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UN: Ukraine rückt in den Hintergrund bei den Vereinten Nationen


Selenskyj bei den Vereinten Nationen
Die Bedenken werden größer


Aktualisiert am 20.09.2023Lesedauer: 6 Min.
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Zum ersten Mal vor Ort seit Ausbruch des Kriegs: der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj.
"Terroristen haben kein Recht auf Atomwaffen": Wolodymyr Selenskyj mit deutlichen Worten gegen Russland. (Quelle: Glomex)

Die Kernbotschaft bei den Vereinten Nationen lautet: Die Welt hat noch andere Probleme als den Ukraine-Krieg. Für den Westen ist das ein Balanceakt zwischen Entgegenkommen und Erinnern.

Bastian Braus berichtet von den Vereinten Nationen aus New York

Nichts hat sich wesentlich seit dem 24. Februar 2022 geändert, als Wolodymyr Selenskyj rund anderthalb Jahre später am Mittwochabend jenen berühmten blau-grün-goldenen Versammlungssaal bei den Vereinten Nationen in New York betritt. Noch immer befinden sich russische Truppen völkerrechtswidrig zu Hunderttausenden auf ukrainischem Boden. In Wladimir Putins Namen morden, foltern und vergewaltigen sie. Und mithilfe einer vom Westen angeführten Gemeinschaft von Staaten setzt sich die Ukraine erbittert, verlustreich, militärisch zur Wehr.

Es ist das erste Mal seit dem Einmarsch Russlands, dass sich der ukrainische Präsident live und vor Ort an die Staaten der Welt wendet. Im ersten Kriegsjahr war er hier nur per Videobotschaft anwesend. Vertreter der 193 Nationen finden sich dazu jedes Jahr am Ufer des East River ein. Staats- und Regierungschefs halten Reden vor der markanten grünen Marmorwand. Und sie haben viele Gelegenheiten, sich auch in kleineren Runden oder auch nur zu zweit, in Begleitung ihrer Delegationen direkt auszutauschen.

Auch, weil Selenskyj dieses Mal persönlich vor Ort war, war davon auszugehen, dass Putins Angriffskrieg selbst im zweiten Kriegsjahr, mit inzwischen Hunderttausenden Toten und Verletzten, noch das bestimmende Hauptthema sein würde. Doch das ist in New York nicht der Fall.

Schwindet der Rückhalt?

Die Welt dreht sich unerbittlich weiter. Das Momentum der Neuigkeit des Krieges ist vorbei und mag er noch so brutal geführt werden. Gewöhnungseffekte und Kriegsmüdigkeit scheinen unumstößlich einzutreten. Andere Länder haben auch Probleme, auch wenn die oft auch Folgen der russischen Aggression sind. In diesen New Yorker Tagen kommt die Ukraine in den Reden vieler Staats- und Regierungschefs zwar vor. Oft aber nur als Aufzählung einer Reihe anderer, globaler Probleme. Armut, Hunger und Naturkatastrophen. Andere Kriege, andere Konflikte und andere Ungerechtigkeiten. Die 17 sogenannten "Sustainable Development Goals", die "Ziele für nachhaltige Entwicklung" stehen in diesem Jahr thematisch klar im Vordergrund.

Beginnt damit nach nicht mal zwei Jahren der bislang überwältigende Rückhalt der Weltgemeinschaft zu schwinden? Wie versuchen Wolodymyr Selenskyj und sein engster Verbündeter, der amerikanische Präsident Joe Biden, mit diesen sich verändernden Gegebenheiten umzugehen?

Die anderen Probleme überwiegen

In New York geht es viel um den sogenannten globalen Süden, um jene Staaten, die vielfach Schwellen- und Entwicklungsländer sind. Also um Nationen, die Jahrzehnte und Jahrhunderte von den reichen Ländern ausgebeutet und links liegen gelassen wurden. Gleichberechtigung, Augenhöhe und Reformen sind die Schlagworte, die überall fallen – ob am Rednerpult vor der grünen Marmorwand, ob auf Podiumsdiskussionen in den zahlreichen Tagungshotels oder in Hintergrundgesprächen der vielen angereisten Politiker.

