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Alt-Kanzlerin Angela Merkel: Ihr vergiftetes Erbe – darum vermissen wir sie nicht


Ein Jahr ohne Kanzlerin
Merkels vergiftetes Erbe

Von Miriam Hollstein

Aktualisiert am 07.12.2022Lesedauer: 5 Min.
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Angela Merkel: Nach 16 Jahren an der Regierungsspitze war für sie vor einem Jahr Schluss. (Quelle: imago)

16 Jahre lang hat Angela Merkel Deutschland wie keine andere geprägt. Zwölf Monate später vermisst sie kaum jemand. Dafür gibt es gute Gründe.

Es war ein vernichtendes Urteil, das die "Zeit" über die Regierung fällte. Diese sei "schon in den Startlöchern elend ins Stolpern geraten". Und weiter: "Ein Wunder ist es nicht, dass die Bürger sich verschaukelt fühlen. Zynismus, Missmut, Verdrossenheit macht sich breit im Land."

Das war 1976. Geschrieben hatte den Kommentar der damalige "Zeit"-Chefredakteur Theo Sommer über den damaligen Kanzler Helmut Schmidt, der heute als die große Lichtgestalt der deutschen Nachkriegsgeschichte gilt.

Die Anekdote zeigt vor allem eins: Auf die Deutschen ist kein Verlass. Auch nicht auf ihre Erinnerung.

Ein Jahr ist es her, dass eine andere Kanzlerin aus dem Amt ausschied. Nach 16 Jahren nahm Angela Merkel mit dem Großen Zapfenstreich Abschied vom Posten der Regierungschefin. Viele politische Beobachter waren damals überzeugt, dass Merkels Abgang eine große Leerstelle hinterlassen würde. Im Kanzleramt, in der Bevölkerung und in ihrer Partei.

Die Realität sieht heute anders aus. Ende November ergab eine repräsentative Umfrage des Instituts Civey für die Funke Mediengruppe, dass sich 71 Prozent der Deutschen Merkel nicht als Kanzlerin zurückwünschen. Nur knapp ein Viertel (23 Prozent) würde gern wieder von ihr regiert werden. Auch bei den politischen Beobachtern urteilen viele heute deutlich kritischer über ihre Amtszeit als noch vor einem Jahr.

Wie kam es zu diesem Sinneswandel? Warum wird Merkel heute nicht vermisst? Drei Thesen:

1. Merkel fällt ihre falsche Russlandstrategie auf die Füße

Zweifelsohne hätte Merkels Erbe weniger Schrammen, hätte der russische Präsident Wladimir Putin nicht am 24. Februar die Invasion der Ukraine angeordnet. Der aggressive Angriff und die daraus resultierende Energiekrise werfen ein schlechtes Licht auf die Strategie, für die sich die Kanzlerin gegenüber Russland zuletzt entschieden hatte.

Obgleich sie Putin früher als andere durchschaut hatte, hielt sie am Bau der Ostseepipeline Nord Stream 2 fest. Immer wieder betonte sie, diese werde Deutschland nicht abhängig von Russland machen, etwa bei einem Auftritt vor Studenten der Universität Tiflis im August 2018.

Noch im Juni 2021 schickte sie ihren Sicherheitsberater Jan Hecker nach Washington, um den Streit um die Pipeline beizulegen. Denn die USA lehnten den Bau ab, ebenso wie Polen, Frankreich und die meisten anderen europäischen Partner. Doch Merkel gab sich unbeirrt, obwohl sie die Annexion der Krim 2014 ungewöhnlich scharf als Völkerrechtsbruch angeprangert hatte.

Erschwerend kommt hinzu, dass Merkel auch rückblickend nur sehr zögernd Fehler einräumt. Bei einem Auftritt im Berliner Ensemble im Juni dieses Jahres betonte sie zwar, dass sie keineswegs blauäugig auf Putin geschaut habe, fand aber noch keine Worte der Selbstkritik. Sie "sehe nicht, dass ich da jetzt sagen müsste: Das war falsch, und werde mich deshalb auch nicht entschuldigen.“ In einem aktuellen Interview mit der "Zeit" klingt sie mit Blick auf die Zeit nach der Besetzung der Krim 2014 etwas selbstkritischer: "Wir hätten schneller auf die Aggressivität Russlands reagieren müssen."

Im Nachhinein wirkt Merkel einmal mehr eher als Verwalterin und nicht als Gestalterin – ein Vorwurf, der ihr schon in ihrer aktiven Zeit häufig gemacht wurde. Eine Politikerin, die sich von den Ereignissen treiben ließ, schwierige Situationen oft gut abfederte, aber nicht zu mutigen neuen Strategien bereit war.

