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Mythos vom Doppelgänger: Psychokrieg gegen Putin?


Mythos vom Doppelgänger
Nimmt da jemand Rache an Putin?

MeinungVon Wladimir Kaminer

Aktualisiert am 10.09.2023Lesedauer: 4 Min.
Meinung
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Wladimir Putin: Über den Kremlchef kursieren allerhand Theorien.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Über den Kremlchef kursieren allerhand Theorien. (Quelle: Sergei Bobylev/TASS/dpa)

Lügen und Legenden umgeben den Kreml und seinen Herrscher. Besonders heiß wird diskutiert, ob Wladimir Putin Doppelgänger im Einsatz hat. Wladimir Kaminer hat nachgeforscht.

"Ich mache mir Sorgen um meine Kolleginnen, Lehrerinnen und Lehrer, wie werden sie den Schulbeginn überstehen", schrieb mir meine Freundin Julia, eine verdiente Lehrerin der Russischen Föderation, die nach dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine aus ihrer Heimatstadt Sankt Petersburg nach Deutschland flüchten musste.

Sie hatte sich nämlich geweigert, mit ihrer Klasse "die Stunde der patriotischen Erziehung" durchzuführen. Julia hatte dagegen laut protestiert, musste die Schule nach über 20 Jahren verlassen und wurde sogar angeklagt, wegen "öffentlicher Verleumdung der russischen Streitkräfte". Vor sechs Monaten hatten ihre Kolleginnen Verständnis und Mitleid mit ihr, dachten aber, ihnen würde so etwas nicht passieren.

(Quelle: Frank May)

Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Gerade ist sein neues Buch "Frühstück am Rande der Apokalypse" erschienen.

Erstaunlich, wie schnell sich ein Land verwandeln kann. Anfangs hatte der Staat die Inhalte dieser neuen Unterrichtsstunden dem Bildungsministerium überlassen – es wurden nicht in jeder Klasse Kameras installiert, kontrolliert hatte man nur lässig und drückte auch mal ein Auge zu. Niemand wusste damals im Ernst den Lehrern vorzuschreiben, was genau sie in diesen "patriotischen Stunden" den Kindern erzählen sollten.

Inzwischen sind neue Lehrbücher für Geschichte und Staatskunde in Eile gedruckt worden, frischgebackene Veteranen von der Front treten vor Schulklassen auf. Einige von ihnen saßen bis vor nicht allzu langer Zeit noch im Knast. Sie waren Kriminelle, heute sind sie Propagandisten geworden und erzählen den Kindern vom angeblich heiligen Kampf, den ihre Heimat gegen den verdorbenen Westen und ukrainische Faschisten führe.

Wo steckt Putin nur?

Die Lehrer stehen derweil in der Ecke und schweigen. Die Umsetzung der "patriotischen Stunden" wird vielerorts von den Mitarbeitern des Geheimdienstes kontrolliert. Die Kindererziehung scheint zur wichtigsten Baustelle des Regimes aufgestiegen zu sein. Verständlich. Das Abrutschen eines großen Landes in den Totalitarismus wäre ohne Propaganda nicht möglich.

Doch die Erfahrung zeigt, dass sich Erwachsene eher schwer umerziehen lassen, sie zu belehren ist perspektivlos, man kann sie besser einschüchtern oder verwirren. Die besondere Aufmerksamkeit der Propaganda gilt von daher der Jugend. Beim diesjährigem Schulbeginn sollte sogar Präsident Putin persönlich in einer Schule die Stunde der patriotischen Erziehung abhalten.

Die Meldungen über seinen Auftritt waren jedoch widersprüchlich, mal berichtete die Presse, er sei in einer Moskauer Schule gesichtet worden, im Fernsehen brachte man ihn in einer Schule auf der Krim. In sozialen Netzwerken schrieben etliche Augenzeugen, dass Putin angeblich in einer Schule in Burjatien vor einer 5. Klasse aufgetreten sei. Die Bürger konnte man mit den vielen Putins nicht beeindrucken.

