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Armenien-Aserbaidschan-Konflikt: "Völkermord ist es jetzt schon"


Ex-Chefankläger des internationalen Strafgerichtshofs
"Ein Völkermord ist es jetzt schon"

InterviewVon Tobias Eßer

Aktualisiert am 06.09.2023Lesedauer: 4 Min.
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Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

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EU-Beobachter am Latschin-Korridor: Aserbaidschan blockiert seit Wochen Hilfslieferungen nach Bergkarabach.Vergrößern des Bildes
EU-Beobachter am Latschin-Korridor: Aserbaidschan blockiert seit Wochen Hilfslieferungen nach Bergkarabach. (Quelle: IMAGO/Alexander Patrin)

Seit Wochen blockiert Aserbaidschan Hilfslieferungen in das umkämpfte Gebiet Bergkarabach. Der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs warnt vor einem Völkermord.

Mehrere Stunden anstehen für ein Brot – ohne sicher zu sein, am Ende etwas zu bekommen: Für die Menschen in der Region Bergkarabach, die zu Aserbaidschan gehört, ist das seit Kurzem Alltag. Um die Region, in der überwiegend ethnische Armenier leben, streiten sich Armenien und Aserbaidschan seit dem Fall der Sowjetunion.

Im ersten Krieg zwischen den beiden Ländern von 1992 bis 1994 eroberte Armenien Bergkarabach, in einem zweiten Krieg gewann Aserbaidschan den bergigen Landstrich im Kaukasus zurück. Seitdem verbindet nur noch eine Straße, der sogenannte Latschin-Korridor, Armenien und Bergkarabach. Im Waffenstillstandsabkommen nach dem Krieg vereinbarten beide Länder, den Latschin-Korridor offen zu halten und so die Reise- und Warenfreiheit zwischen Armenien und Bergkarabach zu sichern.

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Doch genau damit ist jetzt Schluss: Seit dem 11. Juli darf nicht einmal mehr das Rote Kreuz Hilfsgüter nach Bergkarabach bringen – und die Einwohner des umkämpften Landstrichs haben keinen Zugang zu Nahrung, Benzin und medizinischer Versorgung mehr. Wie drastisch die Lage in Bergkarabach ist, lesen Sie hier.

Einer, der die Lage genau beobachtet, ist Luis Moreno Ocampo. Der 71-Jährige war von 2003 bis 2012 Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag und hat schon mehrere Diktatoren wegen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht gebracht, seine Worte haben Gewicht. Am Wochenende twitterte er: "Der Völkermord an 120.000 Armeniern hat in Bergkarabach bereits begonnen." Im Interview mit t-online spricht Moreno Ocampo nun über die Situation in Bergkarabach und die Verantwortung der Vereinten Nationen.

t-online: Herr Moreno Ocampo, auf Twitter haben Sie die Blockade des Latschin-Korridors zwischen Armenien und Bergkarabach als Genozid bezeichnet. Wie kommen Sie zu dieser Aussage?

Moreno Ocampo: Die UN-Konvention zum Vorbeugen und zur Bestrafung eines Völkermords definiert den Begriff und beschreibt fünf Arten, auf die man einen Genozid verüben kann. Dafür muss ich ein bisschen juristisch werden, wenn Sie gestatten.

Bitte.

Als eine Form des Völkermords definiert Artikel 2, Punkt C der oben erwähnten Konvention: Ein Genozid kann auch dann vorliegen, wenn jemand für eine ethnische Gruppe Lebensbedingungen schafft, die zu ihrer physischen Zerstörung führen. Der Internationale Strafgerichtshof hat bereits gesagt, dass die Blockade des Latschin-Korridors eine solche direkte Gefährdung des Lebens der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach ist.

Gilt das auch, wenn Aserbaidschan die Armenierinnen und Armenier in Bergkarabach nicht aktiv vernichtet?

Ja. Die Menschen werden dort sterben, weil sie nicht einmal mehr grundlegende medizinische Versorgung erhalten. Um diese Definition des Völkermordes zu erfüllen, braucht es keine direkte Vernichtung. Für mich steht fest: Ein Völkermord ist es jetzt schon. Und den müssen wir verhindern.