Schon beim ersten Redner der Vollversammlung, dem brasilianischen Präsidenten Luiz Lula da Silva wird das deutlich. Er wettert gegen die Ungerechtigkeiten, die maßgeblich der Westen zu verantworten hat. Die Strukturen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds seien "inakzeptabel". Und die Welthandelsorganisation diene "nur dem Protektionismus der reichen Länder", so Lula.

Nach Palästina, Haiti, Jemen, Burkina Faso, Mali, Niger, Sudan und Guatemala nennt er schließlich den Krieg in der Ukraine, der sich immer mehr ausweite. Dann sagt er: "Viel wurde in Waffen investiert." Viel Geld, mit dem man viele Probleme der Welt lösen könnte. Es ist ein Argument, das auch der Präsident Südafrikas später aufgreift. Und dann folgt Lulas Mantra: "Wir brauchen Dialog." Der Saal ist rappelvoll, als er seine Rede unter Applaus beendet. Als Nächster spricht der amerikanische Präsident.

Das neue Entgegenkommen

Joe Bidens Worte klingen wie die direkte Antwort auf den Brasilianer und alle Ländervertreter, die das ganz ähnlich sehen wie Lula. "Wir wissen, dass unsere Zukunft an die Ihre gebunden ist", sagt Biden. Er wiederholt diesen Satz und gibt zu: "Es war nicht immer alles perfekt." Was in den Ohren vieler Zuhörer wie die Untertreibung des Jahrhunderts klingen muss, ist dennoch eine Tonalität, die aus dem Mund eines amerikanischen Präsidenten zumindest ungewöhnlich wirkt. Ein Donald Trump hätte so zumindest nicht gesprochen.

Biden nennt die jüngste Reform der Weltbank, die nun mehr und flexibler Gelder an Länder auszahlt, verspricht Veränderungen bei der Welthandelsorganisation, nennt milliardenschwere Hilfsprogramme und seine Versuche, in neuen Formaten, dem globalen Süden auf Augenhöhe zu begegnen. Bidens Rede könnte in bestimmten Teilen auch von Lula stammen, ohne dessen sozialistischen Grundton. Den Anspruch seiner Weltmacht bekräftigt Biden natürlich trotzdem. "Als Präsident der Vereinigten Staaten verstehe ich es als die Pflicht meines Landes, in diesem kritischen Moment eine Führungsrolle zu übernehmen, um mit Ländern in jeder Region zusammenzuarbeiten", sagt er.

Aussicht auf Friedensgespräche?

An letzter Stelle in seiner Rede kommt der US-Präsident schließlich zu seinem Kernanliegen, dem Krieg gegen die Ukraine. Deutlich später als noch im vergangenen Jahr. Da war Biden vor der Generalversammlung mit den Worten eingestiegen: "Russland hat schamlos gegen die Grundprinzipien der Charta der Vereinten Nationen verstoßen." Es war der rote Faden seiner damaligen Rede. Den abwesenden russischen Präsidenten Putin nannte er viermal.

Auch in diesem Jahr wird Biden deutlich. Das Mikrofon überträgt dazu das Hämmern seiner Hände auf das Pult. In seiner Anklage an Russland stellt er dieses Mal voran: "Wie jede Nation der Welt wollen die Vereinigten Staaten, dass dieser Krieg endet." Und keine Nation wünsche sich das mehr, als die Ukraine selbst. Und dann beteuert Biden: "Wir unterstützen die Ukraine nachdrücklich in ihren Bemühungen, eine diplomatische Lösung herbeizuführen, die gerechten und dauerhaften Frieden schafft."

Das Wort Diplomatie ist in Bidens diesjähriger Rede neu. Der Name Putin hingegen fällt gar nicht mehr. Würde die Lage nicht so aussichtslos wirken, könnte darin sogar ein kleines Fenster zum Dialog mit dem Kreml zumindest einen Spalt breit aufgegangen sein.