Die Legende über Putins Doppelgänger lebt und kommt immer wieder auf, nicht nur in Russland. Im Westen wurde sie zuerst durch die englische Yellow Press verbreitet. Die Boulevardblätter "Daily Mirror" und "The Sun" bezogen sich dabei auf eine "sichere kremlnahe Quelle". Wenig später sprang das Thema nach Deutschland hinüber. Es gebe mindestens zwei Doppelgänger, titelte die "Bild"-Zeitung. Die betreffenden Informationen kämen von einem Experten.

Der Herr Professor Nachtigall

Irgendwann stieg die anspruchsvolle bürgerliche Presse mit ins Boot, "Neue Zürcher Zeitung", "Tagesspiegel" und so weiter. "Den Gerüchten zufolge gebe es mehrere Putins", schrieben sie. Wenn man sich Mühe gab und diese Meldungen zurückverfolgte, stolperte man schließlich immer wieder über den gleichen Mann, einen gewissen Professor Dr. Solovey aus Moskau. Ein schöner Nachname, "Nachtigall" lautet er auf Deutsch übersetzt.

In oppositionellen Kreisen in Russland war "Professor Nachtigall" eine bekannte Person. Vor drei Jahren habe ich diesen Mann auf einem Kongress in Berlin getroffen, er machte einen soliden Eindruck. Bereits vor Beginn des Krieges erzählte er oft und gerne, Putin sei schwer krank, habe Krebs in der Terminalphase. Eine friedliche Revolution würde ganz oben vorbereitet, Russland bald auf den demokratischen Weg zurückkommen. "Wie süß singt unser Nachtigall", lachten die Kollegen des Professors.

Der Krieg nahm ihm seinen Lehrstuhl an der Hochschule für Auswärtige Beziehungen, wo er viele Jahre unterrichtet hatte. Der Professor änderte seine Story. Auf einmal erzählte er in jedem Interview, es gebe gleich zwei weitere Putins außer dem kranken echten, der eine sei der Kriegstreiber und der andere etwas nachdenklicher. Der würde aber nur zum Herumlaufen eingesetzt, während der Falke sogar Texte mit Putins Stimme aufsagen könne.

Fünf unabhängige Experten hätten im Auftrag der fünf mächtigsten Geheimdienste der Welt anhand der zahlreichen Sprach- und Videoaufnahmen eine Expertise durchgeführt – und nachgewiesen, dass es drei Putins gebe. Doch bevor sie die Ergebnisse ihrer Arbeit ihren Auftragsgebern übergeben hätten, hätten sie diese Ergebnisse mit Professor Nachtigall geteilt. Aus Respekt vor seiner Intuition, erzählte der Professor. Ohne mit den Augen zu zwinkern.

Im Prinzip egal

Der Nachtigall ist eigentlich eine nette Person, die ein wenig das Gewünschte für das Reale ausgibt, dachte ich. Doch je länger der Krieg andauert, umso ernster wird Herr Nachtigall genommen. In der Ukraine hat er sehr viele Fans. Wenn er den Menschen dort nach einer nächtlichen Bombardierung erzählt, der Putin habe nur noch eine halbe Stunde zu leben und die Doppelgänger allein könnten den Krieg nicht weiterführen, denken die Ukrainer, na ja, irgendwie ist er doch Professor, ein solcher akademischer Grad wird nicht jedem Spinner verliehen. Oder?

Die Kollegen der Politologen nehmen seine Doppelgänger-Version nicht ernst. Aus politikwissenschaftlicher Sicht ist es nämlich völlig egal, wie viele Putins es gibt, ob der richtige Putin die Welt an den Rand eines Atomkrieges bringt oder der falsche. Für mich war der Professor lange Zeit ein unheimlicher Patient, bis ich durch Zufall ein von ihm im Jahr 2015 verfasstes Buch entdeckte.

Sein Lebenswerk trägt den Titel "Die perfekte Waffe. Die Grundsätze der psychologischen Kriegsführung und der Medienmanipulation". Anscheinend hatte der Professor nach seiner Entlassung dem russischen Regime den Krieg erklärt und seine "perfekte Waffe" gezündet. Sie gleicht ein wenig dem chinesischen Feuerwerk, macht viel Rauch, trifft aber den Gegner nicht.

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