Luis Moreno Ocampo (Archivbild) auf einer Konferenz im libyschen Tripolis.
Luis Moreno Ocampo (Archivbild) auf einer Konferenz im libyschen Tripolis. (Quelle: imago stock&people)

Luis Moreno Ocampo

Luis Moreno Ocampo wurde 1952 in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires geboten. Nach seinem Jurastudium war er Teil der Anklage in den Prozessen gegen die Oberbefehlshaber der argentinischen Militärdiktatur. 2003 berief ihn der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag zum Chefankläger. In seiner neunjährigen Amtszeit beantragte er unter anderem den Haftbefehl gegen den damaligen sudanesischen Machthaber Omar al-Baschir wegen Völkermords – die erste Anklage gegen ein amtierendes Staatsoberhaupt.

Wie lässt sich etwas verhindern, das Ihrer Ansicht nach schon passiert?

Noch lebt ein großer Teil der 120.000 Armenierinnen und Armenier in Bergkarabach. Sie könnten allerdings sterben, wenn sie auch weiterhin keine medizinische Versorgung und humanitäre Hilfe bekommen. Jetzt müssen sich die Länder der Vereinten Nationen dafür einsetzen, dass weitere Formen des Genozids, zum Beispiel die direkte Vernichtung der Menschen in Bergkarabach, verhindert werden. Dafür müssen die Vereinten Nationen allerdings zusammenarbeiten.

Und dann?

Dann muss es die oberste Priorität sein, den weiteren Verlauf des Völkermordes zu verhindern. Die 153 Staaten, die die Völkermordkonvention unterzeichnet haben – unter anderem auch Deutschland –, stehen diesbezüglich in der Pflicht. Im UN-Sicherheitsrat müssen die USA und Russland eine gemeinsame Resolution gegen Aserbaidschan formulieren, durch die sie die armenische Bevölkerung Bergkarabachs effektiv vor dem Genozid beschützen könnten.

Halten Sie es für realistisch, dass die USA und Russland im Sicherheitsrat zusammenarbeiten?

Das kann ich nicht beurteilen, dafür müssen Sie die Herren Biden und Putin fragen. Aber ich hoffe sehr, dass sie zusammenarbeiten. Der Genozid an den Armeniern in Bergkarabach darf nicht zum Kollateralschaden des Konflikts werden, der durch den Krieg gegen die Ukraine entstanden ist.

Die Frage ist, ob Aserbaidschan das beeindrucken würde.

Ja. Umso mehr sind deshalb zugleich die erwähnten Staaten im UN-Sicherheitsrat in der Pflicht. Sie müssten sich dafür einsetzen, dass diese Aufforderung seitens des Internationalen Strafgerichtshofes durchgesetzt werden. Hier ist insbesondere Russland in der Verantwortung, weil es bereits Friedenstruppen in Bergkarabach stationiert hat. Die müssten die Öffnung des Latschin-Korridors überwachen.

Aber Aserbaidschan erkennt den Internationalen Strafgerichtshof doch überhaupt nicht an.

Wir dürfen nicht vergessen: Aserbaidschan hat zwar nicht das Römische Statut unterzeichnet und erkennt die Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofes damit nicht an. Allerdings kann der UN-Sicherheitsrat eine strafrechtliche Untersuchung fördern, durch die der Internationale Strafgerichtshof den aserbaidschanischen Präsidenten Alijew anklagen könnte.

Ihre Entscheidung, die Ereignisse in Bergkarabach als Völkermord zu bezeichnen, hat auf aserbaidschanischer Seite heftige Reaktionen ausgelöst. Unter anderem hat der britische Anwalt Rodney Dixon erklärt, es gebe keine Beweise für den Genozid an der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach.

Ich bin ein Freund davon, den Fokus auf den wesentlichen Dingen zu behalten. Wir müssen nicht über den Völkermord sprechen, wir müssen ihn verhindern. Das ist die absolute Priorität. In jedem Fall bestreitet Dixon, dass der Internationale Strafgerichtshof die Fakten im Fall Bergkarabach bereits anerkannt hat: Die Blockade des Latschin-Korridors ist eine "reale und unmittelbare Gefahr" für "die Gesundheit und das Leben" der in Bergkarabach lebenden Armenierinnen und Armenier dar. Damit beschreibt der Internationale Strafgerichtshof die materiellen Elemente des Völkermordes. Und diesen müssen wir unbedingt verhindern!

Herr Moreno Ocampo, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Telefoninterview mit Luis Moreno-Ocampo
  • icrc.org: "Azerbaijan/Armenia: Sides must reach "humanitarian consensus" to ease suffering"
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