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Deutschlands Politiker flirten wieder


Tagesanbruch
Antreten zum Beschweren!

  • Annika Leister
MeinungVon Annika Leister

Aktualisiert am 07.06.2022Lesedauer: 5 Min.
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Verkehrsminister Volker Wissing beim Bahn-Termin: In seinem Bereich hagelt es jetzt bundesweit Beschwerden.Vergrößern des Bildes
Verkehrsminister Volker Wissing beim Bahn-Termin: In seinem Bereich hagelt es jetzt bundesweit Beschwerden. (Quelle: Frank Ossenbrink/imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

Deutschland ist an diesem Wochenende ein Stück näher zusammengerückt. Das gilt physisch wie emotional. Wer weiß – vielleicht lesen auch Sie diesen Tagesanbruch, während Sie sich in der Regionalbahn in die Armbeuge eines Unbekannten schmiegen?

Das 9-Euro-Ticket macht diese neue Verbundenheit möglich. Drei Monate Bahnfahren zum Preis von 27 Euro – so günstig war der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) in Deutschland noch nie. Ein Wahnsinn, stöhnten im Voraus konservative Medien und die Verkehrsexperten mit Taschenrechner.

Wie soll sich der chronisch unterfinanzierte ÖPNV all die Billigtickets leisten, wie sollen die Bahnen den Ansturm verkraften? Wie soll Sylt es überleben, wenn plötzlich das gemeine Volk anrückt? Doch der erste Härtetest am Pfingstwochenende hat gezeigt: Es hat irgendwie geklappt, nicht einmal die Porsches auf Sylt haben nach bisherigen Berichten Kratzer bekommen.

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Natürlich hat nicht alles funktioniert. Aber wer schon einmal vor Einführung des 9-Euro-Tickets mit den Öffentlichen unterwegs war, den dürften überfüllte Bahnsteige, geräumte Züge, verspätete oder ausgefallene Bahnen nicht wirklich überraschen. So etwas kommt immer wieder vor.

Zig Vielfahrer waren an Pfingsten genervt und viele Neufahrer enttäuscht. "Ticket ins Chaos" titelte der "Spiegel", von "Schweiß", "Urin" oder wahlweise gleich der "Hölle" berichteten andere Medien.

Doch entscheidend ist: Der große Kollaps und echte Tumulte blieben aus. Ob der Unterschied zum Bahnfahren im Normalbetrieb so groß ist, werden erst die Analysen der Verkehrsbetriebe zeigen, die in diesen Tagen folgen. Denkbar ist nämlich auch, dass die Rabattaktion der Ampelregierung die Lage gar nicht so sehr verschlimmert hat – sondern dass sie schlicht ins nationale Bewusstsein rückt, wie bescheiden Regionalverkehr mit der Bahn und viele andere ÖPNV-Angebote insgesamt funktionieren.

Das ist schon jetzt eine Leistung des 9-Euro-Tickets, die nicht zu unterschätzen ist. Denn erstmals seit Jahren wird die Bahn überhaupt wieder als das wahrgenommen, was sie eigentlich sein sollte: das Verkehrsmittel für alle. Aus diesem Verständnis folgen Ansprüche: Mit dem Probe-Billig-Ticket in der Tasche lieben und hassen Pendler wie experimentierfreudige SUV-Fahrer nun gemeinsam die Vor- und Nachteile, die der ÖPNV bereithält. Von ihrer Unzufriedenheit erzählen sie Journalisten bereitwillig. Und ihr emotionaler Hauptgegner, die Deutsche Bahn (DB), wird von den Klagen unsanft aus dem Schlaf gerüttelt. Das ist gut so – denn was bitte ist ein Verkehrsmittel wert, das nur pünktlich kommt, wenn es wie zu Corona-Zeiten fast ohne Passagiere fährt?

Als Sammelaktion für Beschwerden taugt das 9-Euro-Ticket deswegen schon jetzt. Das mag nicht im Sinne der Erfinder gewesen sein, die eher davon träumten, dass große Teile der Bevölkerung umgehend ihr Auto stehen lassen und auf den ÖPNV umsatteln. Dafür aber haben die DB und all ihre privaten Konkurrenten ihr Image zu lange und zu umfangreich ramponiert.

Eine emotionale Annäherung, ein leichter Flirt mit der Bahn oder dem Bus, ein kurzes Träumen vom "Was wäre, wenn" – lassen sich Millionen Deutsche nur darauf ein, ist schon viel gewonnen.

Offen bleibt aber, wohin der Flirt nach den ersten drei Monaten führt. Das gilt weniger für die Bürger als für die Ampelregierung und die Verkehrsbetriebe. Sind diese tatsächlich zu einer ernsthaften Beziehung mit ihren Kunden bereit?

