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Tag der Deutschen Einheit: 33 Jahre wiedervereint – "Kann es nicht mehr hören"


Tag der Deutschen Einheit
Ich kann es nicht mehr hören

MeinungVon Christoph Schwennicke

Aktualisiert am 03.10.2023Lesedauer: 5 Min.
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Datum, Anlass, Hintergrund: Der "Tag der deutschen Einheit" im Video. (Quelle: epd)

33 Jahre nach der Einheit ist die Lust am Unterschied von Ossis und Wessis nicht totzukriegen. Oder doch? Unser Kolumnist hätte da mal einen Vorschlag.

Es begann immer 15 bis 20 Kilometer vorher, dass sich die Luft in unserem hellblauen Renault 14 auflud, zunehmend elektrisch anfühlte. Ich kannte die Passage schon, erkannte sie an der hügeligen Landschaft, den Fichten des Waldes, die sie überzogen. Von hier an war es nur noch eine knappe Stunde, bis die Fahrtluft diesen ganz besonderen, unvergesslichen Gestank ins Wageninnere transportieren würde. "Plaste und Elaste aus Schkopau" stand auf einer steinernen Brücke, unter der wir durchfuhren.

Aber vorher kam noch die Stelle, deretwegen meine Eltern vorne so angespannt wurden und wir Kinder hinten gut beraten waren, keinen Anlass für den geringsten Ärger zu bieten. Jetzt keinen Blödsinn machen, bläuten sie uns von vorne ein. Die aufleuchtenden Bremslichter auf breiter Front vor uns zeigten an: Die Grenze bei Hirschberg war gleich erreicht.

Meine Eltern kamen aus der früheren DDR. Oder wie man damals sagte: der Ostzone. Jedes Jahr mindestens dreimal fuhren wir zu Verwandten in der Nähe von Halle. In ein kleines Dorf, Zappendorf. Dort mochte ich es sehr. Ein Bauernhof, über den die Hühner rannten, ein Misthaufen in der Mitte, Stroh in der Scheune, in der wir Kinder verstreut gelegte Eier suchten und fanden. Ostern in echt.

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Oft stand auf dem Ofen in der Küche ein Korb, in dem es vielstimmig piepste. Hob man den Deckel an, kuschelten sich darunter gelbe bis weiße, flauschige Bällchen aneinander. Ich liebte diesen Anblick. Für ihn nahm ich es gerne in Kauf, dass sich meine herzensgute Tante mit einem gellenden Freudenschrei auf mich stürzte und mir einen sehr nassen Kuss auf die Backe drückte. Nachdem die Stoßdämpfer unseres Renaults die etwa 1.500 Nahtstellen aneinandergelegter Betonplatten ("btong-btong-btong-btong …") auf der Autobahn und das Katzenkopfpflaster der Zufahrtsstraße geschluckt hatten und der Wagen auf dem Hof in Zappendorf angekommen war.

Frostige Kühle von draußen

Dann war alles wieder gut. Fast vergessen die frostige Kühle von draußen, wenn mein Vater die Fensterscheibe herunterkurbelte, die Ausweise herausreichte. Die mienenlosen Grenzer in ihren grauen Uniformen, welche anfingen, den Kofferraum zu durchwühlen. Was hasste ich diese graue Kiste mit dem langen Schlitz. Jedes zweite Mal verschwanden in dem Schlitz Schätze von mir. Mal ein Packen geliebter Asterix-Hefte, mal eine selbst aufgenommene Kompaktkassette. Es war ratsam, obwohl traurig oder wütend, sehr still zu sein.

Einmal überkam mich Angst, richtig Angst. Da hatten sie nicht meine Comic-Hefte mitgenommen, sondern meinen Vater. Was für ein Glücksmoment, als er nach zerdehnten Minuten mit steinernem Gesicht wieder aus dem Kontrollhäuschen herauskam, einstieg und wortlos den Motor startete.

Fast 50 Jahre ist das her. Ein halbes Jahrhundert, mehr als ein halbes Leben. Heute fahre ich genauso nach Jena wie nach Freiburg. Beide Städte haben ihren Reiz, sogar einen vergleichbaren. Die eine ist von Berlin aus halt etwas weiter weg als die andere. Die eine liegt an der Saale, die andere an der Dreisam. Beides schön.

Thüringer Wald, Kaiserstuhl? Beides schön!

Hier reden die Leute ein Thüringisch, das sich wie die milde Version des glottalen Sächsisch in Zappendorf anhört, und dort Badisch, eine alemannische Mundart. Hier wölben sich die Berge des Thüringer Waldes um die Stadt, dort der Kaiserstuhl auf der einen Seite, der Schwarzwald auf der anderen. Keinen Moment denke ich in Freiburg oder Jena daran, ob ich jetzt im Osten oder im Westen bin. Unsere Tochter, die in Jena studiert, schon mal gar nicht.

