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Abschiebungen von Straftätern: Innenministerium kann keine Zahlen liefern


Abschiebungen von Straftätern
Das Ministerium ist ahnungslos


Aktualisiert am 22.05.2023Lesedauer: 5 Min.
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Mann hinter Gittern (Symbolbild): Wie viele Straftäter wurden 2022 abgeschoben?Vergrößern des Bildes
Mann hinter Gittern (Symbolbild): Wie viele Straftäter wurden 2022 abgeschoben? (Quelle: Imago)

Die Bundesregierung verspricht, Straftäter aus dem Ausland konsequent abzuschieben. Doch überprüfen lässt sich das nicht. Denn nur wenige Behörden verfügen über Zahlen.

Ende Januar greift Ibrahim A. zum Messer und richtet in einem Regionalzug kurz vor dem Bahnhof Brokstedt ein Gemetzel an. Er ersticht die 17 Jahre alte Ann-Marie K. und den 19-jährigen Danny P. Fünf Menschen verletzt er teils schwer. 120 weitere Passagiere fliehen in Panik.

Die Tat in Schleswig-Holstein löste einen öffentlichen Aufschrei aus. Denn der 33 Jahre alte Ibrahim A. hat erst 2015 Asyl in Deutschland beantragt – und trotzdem schon ein langes Vorstrafenregister: Ein Jahr zuvor stach er einen Obdachlosen nieder. Neben Körperverletzung ist er wegen Ladendiebstahls und sexueller Nötigung vorbestraft. Erst eine Woche vor der Tat in Brokstedt wurde er aus der U-Haft entlassen.

Die zentrale Frage, die sich nach so einer Tat nicht wenige stellen: Warum ist der Palästinenser noch in Deutschland, warum wurde er nicht abgeschoben? Zumal wenn er in Haft gesessen hat? Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) räumte Mitte Februar schließlich Fehler der Behörden ein. Es habe eine "Fehlinformation" gegeben, sagte sie der Deutschen Presse-Agentur (dpa).

Solche Fälle soll es in Zukunft seltener geben, verspricht die Ampelregierung. Schon in ihrem Koalitionsvertrag steht: "Wir starten eine Rückführungsoffensive, um Ausreisen konsequenter umzusetzen, insbesondere die Abschiebung von Straftätern und Gefährdern." Beim Flüchtlingsgipfel vor einer Woche wurde dieses Versprechen im Beschlusstext mehrfach bekräftigt.

Das Innenministerium ist ahnungslos

Ob dieses Versprechen aber gehalten wird, lässt sich nicht nachvollziehen. Wie Recherchen von t-online zeigen, ist die Datenlage der Behörden mit Blick auf straffällig gewordene Asylbewerber und ihre Abschiebungen extrem löchrig, zum Teil gar nicht existent.

So kann das Bundesinnenministerium trotz mehrfacher Nachfrage von t-online nicht sagen, wie viele Straftäter aktuell ausreisepflichtig sind oder wie viele im vergangenen Jahr in welche Länder abgeschoben wurden. Auch die Zahl der 2022 direkt aus deutschen Haftanstalten abgeschobenen Personen kann das Ministerium nicht liefern.

Ein Sprecher verweist lediglich auf die Länder: "Entscheidungen bezüglich des Aufenthaltsrechts und des Aufenthaltsstatus liegen in der Zuständigkeit des jeweiligen Bundeslandes. Eine statistische Erfassung der aufenthaltsrechtlichen Frage der Ausreisepflicht von Straftätern und Gefährdern erfolgt nicht durch die Bundesbehörden und somit auch nicht aufgeteilt nach Herkunftsländern oder Bundesländern."

Länder erheben Daten unterschiedlich – oder gar nicht

In den Ländern sieht es allerdings nicht sehr viel besser aus: Die Zahlen zu straffälligen und ausreisepflichtigen Personen werden von den Bundesländern gar nicht statistisch erhoben, wie Anfragen von t-online an die zuständigen Landesministerien ergeben haben.