Die falsche Russlandpolitik ist dabei nur einer von mehreren politischen Fehlern, deren Folgen jetzt umso sichtbarer werden. Auch dass sie die Klimakrise lange ignorierte und ihr der Elan bei der Digitalisierung fehlte, rächt sich. Sie werden zum Schatten auf Merkels Kanzlerschaft.

2. Die CDU pflegt das Merkel-Erbe nicht

Ob jemand vermisst wird oder nicht, hängt auch viel davon ab, wie er oder sie der Nachwelt präsentiert wird. Dies ist in erster Linie die Aufgabe des Nachlassverwalters, sprich: von Merkels eigener Partei. Doch diese gibt sich auffällig zurückhaltend.

In Reden oder bei Konferenzen wird die langjährige Parteivorsitzende und Regierungschefin selten namentlich erwähnt. Der Grund: Der jetzige Vorsitzende Friedrich Merz war einst von Merkel ausgebootet worden. Sein Comeback gelang ihm auch, weil er versprach, einen anderen Kurs als die verhasste Vorgängerin zu fahren – konservativer, konsequenter.

In der Praxis führt das bei Merz gelegentlich zu verbalen Verrenkungen: So muss er als Oppositionsführer die CDU-Politik der Vergangenheit loben, ohne zugleich zu sehr Merkels Anteil daran zu betonen.

3. Die Glorifizierung setzt erst später ein

Ob Helmut Schmidt oder Helmut Kohl – wenn Kanzler aus dem Amt ausschieden, waren sie in Deutschland immer erst einmal wenig beliebt. Je weiter die Kanzlerschaft zurücklag, umso größer wurde der Nachruhm.

"Spätestens nach zwei Legislaturperioden wächst in der Bevölkerung das Bedürfnis nach Abwechslung. Ob und wann ein kritischer Punkt erreicht wird, hängt von vielen Faktoren ab", sagt Jacqueline Boysen, Merkel-Biografin und heute Geschäftsführerin der Bundeskanzler-Helmut-Kohl-Stiftung. Im Fall von Helmut Kohl etwa habe sich nach 16 Jahren Regierung der Wunsch nach Veränderung mit dem nach einem Generationswechsel gepaart.

"Neuen Regierungen wird nach den Wahlen zwar erst einmal ein Amtsbonus zuteil – frischer Wind scheint immer gutzutun", so Boysen: "Aber wenn sich die Hoffnung auf Veränderung nicht einlöst, verpufft das Vertrauen ganz rasch." Dann schlägt die Stunde der früheren Regierungschefs: "Wählerinnen und Wähler vermissen oft weniger die abgewählte Person selbst als vielmehr die durchlebten Situationen, die im Rückblick als vertraut und stabil erscheinen – anders als die ungewisse Zukunft, in der sich neue Krisen zusammenbrauen."

Der Publizist und Merkel-Biograf Hajo Schumacher sieht drei Phasen, die nach dem Abschied vom Kanzleramt durchlaufen werden: In der ersten Phase dominiere in der Bevölkerung die Stimmung "Gut, dass sie weg ist". Schumacher nennt es die "unmittelbare Abklingphase". In dieser Zeit könnten ehemalige Regierungschefs keine Popularitätspreise gewinnen, müssten aber darauf achten, dass sich kein "vergiftetes" Bild ihrer Kanzlerschaft in der öffentlichen Wahrnehmung festsetze.

Das sei Merkel mit ihren dosierten Auftritten gut gelungen, glaubt Schumacher, anders als etwa ihrem Vorgänger Gerhard Schröder. Der einstige SPD-Kanzler hatte unmittelbar nach dem Ausscheiden aus der Politik den Aufsichtsratsvorsitz der deutsch-russischen Nordeuropäischen Gas-Pipeline-Gesellschaft übernommen und damit auch aus der eigenen Partei viel Kritik auf sich gezogen.

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Die zweite Phase der Nach-Kanzlerschaft ist laut Schumacher vom Vergessen der Person geprägt und vergleicht Merkel dabei mit Jogi Löw. Über den einst gefeierten Fußballbundestrainer wird inzwischen kaum mehr berichtet.

Die "Heroisierung" sei der dritten Phase vorbehalten, sagt Schumacher. Und natürlich sei auch Merkel daran gelegen, als glorreiche Kanzlerin in die Geschichte einzugehen. Auch deshalb schreibe sie derzeit mit ihrer Büroleiterin Beate Baumann an ihren Memoiren.

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Gut möglich, dass Merkel am Ende also doch noch als große Regierungschefin in die kollektive Erinnerung eingeht. So wie einst Helmut Schmidt. Im Dezember 2013 wurde der Sozialdemokrat in einer Umfrage des "Stern" zum beliebtesten Kanzler der Nachkriegsgeschichte gewählt – mehr als 30 Jahre nach dem Ende seiner Regierungszeit und zwei Wochen vor seinem 95. Geburtstag.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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