Aber jedes Jahr um diese Zeit, wenn es auf den 3. Oktober zugeht wie damals mit dem hellblauen Renault auf die Grenzanlage, geht das wieder los: Ist der große Graben noch da? Die Mauer in den Köpfen, wächst sie wieder? Das Gefälle bei Rente und Gehältern? Ist der Osten immer noch abgehängt? Wissen die Wessis zu wenig von den Ossis, und wollen es auch gar nicht, und wenn, dann nur besser? Sind die Ossis Jammerlappen und keine echten Demokraten? Seit 33 Jahren geht das so.

Die Welt ist voller Bewunderung

Ehrlich gesagt: Ich kann es nicht mehr hören. Mein Gott, ja! Es gibt hundsverreckte Orte im Osten, richtige Shitholes, aber genauso im Westen. Und es gibt traumhaft schöne, hier wie da. Mit den Menschen ist es genauso. Na und? Ist das ein Grund, zum Jahrestag wie besessen nach dem Trennenden zu suchen, es nachgerade herbeizuschwadronieren oder zu erhalten? Derweil uns die ganze Welt dafür bewundert, wie es diesem jahrzehntelang zerschnittenen Land gelungen ist, seine zwei Teile wieder zu einem Ganzen zu fügen. Abordnungen aus Südkorea besuchen immer wieder einmal Deutschland, um das Geheimrezept zu suchen, um zu erkunden, wie man das derart friedlich hinbekommt – für den Fall der Fälle.

Und wir? Mären uns aus übers Unvollkommene. Rechtschaffenerweise sei dazu das gesagt: Unsere Branche trägt ihren Teil dazu bei. Weil das Schlechte medial besser läuft als das Gute. Ist so. War immer so. Wird immer so sein. Vor ein paar Tagen hat Wolfgang Tiefensee sich morgens im Deutschlandfunk verdient gemacht, dagegen anzureden. Der SPD-Mann war Bürgermeister von Leipzig, Verkehrsminister der ersten Groko und ist jetzt thüringischer Wirtschaftsminister. Er spielt gerne Cello, und wenn man ihn hört, hat man immer diese Bilder von ihm mit seinem Instrument zwischen den Beinen vor Augen. Auch, weil seine Stimme klingt wie ein Cello. Sonor und melodisch zugleich.

Eine Stimme wie ein Cello

Tiefensee redete also mit seiner Cellostimme tapfer gegen den Kult der Spaltung an. Und kam auch auf seinen Parteikollegen Carsten Schneider zu sprechen. Schneider ist Ost-Beauftragter der Bundesregierung und macht seine Sache, so findet nicht nur Tiefensee, gut.

Ich blieb trotzdem daran hängen. Ostbeauftragter. Die Bundesregierung hat viele Beauftragte, ein gutes Dutzend mindestens. Immer geht es darum, einer Minderheit oder einer bedrohten Gruppe von Menschen zu mehr Rechten und zu einer Stimme zu verhelfen. Es gibt Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration, Antisemitismusbeauftragte, Beauftragte für Belange von Menschen mit Behinderung.

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Und so haben wir auch einen Beauftragten für die Belange Ostdeutschlands. Das hat bestimmt seine vielen guten Gründe und entfaltet segensreiche Wirkung. Aber ist das, zu Ende gedacht, wirklich ein gutes Signal und zeitgemäß?

Wie ein Zuständiger für ein Reservat von Ureinwohnern in Kanada hat dieser Ostbeauftragte traditionell von dort zu kommen, muss indigen sein. Und sich für die Belange der Eingeborenen, der Ureinwohner einsetzen. Was bedeutet denn das? Dass es immer noch ein Vorne und ein Hinten gibt, ein Oben und ein Unten, ein Besser und ein Schlechter? Und vorne und oben und besser ist das, was früher das Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland umfasste? Ein paternalistischer, beinahe kolonialer Ansatz ist das.

Der Solidaritätszuschlag, eine große Gemeinschaftsleistung, die die Südkoreaner mit auf ihrer Liste der deutschen Wunder haben, er wird etappenweise abgeschafft. Es wäre geboten, das Gleiche mit dem Ostbeauftragten zu machen. Ihn oder sie zu einem Ombudsmann oder einer Ombudsfrau strukturschwacher Regionen in Ost, West, Süd und Nord zu erklären. Gerne auch den gesamtdeutschen Carsten Schneider. 34 Jahre nach dem Mauerfall und fast 50 Jahre nach jener Zeit, in der meine und die Asterix-Hefte anderer Kinder in der grauen Kiste mit dem langen Schlitz auf Nimmerwiedersehen verschwanden.

Verwendete Quellen
  • Kindheitserinnerungen, Deutschlandfunk
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