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Großbritannien: Menschen stehen vor der Wahl – "Essen oder Heizen"


Explodierende Preise in Europa
Die Menschen stehen vor der Wahl: "essen oder heizen"

Von Elliott Goat, London

Aktualisiert am 11.10.2022Lesedauer: 7 Min.
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Passanten gehen an einem leerstehenden Pub in England vorbei: Inflation und hohe Energiepreise treffen die Menschen in Großbritannien besonders hart. (Quelle: Dan Kitwood/Getty Images)

Steigende Preise haben Großbritannien in eine Krise gestürzt. Selbst bei alltäglichen Dingen müssen viele Menschen schwere Entscheidungen treffen.

Viele Briten stehen in diesem Winter vor schweren Entscheidungen. "Im Vereinigten Königreich hört man derzeit oft, dass die Menschen zwischen Heizung und Essen wählen müssen", sagt Gavin Edwards, Sozialhilfe-Experte bei der größten britischen Gewerkschaft Unison. "Und das ist keine seltene Situation, sondern kommt immer häufiger vor. Das ist schockierend in einem angeblich wohlhabenden Land und einer der wichtigsten Wirtschaftsnationen."

So wie weite Teile Europas befindet sich auch das Vereinigte Königreich in einer Krise der Lebenshaltungskosten, auf Englisch wird von der "cost of living crisis" gesprochen. Aktuell liegt die Inflation bei etwa 10 Prozent, in den kommenden Monaten aber wird sie voraussichtlich noch höher ausfallen. Die Kosten für Lebensmittel und Energie sind so schnell gestiegen wie seit 40 Jahren nicht mehr. Die Lohnsteigerungen können dabei nicht mithalten.

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Auch wenn die Schlagzeilen derzeit vor allem von den Auswirkungen des Ukraine-Krieges oder den Unruhen infolge der umstrittenen Steuersenkungspläne der Regierung beherrscht werden: Vor allem "die menschliche Seite und die menschlichen Kosten sind schrecklich", sagt Edwards.

Menschen ändern ihre Einkaufsgewohnheiten

"Mir ist in letzter Zeit aufgefallen, dass sich die Einkaufsgewohnheiten der Menschen ändern", sagt Robert Docherty. Er ist Sozialarbeiter in Sunderland im Nordosten Englands, einem der ärmsten Gebiete des Vereinigten Königreichs. Früher seien die Parkplätze der Discounter leer gewesen, nun seien sie voll mit Menschen, die ihre Einkaufswagen nur zur Hälfte füllten.

"Die Leute haben von der Tüte Erbsen für 80 Pence (umgerechnet etwa ein Euro) auf die kleinere Größe für 40 Pence (50 Cent) gewechselt. Das ist für mich ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Menschen zu kämpfen haben. Vor allem die Rentner hier", berichtet er weiter. "Wenn ich hier vorbeikomme, sitzen da Leute, die über 80 Jahre alt sind und frieren, weil sie sich die Heizung nicht leisten können."

Docherty erzählt von einem Freund, der in derselben Gemeinde wohnt und in seiner Wohnung nichts außer Elektroherd und Fernseher hat. Er habe Angst, mit Gas zu heizen, und mache nie das Licht an, sodass es immer stockdunkel ist. Trotzdem gibt er 13 Pfund pro Woche für Strom aus, weil sein Strom über einen Prepaid-Zähler abgerechnet wird. Dabei sind die Tarife deutlich teurer als für diejenigen, die per Lastschriftverfahren bezahlen. Docherty hält das für "Wucher".

Die unabhängige Beratungsorganisation Citizens Advice schätzt, dass bis Ende des Jahres eine weitere halbe Million verschuldeter Menschen zu den Millionen hinzukommen könnte, die bereits gezwungen sind, solche Prepaid-Zähler zu benutzen. Diese kosten im Winter noch mehr, weil die Kosten nicht wie beim Lastschriftverfahren gleichmäßig über das Jahr verteilt abgebucht werden.

Pflegekräften geht es besonders schlecht

Die Menschen stehen vor der Wahl: "essen oder heizen", sagt Docherty. "Mit dieser Regierung ist das verfügbare Einkommen aller Menschen in Gefahr und besonders Pflegekräfte haben sehr wenig. Nachdem man seine Lebensmittel, alle wichtigen Rechnungen, Miete und Steuern bezahlt hat, bleibt einem nichts mehr."

Er berichtet von Pflegekräften, die seit zehn Jahren keinen Urlaub mehr gemacht haben und 80 Stunden pro Woche arbeiten, nur um ihre Rechnungen bezahlen zu können. Die Auswirkungen auf die Familien und die Lebensqualität sind verheerend, sagt er. "Menschen, die nicht so lange arbeiten können, stehen vor einem echten Dilemma." Sie könnten einen zweiten Job annehmen oder zur Tafel gehen, um über die Runden zu kommen. "Das sind ihre Wahlmöglichkeiten – so krass ist das."