Die Begründungen dazu fallen unterschiedlich aus: Es finde schlicht keine Vernetzung der beiden Informationen "Ausreisepflicht" und "Straffälligkeit" im System statt, heißt es aus einigen Ländern. Die Information habe "keine inhaltliche Bedeutung für den Rückführungsvollzug", heißt es aus Sachsen. In Bremen wiederum sieht man die generelle statistische Erhebung als "bedenklich" an, weil Behörden nur im Fall eines berechtigten Interesses Verfahrenslisten der Staatsanwaltschaften anfragten.

Einige Länder erheben die Zahl von besonders schwerwiegenden Fällen – aber die wiederum verfolgen kein einheitliches System. Und sogar wie viele Straftäter im vergangenen Jahr direkt aus ihren Haftanstalten abgeschoben wurden, können nicht alle Landesministerien beantworten. Auch Nordrhein-Westfalen nicht, also das Bundesland, das die meisten Flüchtlinge in Deutschland aufnimmt.

Wer also Genaueres zu dem Thema wissen will, das Politikern angeblich so wichtig ist, muss sich mit einem Flickenteppich zufriedengeben. Und der sieht grob so aus:

  • Bayern hat im vergangenen Jahr 714 "rechtskräftig verurteilte Straftäter" aus dem Zuständigkeitsbereich bayerischer Ausländerbehörden abgeschoben, wie das Landesinnenministerium mitteilt. Die häufigsten Zielländer waren dabei Rumänien, Nigeria, Georgien, die Türkei sowie die Republik Moldau. 2018 hat das Land eine "Taskforce Straftäter" gegründet, die Rückführungen "gerade bei schwer straffälligen Ausländern" koordinieren und beschleunigen soll. Sie bearbeitet demnach außerdem zurzeit 600 Fälle von ausreisepflichtigen Personen, deren "strafrechtliches Verhalten eine schnelle Aufenthaltsbeendigung erfordert".
  • Baden-Württemberg hat im vergangenen Jahr 594 Personen abgeschoben, bei denen "Erkenntnisse über strafrechtliche Verurteilungen" vorlagen.
  • Hessen hat 2022 insgesamt 367 Personen "mit Sicherheitsbezug" abgeschoben. Sie verantworteten laut dem hessischen Innenministerium rund 8.000 Straf- und Ermittlungsverfahren – also pro Person im Schnitt etwa 21 Verfahren.
  • Sachsen hat "mindestens" 199 Straftäter abgeschoben, davon 66 nach Tunesien, 47 nach Georgien, 27 nach Algerien und 13 nach Pakistan.
  • Berlin hat aus der Strafhaft heraus im vergangenen Jahr 162 Personen abgeschoben.
  • Niedersachsen hat 159 Personen aus der Haft abgeschoben, davon 133 aus der Strafhaft, 11 aus einer Ersatzfreiheitsstrafe heraus, zehn aus der Untersuchungshaft, fünf aus dem Maßregelvollzug. 48 Menschen wurden nach Albanien überstellt, 9 nach Rumänien, 7 nach Kolumbien.
  • Hamburg hat 96 Personen aus der Strafhaft abgeschoben, die Hauptzielländer waren dabei Polen mit 19, Albanien mit 12 und Rumänien mit 8 Rückführungen.
  • Schleswig-Holstein hat 41 Personen aus Justizvollzugsanstalten abgeschoben. Zielländer waren dabei Albanien, Algerien, Armenien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Chile, Georgien, der Irak, Kosovo, Litauen, Marokko, Moldau, die Niederlande, Polen, Rumänien, Senegal, Serbien sowie die Türkei.
  • Das Saarland hat 30 straffällig gewordene Ausländer aus einer Justizvollzugsanstalt heraus abgeschoben. Die Hauptherkunftsstaaten waren Rumänien (sieben Personen) und Albanien (drei Personen).
  • Bremen hat 2022 26 Straftäter abgeschoben. Aktuell bearbeitet das zuständige Referat 104 Fälle von Straftätern, die eigentlich ausreisepflichtig sind. Mit 35 Menschen soll die mit Abstand größte Gruppe in die Türkei abgeschoben werden. Mit jeweils fünf Personen folgen als Zielländer Algerien, Kosovo, der Libanon sowie mit vier Personen die Russische Föderation.
  • Thüringen hat 22 Personen aus der Strafhaft abgeschoben.
  • Sachsen-Anhalt hat 15 Personen aus der Straf- oder Untersuchungshaft rückgeführt, überstellt wurden sie nach Algerien, Georgien, Guinea-Bissau, Jordanien, Kosovo, Litauen, Polen, Serbien sowie Somalia.
  • Mecklenburg-Vorpommern hat 2022 weniger als zehn Personen abgeschoben. Eine genauere Angabe wird aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht gegeben. Die Abschiebungen erfolgten in die Länder Georgien, Tunesien, Ghana, Serbien und Kiribati.
  • Nordrhein-Westfalen nimmt als bevölkerungsreichstes Bundesland in Deutschland zwar die meisten Flüchtlinge auf, das Ministerium für Flucht und Integration teilt aber mit: "Eine Statistik über die Gesamtzahl der in NRW in 2022 aus Justizvollzugsanstalten abgeschobenen Personen liegt hier nicht vor."
  • Auch aus Rheinland-Pfalz heißt es, es liege keine Statistik zu aus der Haft abgeschobenen Straftätern vor.
  • Brandenburg ließ die Anfrage von t-online unbeantwortet.