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Das Bekenntnis, die USA und ihre Partnerländer würden auch weiterhin an der Seite des "mutigen Volkes der Ukraine" stehen für dessen "Kampf um die territoriale Integrität", fehlt nicht. Das sei "nicht nur eine Investition in die Zukunft der Ukraine, sondern in die Zukunft jedes Landes, das eine Welt anstrebt, die von Grundregeln bestimmt wird", so Biden. Die Grundprinzipien von Souveränität und territorialer Integrität könnten nicht geopfert werden.

Selenskyj übernimmt das Kalkül

Auch der ukrainische Präsident weiß um die globalen Stimmungen. Selenskyj ist auch deswegen persönlich nach New York gekommen. Zwar ist den allermeisten Ländern klar, wer der Aggressor ist, auch dem brasilianischen Präsidenten Lula. Die weltweiten Folgen von Putins Krieg, wie Hunger oder explodierende Rohstoffpreise, setzen fast alle Staats- und Regierungschefs unter Druck.

Nicht nur Joe Biden, auch Selenskyj wägt seine Worte darum mit Bedacht. Seine Rede beginnt auch er nicht mit dem unermesslichen Leid seines überfallenen Volkes, sondern mit Getreide, das der Welt wegen Putins See-Blockade fehlt. "Russland nutzt die Lebensmittelpreise als Waffe", ruft der ukrainische Präsident. "Ihre Auswirkungen reichen von der Atlantikküste Afrikas bis nach Südostasien, das ist das Ausmaß der Bedrohung." Dieser Krieg geht euch alle an, ist seine Botschaft. Nicht aus Mitleid für uns. Sondern, weil ihr selber unter Putin leidet. Weil dieser Mann im Kreml die Lebensgrundlagen auf der ganzen Welt gefährdet.

Ein fast einsamer Appell

Dann macht Selenskyj seinen Standpunkt deutlich. Lange sei man davon ausgegangen, der dritte Weltkrieg wäre der finale Krieg der Menschheit gewesen. Weil sich seither Atommächte gegenseitig auslöschen könnten, sagt er. Russland aber führe die Welt nun mit seinen Mitteln in einen "finalen Krieg". "Eine Naturkatastrophe in Moskau" habe "sich dazu entschieden, Zehntausende Menschen zu töten". Und Russland habe "das massenhafte Entführen von Kindern zur Staatspolitik gemacht", so Selenskyj. Solche Terroristen dürften keine Atomwaffen besitzen.

Dem Ruf der Welt nach Dialog setzt er am Ende entgegen: "Ich bin mir bewusst, dass einige hinter den Kulissen versuchen, zwielichtige Geschäfte machen." Zu einem Friedensgipfel lade er alle ein. Aber: "Dem Bösen kann man nicht trauen", warnt Selenskyj. Vorsicht sei bei dem geboten, was auf Podien versprochen werde. In dieser Angelegenheit wirkt der ukrainische Präsident erstmals einsamer als bislang. Er weiß, dass Verhandlungen in Kompromissen enden.

Selenskyj muss weiterkämpfen: "Sehen Sie, zum ersten Mal in der modernen Geschichte haben wir eine echte Chance, diese Aggression zu den Bedingungen der angegriffenen Nation zu beenden", appelliert er an die Anwesenden dieser 78. UN-Generalversammlung. Der russische Vertreter im Plenum tippt träge auf seinem Smartphone herum.

Video | Scholz richtet deutliche Worte an Putin
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Quelle: t-online

Es ist der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, der Selenskyj am Ende dieses langen Tages rhetorisch schließlich vor einem ziemlich leeren Saal zur Seite springt. Man müsse sich vor Schein-Lösungen hüten, die das Wort "Frieden" lediglich im Namen trügen, sagt Scholz und fügt an: "Frieden ohne Freiheit heißt Unterdrückung. Frieden ohne Gerechtigkeit nennt man Diktat. Das muss nun endlich auch in Moskau verstanden werden."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen vor Ort
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