Studien des Versicherers Royal London zeigen, dass Millionen von Menschen aufgrund der steigenden Lebenshaltungskosten gezwungen sind, zusätzliche Jobs anzunehmen. Mehr Stunden zu arbeiten, ist jedoch für viele britische Arbeitnehmer keine realistische Option, denn mehr als ein Viertel der befragten Vollzeitbeschäftigten arbeitet bereits mehr als 48 Stunden pro Woche.

Für diejenigen, die an vorderster Front von der Krise betroffen sind, sei die Lage düster. "Wenn ich mit Pflegekräften spreche, versuchen sie nur, den Kopf über Wasser zu halten. Ich glaube, wir haben das Elend in diesem Sektor in gewisser Weise normalisiert", so Gewerkschafter Edwards.

"Die Menschen sind unglücklich, weil sie so viele Stunden arbeiten, wie sie können. Sie müssen Überstunden machen, sodass sie keine Zeit für ihre Familie haben, und selbst dann kommen sie gerade so über die Runden", sagt Edwards. "So kann eine Wirtschaft auf Dauer nicht funktionieren und vor allem kein systemrelevanter Teil des öffentlichen Diensts."

Krise hat die Mittelschicht erreicht

Nach einem Jahrzehnt der Kürzungen ist der öffentliche Sektor unterfinanziert, die Zahl der unbesetzten Stellen in der Pflege steigt rapide an. Kein Wunder: Das Hotel- und Gaststättengewerbe und der Einzelhandel, allen voran Amazon, haben die Pflegekräfte in den vergangenen Jahren besonders umworben, teils sogar mit spezifischen Stellenanzeigen. Sie versprechen bessere Löhne und Einstiegsprämien.

Die Krise geht längst weit über Geringverdiener und Sozialhilfeempfänger hinaus. "Die Inflation trifft alle, die ein durchschnittliches oder niedriges Einkommen haben – und selbst Menschen mit einem überdurchschnittlichen Einkommen sehen, wie sie sich auf ihre Lebensqualität auswirkt", sagt Edwards.

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Die neue Premierministerin Liz Truss ist erst gut einen Monat im Amt. Doch mit dem von ihrer Regierung verkündeten Mini-Budget löste sie direkt eine weitere Krise aus: Die Währung stürzte deutlich ab. Mehr dazu lesen Sie hier. Das hat direkte Auswirkungen auf die Menschen. Die steigenden Zinssätze drängen etwa viele Käufer aus dem Markt, was sich wiederum auf den privaten Mietsektor auswirkte.

Die Krise der Lebenshaltungskosten trifft sogar diejenigen, die im Herzen der Regierung arbeiten. Die Gewerkschaft Public and Commercial Services (PCS) hat Aussagen von mehr als 150 Beamten des Ministeriums für Arbeit und Renten (Department for Work and Pensions) gesammelt. Dabei stellten sie fest, dass viele von ihnen auf das Duschen, Heizen und Essen verzichten oder Kurzzeitkredite aufnehmen müssen, um ihre Familien zu versorgen, während sie mit der steigenden Inflation und den hohen Energierechnungen zu kämpfen haben.

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Selbst Beamte gehen zur Tafel

Eve ist dreifache Mutter und arbeitet in einer Behörde: "Mit Blick auf die Lebenshaltungskosten musste ich mich entscheiden, ob ich mein Haus für die Kinder heizen oder mir neue Arbeitskleidung kaufen wollte."

Kerry, eine Verwaltungsangestellte, sagte, sie sei gezwungen gewesen, die örtliche Tafel aufzusuchen, weil sie nach dem Bezahlen ihrer Rechnungen und dem Kauf einiger Lebensmittel für den Rest des Monats kein Geld mehr habe. "Ich muss mein Konto überziehen, um die Bedürfnisse meiner Familie zu befriedigen, und das wirkt sich auf den Rest des Monats aus. Angesichts der gestiegenen Energiepreise habe ich wirklich Angst, Gas zu benutzen. Ich verzichte oft auf eine Mahlzeit, damit meine Kinder etwas zu essen haben", schildert sie ihre Verzweiflung.

Die PCS schätzt, dass jeder zwölfte Beamte aufgrund der steigenden Preise inzwischen auf Tafeln zurückgreift. Ein Muster, das sich im gesamten öffentlichen Sektor wiederholt.

Eine neue Studie unter 150 Führungskräften im Gesundheitssektor ergab, dass fast die Hälfte der Krankenhäuser bereits Lebensmittelausgaben für Krankenpfleger eingerichtet hat oder dies plant. Denn viele Pfleger würden während der Arbeit auf das Essen verzichten, um sich Kleidung und Nahrung für ihre Kinder leisten zu können – und das in einer Zeit, in der das Gesundheitspersonal aufgrund von Stress, Schulden und Armut ohnehin schon mit einer schlechten psychischen Verfassung zu kämpfen hat.