Im Moment wohl eher nicht. Für eine langfristige Beziehung müsste sich vieles sehr grundlegend ändern. Es muss ja nicht gleich ein bundesweit kostenloser ÖPNV nach Luxemburger Vorbild sein. Ein Anfang wäre schon gemacht, wenn all die Städte und Gemeinden, die vom Bahnnetz abgeschnitten sind, daran angeschlossen würden. Und wenn es im Nah- und Fernverkehr der Bahn ein wettbewerbsfähiges Preissystem gäbe, das selbst Großfamilien den klimafreundlicheren Urlaub erlaubt. Höhere Taktungen, mehr Sauberkeit, mehr Sicherheit, endlich Barrierefreiheit. All das sind zum großen Teil unerfüllte Sehnsüchte.

Das alles – und noch viel mehr – müssten die Bahn, aber eben auch die Regierungen in Bund und Ländern wagen. Und das ganz ohne die Garantie, zurückgeliebt zu werden. Die Alternative aber wäre das abrupte Ende eines Flirts, der Milliarden Euro gekostet hat, tief enttäuschte Kunden – und das vermutlich finale Begräbnis aller Hoffnungen auf eine baldige Verkehrswende.


Was steht an?

Boris Johnson unter Druck: Am Montagabend hat der britische Premier ein Misstrauensvotum in seiner eigenen Fraktion überstanden. Das Ergebnis allerdings fiel knapper aus als erwartet – 148 Kollegen wollten Johnson stürzen, 211 hielten ihm die Treue. Aktueller Auslöser für die Vertrauensfrage ist die Diskussion um Partys während des Corona-Lockdowns in Johnsons Amtssitz, Unmut hat sich aber auch aus anderen Gründen angestaut. Johnson ist nach den aktuellen Regeln nun für ein Jahr vor einem weiteren Misstrauensvotum sicher. Doch die Abstimmung ist für ihn ein Debakel, die Forderungen nach seinem freiwilligen Rückzug von der Spitze dürften so nicht leiser werden.

Regierungsmitglieder auf Reisen: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) lässt sich erstmals seit Kriegsbeginn in Litauen und damit an der Ostflanke der Nato blicken, Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) ist in der ukrainischen Hafenstadt Odessa zu Besuch, Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) fliegt nach Pakistan, Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) reist derweil nach Israel und in die palästinensischen Gebiete.

Verfassungsfeinde im Visier: Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) stellt den Verfassungsschutzbericht 2021 vor. Dieser beleuchtet in einer eigenen Kategorie mit kompliziertem Namen zum ersten Mal Verschwörungstheoretiker und Demokratiefeinde, die weder dem linken noch dem rechten Spektrum zuzuordnen sind.

Merkel zurück auf großer Bühne: Seit dem Ende ihrer Regierungszeit hält Ex-Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sich mit öffentlichen Auftritten zurück. Für den Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes hielt sie zwar eine Rede – nun aber folgt ihr erster großer Auftritt, bei dem sie nicht vom Blatt ablesen kann. Im Berliner Ensemble stellt sie sich den Fragen des Journalisten Alexander Osang. Erwartet werden dürfen sowohl welche zu ihrer Russland-Politik als auch zu ihrem Verhältnis zu Ostdeutschland.

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Was lesen?

Kein Industriezweig verursacht mehr CO2 als die Stahlbranche. Doch ohne den Werkstoff ist die deutsche Wirtschaft nicht denkbar. In Duisburg könnte sich entscheiden, ob die grüne Transformation gelingt. Meine Kollegin Christine Holthoff hat sich vor Ort bei Thyssenkrupp umgeschaut, ihren Report lesen Sie hier.

Gas, Öl, Tankrabatt: Daheim türmen sich immer neue Probleme auf Robert Habecks Schreibtisch. Doch jetzt erkundet der Vizekanzler für vier Tage den Nahen Osten. Mein Kollege Fabian Reinbold begleitet ihn und weiß, was er dort vorhat.

In Afghanistan herrschen wieder die Taliban. Sexuelle Minderheiten müssen sich verstecken, Frauen sollen sich vollkommen verschleiern. Doch mutige Frauen in Kabul demonstrieren dagegen, aus der Öffentlichkeit ausradiert zu werden – auch wenn ihnen die Taliban mit Attentaten drohen. Der Spiegel hat hier mit vier Kämpferinnen gesprochen.


Was amüsiert mich?

Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Morgen startet mein Kollege Bastian Brauns mit Ihnen in den Morgen.

Ihre

Annika Leister
Redakteurin Politik
Twitter: @AnnLei1

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Mit Material von dpa.

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