Suizid. Die Selbstmordrate sinkt, wenn diese Krankheiten behandelt oder präventiv eingedämmt werden können.

In der Psychiatrie wird der Selbstmord jedoch nicht als eigenständige psychische Erkrankung angesehen, so Aleman und Denys.

Selbsttötung gilt als Tabu

Das dürfte verschiedene Ursachen haben, schreiben die beiden Niederländer. So gilt der Suizid nach wie vor als gesellschaftliches Tabuthema. Einige Religionen betrachten die Selbsttötung sogar als Sünde. In einigen Ländern wie Indien oder Singapur wird ein Suizidversuch mit einer Gefängnisstrafe geahndet. Die Beihilfe zum Selbstmord ist in den meisten Staaten der Erde verboten.

Ein weiterer Grund für die lückenhafte wissenschaftliche Erforschung sind die sehr unterschiedlichen Auslöser eines Suizids. Mentale Störungen kommen dafür als Ursache ebenso in Frage wie finanzielle Probleme oder moralische und gesellschaftliche Nöte.

Schließlich unterscheiden sich möglicherweise die Entstehungsursachen bei tödlichen Selbsttötungen und bei nicht tödlich endenden Selbstmordversuchen.

Der Suizid als psychische Störung

Die Behandlung mentaler Störungen, die mit suizidalem Verhalten häufig einhergehen, können die Selbsttötung letztlich nicht immer verhindern. Dennoch wäre es sicherlich hilfreich, die Psychiatrie verstärkt ins Boot zu holen, glauben Aleman und Denys. So könnten Klassifizierungssysteme entwickelt, einzelne Schweregrade festgelegt und daraus die jeweiligen Behandlungsmöglichkeiten abgeleitet werden.

Mechanismen verstehen lernen

Die psychologischen und neurologischen Wurzeln für einen Suizid könnten in Problemen der emotionalen Regulation - und damit in den Hirnschaltkreisen - zu finden sein. Dazu zählen Angstzustände, verringerte Impulskontrolle sowie Aggressivität. Demnach neigen Menschen mit Selbstmordabsichten eher dazu, ihre Gefühle zu unterdrücken. Sie haben Schwierigkeiten damit, ihre Stimmungslage richtig einzuschätzen.

Dazu kommen häufig ein Hang zur Hoffnungslosigkeit, eine große Sensibilität gegenüber sozialen Verletzungen und eine eher gering ausgeprägte positive Zukunftserwartung.

Bei der kognitiven Emotionskontrolle reagieren Menschen individuell sehr unterschiedlich: Während die eine Gruppe auf schwierige Lebensereignisse - etwa einen Todesfall oder den Jobverlust - mit emotionalen Ausbrüchen reagiert, fehlt anderen Personen die geistige Beweglichkeit oder auch eine geeignete Kompensationsstrategie. Und schließlich gibt es eine Gruppe, die eher impulsiv-aggressive Tendenzen zeigt.

Prävention voranbringen

Regierungen sollten für die Suizidforschung und -prävention ähnlich viel Geld zur Verfügung stellen wie für die Verkehrssicherheit, fordern die Psychiater. Beispiel Großbritannien: Von 2008 bis 2009 hat London 19 Millionen Pfund für die Sicherheit auf Straßen ausgegeben. Dagegen wurden innerhalb von drei Jahren lediglich 1,9 Millionen Pfund in die Suizidforschung gesteckt. Die Zahl der Verkehrstoten sank kontinuierlich, die Selbstmordraten stiegen leicht an.

Ökonomen haben ausgerechnet, dass sich eine Schulung der britischen Hausärzte schon innerhalb eines Jahres auszahlen dürfte: Durch entsprechende Medikamente oder Therapien ließen sich alleine so rund 600 Briten vom Selbstmord abhalten.

Warnsignale erkennen und reagieren

Ein kluges Präventionskonzept könnte das Verständnis für mentale Erkrankungen fördern; der Einzelne könne Warnsignale erkennen und rechtzeitig Hilfe in Anspruch nehmen. Der Stigmatisierung der Betroffenen könnte dadurch entgegen gewirkt werden.

Entsprechende Präventionsprogramme existieren bislang nur in wenigen Ländern wie Finnland und Schottland, so Aleman und Denys im Magazin "Nature".

Quelle: Nature 509; André Aleman and Damiaan Denys: Mental Health. A road map for suicide research and prevention.

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...



TelekomCo2 Neutrale Website