Das – löchrige – Fazit: Mindestens 2.425 Straftäter wurden 2022 in ihre Herkunftsländer oder in ein Land rückgeführt, das nach der Dublin-Verordnung für ihren Asylantrag zuständig ist. Doch die Datenlage ist dürftig. Wie groß das Problem tatsächlich ist und welche Zielländer am stärksten betroffen sind, lässt sich so gar nicht genau sagen.

Zu vielen Abschiebungen kommt es nicht

Die Länder, in die Straftäter im Jahr 2022 am häufigsten abgeschoben wurden, sind nicht zwangsweise die Staaten, aus denen die meisten Straftäter kommen. In manche Länder finden derzeit in der Regel keine Abschiebungen statt, zum Beispiel weil die dortige Lage zu unsicher ist – darunter Syrien und Afghanistan. Viele gelten außerdem als "unkooperative Herkunftsländer", die Abschiebungen blockieren und zum Beispiel bei der Beschaffung von Passersatzpapieren nicht helfen. Auch diese Fallzahlen werden meist nicht erhoben. Aus Bremen heißt es, in rund 70 von 104 Fällen sei eine Abschiebung aus solchen Gründen "derzeit nicht realisierbar".

Union: "Viele Ankündigungen, keine Taten"

Der Union genügt dieser Flickenteppich nicht, sie kritisiert das Bundesinnenministerium scharf. Alexander Throm, innenpolitischer Sprecher der Union im Bundestag, sagte t-online: "Die angebliche Rückführungsoffensive der Ampel ist tatsächlich zu einer Rückführungsblockade geworden. Denn tatsächlich will die Ampel gar nicht abschieben."

Dass sich das Bundesinnenministerium keinen Überblick über die Rückführungen aus den Ländern verschafft habe, sei dabei "symptomatisch", so Throm weiter. Denn wenn man die Zahlen der abgeschobenen Straftäter aus den Bundesländern nicht kenne, könne man das Problem auch nicht lösen. "Wie immer hören wir von Frau Faeser viele Ankündigungen, sehen aber keine Taten."

Verwendete Quellen
  • Anfragen an das Bundesinnenministerium
  • Anfragen an alle für Abschiebungen zuständige Landesministerien und Senatsverwaltungen
  • Anfrage an Alexander Throm
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