"Wir sehen Menschen, die unter extremem Stress und psychischen Belastungen leiden und diese Lage wird weiter eskalieren", sagt John McGowen, Generalsekretär der Social Workers Union, der größten Fachgewerkschaft für Sozialarbeiter im Vereinigten Königreich. 43 Prozent der Mitglieder hätten Schwierigkeiten, ihre eigenen Rechnungen zu bezahlen. 25 Prozent rechneten damit, in den kommenden Monaten eine Tafel aufzusuchen – und dabei handele es sich um Fachkräfte mit entsprechendem Gehalt.

Hilfsorganisationen sind überfordert

Auch die Hilfseinrichtungen spüren mittlerweile die Belastung. "Wohltätigkeitsorganisationen und Tafeln sind überfordert", sagt McGowen. "Diese Organisationen, die eigentlich den Bedürftigen helfen sollen, haben nicht einmal die Mittel, um die Grundversorgung sicherzustellen." Den Tafeln gingen die Vorräte aus, weil die Nachfrage so groß sei.

Angesichts des nahenden Winters, der prognostizierten Inflation, der noch ausstehenden Energiepreiserhöhungen und der drohenden realen Kürzung von Sozialleistungen rechnet McGowan damit, dass sich die verzweifelte Lage vieler Menschen noch verschlimmern werde.

"Die Menschen sparen bereits bei Strom und Gas, aber sie werden sich fragen, woran sie noch sparen können", so McGowan. "Sie leben in Angst, weil sie wissen, dass ausstehende Forderungen eingetrieben werden und einige dann ihre Häuser und ihre Familien verlieren."

Wärmebanken könnten trauriger Alltag werden

Großbritannien ist derzeit ein Land, in dem Eltern nicht genug verdienen, um ihre Kinder zu ernähren, einzukleiden oder auch nur zu waschen. Kostenlose Mahlzeiten an Schulen sind gang und gäbe, aber auch hier gehen die Vorräte von Tag zu Tag mehr zur Neige. Pflegekräfte sehen sich gezwungen, ihre Autos zu verkaufen, weil sie das Benzin nicht mehr bezahlen können. Pubs und Sozialzentren – früher das Herz der Gemeinde – können sich den Strom nicht mehr leisten und daher nur noch am Wochenende öffnen.

Rentner sitzen im Dunkeln, weil die Pflegeheime es sich nicht leisten können, das Licht anzulassen. Besonders beängstigend klingt eine Vorhersage von McGowen. Er geht davon aus, dass "Wärmebanken" vielerorts Realitäten werden. Dass also Städte Orte anbieten, an denen sich Menschen aufwärmen können.

"Vor ein paar Jahren haben wir noch über Tafeln gelacht, weil wir dachten, dass sie ziemlich selten sind", so McGowen. "Aber mittlerweile gibt es mehr Tafeln als McDonald's-Filialen, und ich gehe davon aus, dass Wärmebanken die nächsten Einrichtung sein werden, die trauriger Alltag werden könnten".

Gewerkschafter Edwards stimmt dem zu. "Es wird bereits über gemeinschaftliche Wärmezonen, etwa Pubs, Kirchen, Gemeindehäuser, geredet, damit die Leute zusammenkommen und sich abends aufwärmen können.

"Ich freue mich, dass verantwortungsbewusste Menschen dies für Bedürftige organisieren, aber das sollte nicht erforderlich sein. Wir sollten keine Tafeln oder kommunalen Wärmestuben brauchen", so Edwards. "Und eigentlich bräuchten wir das auch nicht, wenn wir in diesem Land einen anderen politischen Ansatz hätten."

Größte Arbeitskämpfe in 40 Jahren

Ein solch anderer Ansatz wird derzeit von einer Reihe landesweiter Kampagnen angestoßen. Diese zielen darauf ab, die Ursachen der explodierenden Lebenshaltungskosten an der Wurzel anzugehen. Eine davon ist "Enough is Enough" (zu deutsch "Genug ist Genug"): ein Zusammenschluss von Gewerkschaften, kommunalen Gruppen, Aktivisten für Ernährungsarmut und linken Labour-Abgeordneten. Sie fordern eine Erhöhung des Mindestlohns, das Einfrieren der Energierechnungen, ein neues Gesetz über das Recht auf Nahrung, einen Mietendeckel und eine höhere Reichensteuer.

Radikaler gibt sich die Kampagne "Don't Pay UK". Sie will Energierechnungen bestreiken, indem die Unterzeichner massenhaft ihre Lastschriften widerrufen sollen. Durch die Androhung von Chaos und Gewinneinbußen soll Druck ausgeübt werden.

Parallel dazu tobt einer der größten Arbeitskämpfe seit 40 Jahren in Großbritannien. Ob Lokführer, Krankenschwestern oder Rechtsanwälte: Sie alle streiken, um Großbritannien stillzulegen und ihrem Ärger über die hohen Lebenshaltungskosten Luft zu machen. Denn: Die Wahl, ob man sein Haus heizen oder seine Familie ernähren will, sollte niemand treffen müssen.

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